E-Book, Deutsch, 528 Seiten
Alexanderson Descendent
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-641-17339-5
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Überläufer - Thriller
E-Book, Deutsch, 528 Seiten
ISBN: 978-3-641-17339-5
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Geheimbund, das so genannte »Tribunal«, beeinflusst seit langer Zeit die politischen Geschehnisse in Schweden. Um ihre Ziele zu erreichen, ist den Mitgliedern jedes Mittel recht. Doch nun wird die Gemeinschaft von innen heraus erschüttert: Die Männer leiden alle an einer tödlichen Autoimmunkrankheit. Während ihrer verzweifelten Suche nach einem Heilmittel schmieden sie einen skrupellosen Plan, der Tausende von Menschen bedroht. Der einzige, der die Katastrophe aufhalten kann, ist Jonas Hellemyr. Doch sein eigener Vater ist der Anführer des Tribunals und hat ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt ...
Filip Alexanderson, 1975 in Schweden geboren, ist Schauspieler am Königlichen Dramatischen Theater in Stockholm. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Schwedens Hauptstadt.
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DIE HANDSCHELLEN SCHNITTEN in die Haut ein, während Jonas durch den Gang gezerrt wurde. Seine Augen brannten wie Feuer von dem Pfefferspray, der Schmerz pochte in Schultern und Händen. Vier, fünf Wachmänner bedrängten ihn, drückten ihn weiter vorwärts wie bei einem Rugbyspiel. Aber Jonas kämpfte gegen einen anderen Feind, gegen sich selbst. Er nahm ihre Rufe wahr, ihren Spott, Schlüsselbunde, die gegen seine Oberschenkel schlugen, das verbissene Keuchen der Männer, einer zog ihn an den Haaren. Gewalt und Testosteron füllten die Gänge der Anstalt, vervielfachten sich und rissen alle mit, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer. Jonas biss die Zähne noch fester zusammen, konzentrierte sich auf den Geschmack von Blut und auf den Schmerz, auf alles andere als das Raubtier, das in ihm wütete, um freizukommen. Schlüssel im Schloss, eine Tür wurde aufgestoßen, und Jonas wurde in einen kalten Raum ohne Fenster geschubst. Sie pressten ihn auf den Boden, Knie im Rücken, und hielten seine Beine fest. Eine heisere Stimme zischte hasserfüllte Flüche in sein Ohr, dann wurden ihm die Handschellen wieder abgenommen. Das Echo der Stahltür, die ins Schloss fiel. Stille. Jetzt war er allein. Er hatte es geschafft. Für dieses Mal. Draußen auf dem Gang war es still, der Trakt war für die Nacht abgeschlossen worden. Jonas saß mit dem Rücken gegen den kühlen Beton gelehnt. Er erinnerte sich an seine Kindheit. Er war zwölf und zusammen mit seinem Großvater rausgefahren zur Anstalt, um seine Mutter abzuholen. Sie hatte allein nach Hause fahren wollen, aber Großvater hatte nicht nachgegeben. Jonas erinnerte sich daran, wie der Schnee sich an die grauen Betonmauern geschmiegt hatte. Er saß auf der Rückbank in einem weißen Saab 900 und wartete darauf, dass das große Tor aufging. Freilassung. Das war ein feines Wort. Er musste an Piraten denken und an Das Phantom. Das Wort verhieß Spannung, Abenteuer, der Held, der heraustrat. Mit seinen zwölf Jahren betrachtete Jonas die Eisblumen, die an der Innenseite der Autoscheibe wuchsen. Er drückte seinen Zeigefinger dagegen und sah, wie durch die Körperwärme das Eis kreisförmig um seine Fingerspitze herum schmolz. Er hatte sich vorgestellt, wie die großen Flügel des Tors aufgehen würden, wie das große graue Gefängnis endlich entzweigespalten und sie freigeben würde. Doch stattdessen ging ohne Vorwarnung die Beifahrertür auf, und Mutter