Alexanderson Firstborn
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-17336-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Gejagte - Thriller
E-Book, Deutsch, 448 Seiten
ISBN: 978-3-641-17336-4
Verlag: Goldmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Filip Alexanderson, 1975 in Schweden geboren, ist Schauspieler am Königlichen Dramatischen Theater in Stockholm. Er lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Schwedens Hauptstadt.
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Da kannst du nicht runtergehen!«
Eldh nahm eine Karte aus ihrer Brieftasche und wedelte damit.
»Keine Panik, Junge, ich arbeite hier.«
Eldh steckte ihre Coop-Kundenkarte in die Tasche, stieg die Stahltreppe am Bahnsteigende hinunter und folgte den Schienen. Weitere Einwände blieben aus, und sie war ehrlich erstaunt darüber, dass überhaupt jemand reagierte, das war eher untypisch für Stockholm. Einige andere Fahrgäste folgten ihr mit dem Blick, jedoch ohne sie wahrzunehmen, im öffentlichen Nahverkehr schalteten die Menschen auf Autopilot. Der Tunnel war dunkel, hier und da waren Lampen angebracht, die mit ihrem grellweißen Licht die rauen Wände beleuchteten. Weiter vorn hörte sie einen Zug am Medborgarplatsen losfahren und zwängte sich in einen schmalen Spalt, damit der Zugführer sie nicht sah. Sie zog sich die Kapuze ins Gesicht, und das Licht aus den Wagen zuckte an ihr vorbei. Vor ihr öffnete sich ein enger Durchgang zwischen den Gleisen, die nach Norden und Süden führten. Sie folgte den Stromleitungen, die wie breitspurige Straßen an den Wänden entlangliefen, und schlüpfte in den Durchgang zwischen den beiden Tunneln. Die Leitungen verschwanden in einer verputzten Wand. Eine Tür, übersät mit Verbotsaufklebern und Graffiti, das lädierte Schild oben in der Ecke– Hochspannung TBS031–, dort wollte Eldh hin. Sie lehnte die Stirn an die kalte Stahltür und schloss die Augen, horchte auf die hallenden Geräusche in den Tunneln. Diesmal ging es viel schneller. Trotz des schrillen Kreischens der bremsenden Züge, der klappernden Wagen und des Knackens der Weichen hörte sie es wieder; die Störung in der Hochspannung. Dort drinnen hinter der Tür surrte der Transformator mit derselben rhythmischen Verschiebung, die sich jede sechste Sekunde wiederholte.
Eldh holte einen Schlagring aus der Jackentasche und schob ihn auf ihre linke Hand. Sie wartete, bis ein Zug aus südlicher Richtung in einem Streifenmuster aus Licht und Schatten vorbeigefahren war, ehe sie vorsichtig die Klinke prüfte. Die Tür war offen. Ein unmerklich angespannter Ausdruck huschte über ihr Gesicht, als sie die Klinke drückte. Die Stahltür glitt auf, und überraschend geschmeidig schlüpfte sie lautlos durch den schmalen Spalt. Eldh war groß. Nicht dick, aber groß, kräftig und breit wie ein Scheunentor. In ihrer Jugend war sie eine richtige Walküre gewesen, die Männer hatten ihre blonde Erscheinung umschwärmt wie Nachtfalter eine Terrassenleuchte, aber die Jahre hatten ihr Recht eingefordert. Obwohl sie aussah wie um die fünfzig, hatte das Leben immer wieder seine Fallstricke für sie gespannt. Die starren Glieder, die Narben und die gebrochene Nase verrieten den Abgrund hinter den dunkelblauen Augen.
