E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm
Aegerter Das Wachstum der Grenzen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-03810-488-9
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Über die unerschöpfliche Erfindungskraft der Menschen
E-Book, Deutsch, 240 Seiten, Format (B × H): 150 mm x 220 mm
ISBN: 978-3-03810-488-9
Verlag: NZZ Libro
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
(*1938), Dr., studierte Physik, Mathematik und Astronomie und war in Indien und den USA in der Forschung tätig. Er leitete viele Jahre das Technorama der Schweiz. 2001 gründete er die cogito foundation zur Förderung der Verständigung zwischen den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften.
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Einleitung
Versklavt von Robotern? Verarmt wegen Ressourcenmangel? Auf der Flucht vor dem Krieg ums Wasser? Überrannt von Klimaflüchtlingen? Keuchend in verschmutzter Luft? Verstrahlt vom Atommüll?
Sieht so das Schicksal unserer Enkel aus? Wird das Leben auf der Erde von nun an immer schlimmer, schwieriger und gefährlicher? Leben wir jetzt und heute in der besten aller möglichen Welten? Oder haben wir diese vielleicht schon hinter uns? War in der «guten alten Zeit» alles besser?
Zeitungen, das Radio und das Fernsehen sowie die Internetmedien – alle machen es uns leicht, uns vor der Zukunft zu fürchten. Noch geht es uns gut! Eigentlich sehr gut. Wir ernähren uns mit erlesenen Speisen, wohnen geräumig und behaglich. Wir gönnen uns Tauchferien auf den Malediven. Wir verbringen den Lebensabend auf Kreuzfahrten und lernen neue Welten kennen. Und der Lebensabend wird immer länger: Die Lebenserwartung übertrifft die unserer Eltern und erst recht die unserer Grosseltern um viele Jahre. Sie nimmt immer noch zu. In der Schweiz jedes Jahr um fast einen Monat. Die Medizin hat die Geisseln der Menschheit – Pest, Tuberkulose, Syphilis – weitgehend überwunden. Pocken gibt es nicht mehr, Kinderlähmung bald auch nicht mehr. Es mangelt uns an fast nichts.
Aber so kann es doch nicht weitergehen, lesen und hören wir allenthalben. Wir plündern unseren Planeten. Wir leben, als hätten wir drei Planeten Erde zur Verfügung. Die Grenzen des Wachstums hat man uns schon 1972 aufgezeigt. Wir missachten sie. Wir haben sie überschritten. Der Kollaps sei unausweichlich.
Ist die Angst vor der Zukunft also begründet?
Schon immer standen die Menschen an der Schwelle zur Zukunft. Schon immer hatten sie Angst davor. Und fast immer kam es ganz anders, als befürchtet. Besser. Angenehmer. Gesünder.
Fast immer, aber nicht immer. Um 1913 und 1939, da war die Angst vor der Zukunft begründet. Sie wäre auch 1618 begründet gewesen – aber da erwartete niemand den verheerenden Dreissigjährigen Krieg.
Hundert Jahre später, 1719 – vor 300 Jahren, da drohte nichts besonders Furchterregendes. Da herrschte einfach die übliche Angst vor der Zukunft. Wie sah die Welt damals aus? In Frankreich war der achtjährige Ludwig XV. König. Der Sonnenkönig Ludwig XIV., sein Urgrossvater, war vier Jahre zuvor verstorben. In Leipzig komponierte Johann Sebastian Bach Kantaten und Fugen. Vornehme Männer trugen Perücken, Königs- und Fürstenhöfe waren prächtig mit Samt und Gold ausstaffiert. Es war das Zeitalter des Barocks.
Doch der allergrösste Teil der Menschen hatte keinen Anteil an der barocken Pracht. Sie waren Bauern. Sie lebten von der Hand in den Mund und arbeiteten sich dabei buchstäblich zu Tode. Das Land, das sie bebauten, gehörte ihnen nicht. Die Mütter gebaren zehn oder zwölf Kinder, von denen die Hälfte die Kindheit nicht überlebte. Viele junge Männer, die es schafften, erwachsen zu werden, starben als Söldner in fremden Kriegsdiensten.