stieg ein. Jonas war enttäuscht, das wusste er noch genau, er hatte sich um etwas Großes betrogen gefühlt. Er hatte die enormen Türen aufgleiten sehen wollen. Weder Mutter noch Großvater sagten etwas. Sie mied den Blick ihres Vaters, und er ließ sie in Ruhe. Sie nahm Jonas’ kalte Hand in die ihren und sah aus dem Fenster. Das Auto fuhr an. Sie hielten an einer Tankstelle. Trotz der Kälte aß er ein Eis, ein Nogger. Auf der Heimfahrt wurde wenig gesprochen, ebenso wie in den Jahren danach. Es waren mehr als vierundzwanzig Stunden vergangen. Dachte er zumindest. Das Flackern der Neonröhre war das Einzige, was da drinnen verriet, dass die Zeit verging. Er hätte schon längst verlegt werden sollen, die Verwahrung war nur eine kurze Zwischenstation, damit die Insassen sich beruhigen konnten, aber diesmal sollten sie ihn offensichtlich besonders hart strafen. Jonas war einfach nur dankbar, dass sie ihn in Ruhe ließen. Hier drinnen konnte er nichts kaputt machen. Die dicken Mauern dienten als Schutz vor der Umwelt. Er hatte so lange auf Mariä Lichtmess gewartet, sich so zusammengerissen, aber das war jetzt vorbei, seine letzte Hoffnung war gestorben. Die Gemeinschaft hatte ihn im Stich gelassen, und es gab nichts, was ihn ablenken konnte, wenn sich das Verlangen das nächste Mal bemerkbar machte. Wie lange würde er warten müssen? Noch ein Jahr? Niemals würde er das schaffen. Nie. Hungrige Raubtiere sind am gefährlichsten, sie gehen auf Risiko. Jonas’ Hände zitterten. Er hatte nichts gegessen und getrunken, der Mund war trocken und ledern, die Zunge geschwollen. An den Hunger in der Anstalt hatte er sich gewöhnt, der Durst war schlimmer. Jonas hatte über zwanzig Kilo abgenommen, seit er hinter den Mauern einsaß. Eierschalen, Gips, Kalk und Streichhölzer, der Hunger hatte ihn dazu gebracht, wie ein Tier in Mülltüten und Essensresten zu wühlen. Paradoxerweise war es einfacher, an Hasch oder Amphetamine zu kommen, als an das, was er wirklich brauchte. Würde er einen Dealer damit beauftragen, ihm industriellen Phosphor zu besorgen, oder würde er sich erwischen lassen, wie er kalte Asche aß oder auf den Reibeflächen von Streichholzbriefchen herumkaute, dann würde das Gerücht schnell die Runde machen. Denn Jonas war kaum der einzige Verborgene, der in einer schwedischen Haftanstalt einsaß, es gab mehr von seiner Sorte an den Rändern der Gesellschaft. Früher oder später würde das Gerede von den falschen Ohren aufgeschnappt, und dann wäre es aus mit ihm. Die Tür wurde geöffnet, und ein Wachmann stellte ein Tablett herein. Bengtsson war einer von den älteren Bullen, klein, gedrungen, trockene Haut und mit unverhohlener Verachtung für das Verbrecherpack. Er begegnete Jonas’ Blick. »Hoppla.« Er trat gegen das Tablett, der Plastikbecher kippte um. Das Wasser lief über den Boden. Dann drehte er sich um, stieg mit einem Fuß in das Essen und verließ die Zelle. Jonas sah das Wasser auf den Abfluss zulaufen. Vor einer Weile hatte er dort pinkeln müssen. Als die Tür endlich zuschlug, stürzte er sich auf das Tablett. Versuchte auf den Knien noch die letzten Wassertropfen aus dem Becher zu ergattern. Er stopfte sich mit den Fingern die fade Frikadelle und die Salzkartoffeln, die Bengtsson zertreten hatte, in den Mund. Aber sein Durst war noch nicht gestillt. Jonas schluckte seinen Widerwillen hinunter und schlürfte die Pfütze vom Boden auf. Der Betongeschmack kitzelte an seinen Lippen. Er schrappte mit dem Löffel über den Boden, sog den Betonstaub auf und hackte am Abfluss herum, bis sich kleine Splitter lösten, die er hinunterschlang. Jonas schloss die Augen. Der herbe Kalk war nur ein Teil von dem, was er brauchte, aber fürs Erste musste es reichen. Die Luke wurde geöffnet und wieder geschlossen, danach die Tür. Er wusste nicht, ob es Tag oder Nacht war. Eine Pappschachtel und eine Flasche Wasser wurden hereingestellt. »Wie lange muss ich hierbleiben?