Sie ließ die Tür angelehnt, verharrte reglos und versuchte, den dunklen Raum zu überblicken. Das Surren des Stroms irritierte die Haut, und die Härchen stellten sich unvermittelt auf. Eine Glühlampe leuchtete ein Stück weiter hinten. Mit Kabeln verbundene Metallscheiben waren an Halterungen aufgehängt, die in langen Reihen den Raum vom Boden bis zur Decke bedeckten. Das Stellwerk war eingezäunt, überall hingen gelbe Warnschilder mit dem Blitzsymbol und dem Wort Hochspannung. Es roch nach Zigarette oder eher Zigarre. Abgesehen von dem singenden Strompuls war es still. Der Schotter unter Eldhs Schuhsohlen knirschte, als sie zwischen die Transformatorreihen spähte. Sie entdeckte zwei Krokodilklemmen in der hinteren Reihe, ein schwarzes und ein rotes Kabel verliefen um die Ecke. Eldh erahnte eine Gestalt, die in der Hocke am Zaun lehnte. Ein brauner glühender Zigarillostummel lag auf der Erde. Neben der Gestalt standen ein rotkarierter Einkaufswagen und eine zerschlissene Reisetasche, übersät mit alten abgewetzten Stickern verschiedener Sehenswürdigkeiten wie dem Eiffelturm und dem Zuckerhut. Die Tasche war vorn offen, und Eldh konnte darin die Konturen eines eigenartigen Gebildes ausmachen. Es ähnelte dem Innenleben eines Radios mit Transistoren, Metallteilen und Kabeln in verschiedenen Farben. So etwas hatte Eldh noch nie gesehen. Ein dickes schwarzes Kabel führte von der Tasche bis unter die Kleider der Gestalt in halbsitzender Stellung. Ein leises Summen war zu hören, wie eine zufällige Melodie von jemandem, der in seine Arbeit vertieft war– ein Handwerker oder ein Künstler vielleicht. Eldh machte einen zögerlichen Schritt auf die Gestalt zu.
Vor dem Durchgang rollte ein Zug vorbei, ein anderer kam ihm entgegen. Der Luftzug erfasste die Tür und riss sie unvermittelt auf. Instinktiv drehte Eldh sich um, als die Tür gegen die Wand schlug. Dann prallte sie zurück und fiel mit einem ohrenbetäubenden Knall ins Schloss. Als sie sich wieder umwandte, war die Gestalt mitsamt Tasche verschwunden. Sie hörte leichtfüßige Schritte und wie etwas zwischen die Transformatorscheiben gesteckt wurde. Eine Funkenfontäne erhellte mit ihrem lebensgefährlichen Feuerwerk den Raum, ehe es zum Kurzschluss kam und alles erlosch. Es wurde pechschwarz. Der Geruch von verbranntem Metall und der typische, stechende Geruch von ionisierten Partikeln verteilten sich in der Luft.
Eldh duckte sich an die Wand. Es knisterte, und Funken flogen, als der Reststrom in die Anlage floss, aber sie konnte nichts erkennen. Sie hörte Schritte direkt vor sich, holte zu einem Schlag ins Leere aus und erhielt als Antwort einen präzisen Hieb in die Seite. Der nächste Schlag traf ihre Unterarme, die Eldh gehoben hatte, um ihren Kopf zu schützen. Es war ein punktueller, schneidender Schmerz, der vermutlich mit einer Waffe ausgeführt worden war, einem Eisenrohr oder einem Nageleisen. Das Adrenalin blockierte das Schlimmste, als sie der nächste Schlag traf. Nun wusste sie, wo ihr Gegner sich befand. Sie hechtete mit ihrem ganzen Gewicht nach vorn, bekam einen Körper zu fassen und stürzte in den Zaun, der das Stellwerk umgab. Metall traf auf Beton, als die Waffe zu Boden fiel. Eldh konnte sich nicht gut orientieren, im Dunkeln zu kämpfen war nicht ihr Ding. Der Gegner war kleiner und schlanker und befreite sich aus ihrem Griff. Sie ging erneut auf den anderen los, und im selben Moment wurde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Eldh kam zu Fall und schlug mit dem Kopf auf dem Betonboden auf. Sie sah Sterne. Sie hörte schnelle Schritte, und dass die Tür geöffnet wurde. Draußen war es stockfinster. Der komplette Strom im gesamten U-Bahnnetz musste zusammengebrochen sein. Sie tastete sich voran, bis sie die Krokodilklemmen fand, spuckte in die Handflächen und hielt beide Leitungen fest. Der Reststrom jagte durch das System und in ihren Körper hinein. Nicht zu viel, aber ausreichend. Eldh schloss die Augen und konzentrierte sich. Das konnte man auf verschiedene Arten tun, aber für sie war es am einfachsten, an die reflektierenden Augen einer Katze zu denken, den Rest erledigte ihr Körper von allein, wenn ihre Nachtsichtigkeit einsetzte.