Die hygienischen Verhältnisse stanken buchstäblich zum Himmel, besonders in den Städten, wo die Handwerker ein bescheidenes Auskommen suchten. Die Strassengräben waren offene Kloaken, gespeist durch die Ehgräben zwischen den Häusern, in die man das Nachtgeschirr entleerte.
Die Angst vor der Zukunft bezog sich auf die nahe Zukunft: Würde es gelingen, im Herbst eine gute Ernte einzufahren, oder würden Sturm, Hagel und Hochwasser zu Missernten und Hungersnot führen oder Seuchen das Vieh dahinraffen? Würde der Gutsherr die Abgaben erhöhen oder die Obrigkeit einen Krieg anfangen? Und wann endlich bessert sich Vaters Husten?
Niemand wusste, dass sich im fernen England eine neue Zeit anbahnte. Selbst wenn man gewusst hätte, dass es im abgelegenen Dudley einem Schmied namens Thomas Newcomen einige Jahre zuvor gelungen war, eine Maschine zu konstruieren, die Feuer in Kraft verwandelte, hätte sich niemand die Folgen ausmalen können. Vor 300 Jahren standen die Menschen in Europa an der Schwelle zur Moderne. Doch niemand ahnte es.
Hundert Jahre später war die Moderne da – und die Angst davor. Man hatte schwere Zeiten hinter sich. Die Napoleonischen Kriege waren endlich vorüber, und nach dem Wiener Kongress von 1815 schienen in Europa Frieden und Stabilität eingekehrt zu sein. Aber dann folgte das Jahr 1816, das Jahr ohne Sommer, und mit ihm Missernten und Hungersnöte. Niemand wusste, dass ein gigantischer Vulkanausbruch im fernen Indonesien die Ursache war. Man fürchtete, das könnte das neue Normale sein.
Noch konnten sich die Bauern mit Weben und Spinnen zu Hause ein Zubrot verdienen, aber aus England hörte man Beunruhigendes: Maschinen in Fabriken nahmen den Heimarbeitern angeblich die Arbeit weg. Auch auf dem Kontinent entstanden Fabriken. Überhaupt hörte man Schreckliches aus England: Es sollte dort maschinengetriebene Wagen geben, die, ohne von Pferden gezogen zu werden, von selbst fuhren, gar schneller als ein galoppierendes Pferd.
Zumindest in Frankreich war mit Ludwig XVIII. die königliche Ordnung wiederhergestellt. Die europäischen Herrscher von Gottes Gnaden konnten ihre Macht und ihren Prunk beruhigt weitergeniessen. Die absurde Idee, das Volk könne sich selbst regieren, hatte sich erledigt – ausser jenseits des Atlantiks, in den sogenannten Vereinigten Staaten von Amerika. Dort kamen sie seltsamerweise immer noch ohne einen König aus, auch nachdem die Engländer sie sechs Jahre zuvor zur Vernunft hatten bringen wollen und das Weisse Haus niederbrannten. Und dann waren da noch die starrköpfigen Schweizer.
Ist es die Ruhe vor einem weiteren Sturm? Die meisten waren überzeugt davon.
Hätten sie hundert Jahre vorausblicken können, sie hätten sich bestätigt gesehen. Das Jahr 1919 war alles andere als erfreulich. Zwar hatte das grosse Sterben in Flandern endlich ein Ende, aber jetzt raffte die Grippe die Menschen dahin. Die wirtschaftlichen Folgen des Kriegs waren drückend, und wieder kam der Hunger zurück nach Europa.
Angesichts dieses Elends war es leicht zu übersehen, wie viel besser es den Menschen ging als hundert Jahre zuvor. Die Industrialisierung hatte die Produktivität massiv gesteigert; alle waren wohlhabender geworden. Auf den Weltausstellungen am Ende des 19. Jahrhunderts hatte man die neuen Wunder der Technik bestaunen können: elektrisches Licht, elektrisch angetriebene Maschinen, selbstfahrende Kutschen. Eisenbahnen transportierten die Güter jetzt viel schneller als Fuhrwerke, und sogar in der Luft sah man neuerdings Maschinen.