« Jonas’ spröde Stimme versagte. »Frag die Politiker«, gab Bengtsson mit einem Schulterzucken zurück. »Es ist überall voll, du musst hierbleiben, bis wir einen freien Platz gefunden haben.« Dann war er wieder allein. Die Neonröhre an der Decke flackerte. Auch wenn die schwedischen Haftanstalten zu den humanen zählten, hatte jede ihre eigene Kultur und ihren eigenen Stil, mit dem Chaos umzugehen. Jonas machte niemandem einen Vorwurf. Er trank gierig aus der Wasserflasche und warf einen Blick in die Schachtel. Seine Masterarbeit. Vera. Wehmut übermannte ihn. Er hatte ihr Vertrauen missbraucht, und dennoch hatte sie sich für ihn eingesetzt. Mehrmals. Sie war eine von denen, die sich wirklich kümmerten in der Haftanstalt. Die meisten anderen erledigten nur ihre Arbeit, aber Vera war mit Leib und Seele dabei. Bibliothekarin, Lehrerin, Kuratorin – er war sich nicht sicher bezüglich der korrekten Berufsbezeichnung, aber sie hatte Jonas selbstlos geholfen, seit er dort war. Vera war über vierzig, unsicherer Blick, schmale Hände und ein feines, aber eigenes Lächeln. Er hätte sie beinahe umgebracht, und trotzdem musste sie sich der Gefängnisleitung widersetzt und sein Recht auf ein Selbststudium durchgeboxt haben. Vera hatte die Hoffnung nicht aufgegeben. Der unstete Blick, das unsichere Lächeln, von dem er sich wünschte, es würde bis zu den Lippen reichen. Er wollte weiterkommen, hart arbeiten und seinen Hunger mit seinem Studium betäuben. Denn damit konnte er diejenigen ausfindig machen, die ihn umbringen wollten. Jonas blätterte in Ordnern und Mappen, nahm ein Schwarz-Weiß-Foto in die Hand und betrachtete es. Es war Mitte des 18. Jahrhunderts in Vallsjö in Dalarna aufgenommen worden. Da stand er auf der breiten Treppe des Herrenhauses, breitbeinig und selbstsicher, leger gekleidet mit Hut und Schnauzbart, der Hüttenwerksbesitzer Patron Anders Svedberg, Jonas’ Vater. Um den Patriarchen herum standen Mägde und Knechte im Sonntagsstaat, blickten ernst in die Kamera. Wie oft hatte er nicht in die Vergangenheit hineingestarrt und nach den Augen gesucht, die im Schatten der Hutkrempe verborgen lagen, nach Antworten gesucht bei dem Mann, der es seit dem Unfall vor zwei Jahren auf ihn abgesehen hatte. Ein einziges Mal nur hatten sie sich getroffen. Und bis dato hatte er keinen Vater gehabt. Er legte das Foto wieder in die Schachtel. Andere Aufnahmen hatte er nicht gefunden. Jonas wusste, dass er sich vor ein paar Jahren Adrian Savin genannt hatte, aber es gab keine Fotos oder Angaben zu dieser Identität, die offenbar genauso schnell verschwunden war, wie sie erschaffen worden war. Jonas’ einzige Chance war die, gegen das Tribunal ins Feld zu ziehen, eine Handvoll mächtige Verborgene, die seit Langem die Geschicke der Welt lenkten. Sein Vater war einer von ihnen, aber mehr wusste er auch nicht darüber, nicht mal die Gemeinschaft schien von ihrer Existenz Kenntnis zu haben. Jonas wusste nur sehr wenig über das Dasein der Verborgenen. Die Gemeinschaft hatte die Macht, sie sorgte dafür, dass alle unter dem Radar blieben, und leistete mit der nötigen Hilfe Beistand. Obwohl es da oben sicher auch welche gab, die es gut meinten, hatte er auch andere Geschichten gehört. Allerdings konnte er das nicht mit der...