11 spannende Leseproben von Karsten Dusse, Andreas Gruber, Charlotte Link und Ellen Sandberg und vielen weiteren Autoren -
E-Book, Deutsch, 388 Seiten
ISBN: 978-3-641-26685-1
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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Manuela Reiner (57), Krankenschwester
– Und wie sind Sie auf mich gekommen? – Ich habe auf der Station nachgefragt, auf der Rita Dalek gearbeitet hat. Ich wollte wissen, ob da noch jemand ist, der sie gekannt hat. Jemand, der mir mehr über sie erzählen kann. Eine Kollegin von damals, die immer noch im Dienst ist. – Und man hat Sie zu mir geschickt? – Man sagte mir, dass Sie die Ausbildung zusammen gemacht haben, ist das richtig? Dass Sie viel Zeit miteinander verbracht hätten. – Ja. Obwohl ich vier Jahre älter war als Rita. Trotzdem haben wir uns gut verstanden. – Sie haben aber nicht mit ihr gearbeitet? – Nein, Rita wollte auf die Trauma-Intensiv, ich an die Kinderklinik. Aber wir haben uns mittags in der Kantine getroffen, oft nach der Arbeit etwas zusammen unternommen. Ich mochte sie. – Sie waren sich vertraut? – Ja. – Dann wussten sie auch, dass ihre Eltern verunglückt sind? – Natürlich wusste ich das. Das war kurz, bevor wir uns kennengelernt haben. Es ging ihr nicht besonders gut in der Zeit. Über ein halbes Jahr lang hat Rita getrauert, sie hat niemanden von uns an sich herangelassen. Erst als sie Manfred kennenlernte, ging es ihr langsam wieder besser. – Woher kannte sie ihn? – Aus der Kneipe um die Ecke. Wir haben öfter mal das eine oder andere Glas Wein dort getrunken. Manfred hat sie angesprochen irgendwann, sie kamen sofort ins Gespräch. Ohne Umwege haben sich die beiden ineinander verliebt. Man konnte ihnen förmlich dabei zusehen. Es war wie in Zeitlupe. Schön war das. – Haben Sie heute noch Kontakt zu ihm? – Nein. Ich habe dann auch Rita nicht mehr gesehen. Nachdem das mit Theo passiert ist, ist sie wieder aus meinem Leben verschwunden. Sie wollte keinen Kontakt mehr. Oder besser, sie konnte es nicht. Mich sehen. Das mit Theo hat sie endgültig fertiggemacht. Noch mehr als das mit ihren Eltern. – Theo. Rita Daleks Sohn, richtig? – Ja. – Wären Sie so freundlich, mir noch ein wenig mehr über Manfred Dalek zu erzählen, bevor wir über Theo reden? – Was wollen Sie wissen? – Das, was nicht im Protokoll steht. Gab es Geheimnisse? Dinge, die er mir verschweigen würde? Wie war er so? – Am Anfang war er ein Engel, aber dann wurde aus dem Engel ein Arschloch. Anders kann ich es leider nicht sagen. – Können Sie das ein bisschen genauer ausführen? – Als er und Rita sich kennenlernten, hat er ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen, er hat sie glücklich gemacht, es geschafft, dass sie nicht mehr den ganzen Tag an ihre Eltern gedacht hat. Er hat ihr ein Lachen ins Gesicht gezaubert. Sie waren das perfekte Paar, haben schnell geheiratet. Er war selbstständiger Bodenleger, sie machte die Ausbildung zur Krankenschwester. Rita sah wieder eine Zukunft. Gemeinsame Wohnung, gemeinsame Freizeit und dann das Kind, das sie sich gewünscht hatten. – Was war mit dem Leben, das sie vorher hatte? – Wie meinen Sie das? – Hat sie Ihnen von ihrer Kindheit erzählt, vom Leben auf dem Land, von ihren Eltern? – Nein. Sie hatte alle Brücken zu ihrer Vergangenheit abgebrochen. – Warum? – Das weiß ich nicht. Sie hat nur ihren Namen behalten, alles andere hat sie abgestreift. Es war auch niemand von früher auf ihrer Hochzeit. Keine alten Bekannten, keine Jugendfreunde. Rita und Manfred haben ganz von vorne begonnen. – Sie wollte seinen Namen nicht annehmen? – Sie wollte ihren eigenen nicht aufgeben. Ich nehme an, wegen ihren Eltern. Aber das war kein Problem für Manfred. Er hat einfach ihren angenommen. Für die damalige Zeit war das etwas Besonderes. – Wussten Sie, dass Rita Dalek ursprünglich Schauspielerin hatte werden wollen? – Nein, das wusste ich nicht. – Hat sie das wirklich nie erwähnt? Dass sie davon geträumt hatte, auf der Bühne zu stehen und in irgendwelche Rollen zu schlüpfen? Dass sie es anscheinend geliebt hatte, eine andere zu sein? – Das höre ich zum ersten Mal. Mir gegenüber hat sie immer davon gesprochen, dass es ihr darum gehe, ein sicheres Einkommen zu haben. Ein ganz normales Leben wollte sie führen, keine Experimente, keine waghalsigen Aktionen. Rita war keine Draufgängerin. Deshalb hat sie ja auch so früh geheiratet. Sie war gerade mal zwanzig damals. – Man sagt, dass sie Talent hatte. Der Leiter der Schauspielschule, auf der sie war, hat von ihr geschwärmt. Er hat sich noch gut an Rita Dalek erinnert, er meinte, dass er selten jemanden kennengelernt hätte, der von Anfang an so für diesen Beruf gebrannt