Die Kinder hatten eine grössere Chance, erwachsen zu werden. Man hatte gelernt, was Hygiene bedeutet. Nachrichten verbreiteten sich fast augenblicklich. Anstelle von Schiffen, die wochenlang unterwegs waren, überbrachte der Telegraf die Neuigkeiten. Die Neue Zürcher Zeitung erschien dreimal am Tag.
Die Nachrichten waren aber nicht dazu angetan, sich auf die Zukunft zu freuen: Der deutsche Kaiser war abgesetzt, ebenso der russische Zar und der österreichisch-ungarische Kaiser. Auch der türkische Sultan klammerte sich mit letzter Kraft an die Macht. Die Welt war in Aufruhr, und niemand wusste, wie es weitergehen würde. Die Zukunft machte Angst.
Jetzt schreiben wir das Jahr 2020, und wir stehen da, wo wir schon immer gestanden haben: an der Schwelle zur Zukunft. Und wir fürchten uns immer noch davor. Wenn wir 300 Jahre zurückblicken, sehen wir – trotz der Rückschläge und Einbrüche – eine fast unglaubliche positive Entwicklung. Könnte es nicht so weitergehen? Können wir die Zukunft nicht erraten, indem wir die Vergangenheit extrapolieren, weiterschreiben?
So einfach geht es leider nicht. Aber wir können aus der Vergangenheit lernen. Dazu möchte ich mit diesem Buch anregen.
Im ersten Teil versuche ich, diese Vergangenheit in komprimierter Form in Erinnerung zu rufen. Wir werden sehen, dass die Entwicklung nicht anhaltend und stetig war. Sie verlief in Schüben, ausgelöst durch Neuerungen, die alles, was zuvor galt, infrage stellten. Ich nenne diese Neuerungen disruptiv.
Im zweiten Teil wollen wir uns umsehen und zusammenfassen, was wir erreicht haben und wie wir das erreicht haben – im Guten wie im Schlechten.
Im dritten Teil wage ich einen Blick in die Zukunft. Nein, ich wage keine Prognosen, ich zeige bloss Möglichkeiten auf. Möglichkeiten, die wir aufgrund des heutigen Wissens haben. Ob wir diese Möglichkeiten nutzen werden, wer sie nutzen wird und ob man sie missbrauchen wird – all das wage ich nicht vorauszusagen. Natürlich weissage ich nichts, was heute noch unbekannt ist. Aber technische Entwicklungen kann man mit einiger Sicherheit voraussagen, vor allem vermag man mit Sicherheit zu sagen, was es auch in hundert oder mehr Jahren nicht geben wird: Zum Beispiel freie Energie aus dem Nichts. Oder die Flucht der Menschheit auf einen anderen Planeten. Oder lauter Menschen, die nur lieb, gut und fürsorglich sind.
Gar nicht absehbar ist das gesellschaftliche und politische Umfeld, in dem sich diese Möglichkeiten darbieten werden. Eine Extrapolation ist in diesem Fall völlig unmöglich. Da herrscht im mathematischen Sinn Chaos: Eine kleine Begebenheit kann eine grundlegende Umwälzung auslösen. Man denke an den Mord von Sarajevo. Oder an den Fenstersturz von Prag, der den Dreissigjährigen Krieg auszulösen half. Und es kann ja auch negative Disruptionen geben.
Ist vielleicht der technische Fortschritt, wie wir ihn heute erleben, so eine negative Disruption? Steuern wir nicht sehenden Auges in eine Katastrophe? Sind Umweltzerstörung, Ressourcenverbrauch, Energieverschwendung und Bevölkerungsexplosion nicht Wege in den Untergang? Sollten wir nicht wieder natürlicher leben, auf Technik...