hat. Als ich ihm erzählt habe, dass sich Rita nach ihrem Abgang von der Schauspieleschule dazu entschlossen hatte, Krankenschwester zu werden, hat er das sehr bedauert. Er meinte, sie hätte es bis ganz nach oben schaffen können. – So wie es aussieht, hat sie das aber leider nicht. – Ein wirklich tragisches Schicksal. Auch dass sie das mit Theo durchmachen musste. – Ja. – Würden Sie so freundlich sein und mir nun von ihm erzählen? – Er war ein sehr netter Junge, er hat das Glück der Daleks perfekt gemacht. – Wie hat das funktioniert, die Ausbildung und das Baby? – Ihre Schwiegermutter hat sich um das Kind gekümmert, solange Rita auf der Schule war. Manfreds Mutter und seine Schwester. Sie haben Theo vergöttert. War für Rita nicht immer einfach mit den beiden, aber es hat funktioniert. Dann hat sie ihr Diplom gemacht und sich als Mutter wirklich Mühe gegeben. Dreizehn Jahre lang war alles in bester Ordnung. Theo, Manfred und Rita. Die große Liebe war das. So habe ich mir immer die perfekte Familie vorgestellt. Wäre Theo nicht gestorben, gäbe es dieses Bilderbuchglück wahrscheinlich immer noch. Rita wäre nicht depressiv geworden, und Manfred hätte nicht mit dem Saufen angefangen. – Was genau ist mit Theo passiert? – Ein Unfall. Er ist mit dem Skateboard die Straße hinunter, hat kurz nicht aufgepasst, ein Auto hat ihn überfahren. Knochenbrüche, innere Verletzungen, Schädel-Hirn-Trauma. Wochenlang saß Rita an seinem Bett und hat gebetet. Sie und Manfred hielten Theos Hand, sie wollten an ein Wunder glauben. Doch genützt hat es nichts. – Theo lag auf der Station, auf der sie auch gearbeitet hat? Die Trauma-Intensiv im siebten Stock, ist das richtig? – Ja. Das Schicksal hat sich ordentlich ausgetobt. Zuerst das mit ihren Eltern, dann Theo. Ich denke, das ist mehr, als man ertragen kann. – Wie lange hat er noch gelebt? – Vier Tage. Dann hat man den Hirntod festgestellt und die Geräte abgeschaltet. Sie haben Theo in einen Sarg gelegt, und Rita ist zusammengebrochen auf dem Friedhof vor all den Leuten. Sie hat geschrien, um sich geschlagen, der Krankenwagen musste kommen, man stopfte sie mit Beruhigungsmitteln voll. – Das klingt alles sehr grausam. So etwas sollte niemand auf der Welt durchmachen müssen. – Und trotzdem ist es ihr passiert. – Es heißt, dass sie sich lange nicht davon erholt hat. – Rita ist nicht mehr aus dem Bett herausgekommen. Sie hat die Wand angestarrt, sie hat geweint, vor sich hin geflüstert wie eine Irre. Und Manfred hat mit dem Schnaps angefangen. Er wollte es nicht akzeptieren, dass sein Junge in einem Loch am Friedhof verschwunden ist. Und er ertrug es nicht, dass Rita nicht mehr mit ihm sprach. Da war nichts Gutes mehr. Keine Hoffnung. Jedes Mal, wenn ich sie besucht habe, waren die beiden noch ein Stück tiefer gesunken. Ich dachte, dass es nicht mehr schlimmer kommen kann, aber da hatte ich mich getäuscht. – Sie sprechen von Manfred Daleks Sucht? – Ja. Sie haben ihn doch sicher schon gesprochen. Ich wette, dass er sich in den letzten Jahren nicht groß verändert hat. Er säuft bestimmt immer noch, oder? – Ja. – Bis zum Umfallen hat der Kerl den Schnaps in sich hineingeschüttet. Und als ob das nicht genug wäre, hat er auch noch mit dem Spielen angefangen. Jeden Euro, den er verdient hat, hat er in irgendwelche Automaten geworfen, während Rita sich alles vom Mund absparen musste. Kein Entzug und keine Motivation, etwas an der Situation zu ändern. Er hat sich gehen lassen, hat nichts getan, um es aufzuhalten, er hat es nicht einmal versucht. Ich konnte da irgendwann nicht mehr zusehen, dass Rita sich nicht gewehrt hat, dass sie ihn nicht gezwungen hat, mit dem Saufen aufzuhören. – Wie lange hatten Sie schon keinen Kontakt mehr zu ihr? – Keine Ahnung, vielleicht zwölf oder dreizehn Jahre. – Sie haben sie nie wieder getroffen? – Nein. – Auch nicht zufällig irgendwo in der Stadt? – Warum fragen Sie mich das? – Haben Sie nie dort eingekauft, wo sie gearbeitet hat? – Doch, natürlich, am Anfang. Weil ich mich gefreut habe, dass sie sich wieder erholt hat. Dass sie diesen Job im Supermarkt angenommen hat, war ein Hoffnungsschimmer. Wobei ich es nie wirklich verstanden habe. – Was meinen Sie? – Rita war Krankenschwester und keine Verkäuferin. Sie war eine von den besten, verstehen Sie? Sie hat diesen Beruf ernst genommen. – Warum hat sie dann achtzehn Jahre lang im Supermarkt gearbeitet? – Sie wollte wahrscheinlich keine Verantwortung mehr tragen. Und sie wollte niemandem mehr zusehen, wie er stirbt. Kein Leid mehr, hat sie gesagt. Sie dachte wirklich, dass es besser wird, aber in Wahrheit wurde alles noch schlimmer. Sie hat sich nur noch um dieses Arschloch gekümmert. Ich weiß nicht,...