Langsam passten die Augen sich der Dunkelheit an. Der Raum war leer. Ein großer Rollgabelschlüssel lag neben ihr. Sie kam mühsam auf die Füße. Es schien nichts gebrochen. Sie lief in den Tunnel zurück, bog links und wieder links ab auf das südwärts führende Gleis Richtung Medborgarplatsen. Sie musste sich entscheiden. Sie hatten die Tendenz, sich für links zu entscheiden, wenn sie flohen, das hatte sie im Lauf der Jahre festgestellt.
Die kleinen blauen Lampen an den Tunnelwänden leuchteten schwach, ein Reservegenerator musste irgendwo angesprungen sein, und der matte Schein genügte ihren lichtempfindlichen Augen, um den Tunnel so zu sehen, als sei er voll beleuchtet. Weiter hinten flackerte Licht in einem stillstehenden U-Bahnwagen, und Eldh sah, wie ihn jemand umrundete. Sie setzte ihm nach. Einige verblüffte Gesichter nahmen sie in dem unsteten Licht vom Reservegenerator des Zuges wahr. Eldh hastete zum Bahnsteig, auf dem sich die Fahrgäste drängten.
Die Notbeleuchtung schien so grell, dass sie sich die Hand vor ihre lichtempfindlichen Augen halten musste. Es war keine Panik ausgebrochen; die Stockholmer hatten ein dickes Fell, Abweichungen von den Fahrplänen gehörten zum Alltag. Hunderte von Hammarby-Fans brüllten und grölten, vor kurzem musste ein Spiel zu Ende gegangen sein. Sie störten sich am meisten an dem Stromausfall. Die Fangesänge hallten von den gewölbten Wänden wider. Eldh kletterte auf den Bahnsteig. Es roch nach regennassen Jacken und Mänteln. Sie war einen Kopf größer als die meisten, aber sie wusste nicht, nach wem sie suchte. Eine Lautsprecherstimme verkündete etwas Unverständliches, sie konnte nur Signalstörung heraushören. Um sie herum stimmte eine Gruppe Jugendlicher neue Schlachtrufe an. Andere antworteten und setzten mit einem donnernden Chor ein. Eine alte Dame mit Einkaufswagen versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. Ein Hund bellte. Am mittleren Aufgang entdeckte sie einen Mann, der sich eilig durch die Menge schob. Er trug etwas Schweres. Es war in dem Gewimmel unmöglich zu erkennen, ob es die alte Reisetasche war. Sie musste es darauf ankommen lassen. Eldh drängte sich durch die Menschenmassen, war aber nicht schnell genug. Sie setzte die Kapuze auf und sprang auf die Schienen, um den Weg abzukürzen. Protestrufe folgten ihr, bis sie sich wieder hochstemmte und die Treppe hinaufrannte. Keuchend stand sie vor dem U-Bahneingang und spähte über den Medborgarplatsen. Der Regen hatte zugenommen. Nun sah sie ebenso gut in der Abenddämmerung wie bei Tageslicht. Trotz der schwachen Spannung würde das noch eine Weile anhalten. Björns Trädgård lag verlassen, ebenso wie die Treppen vor der Moschee. Niemand, der davonrannte. Aber dann sah sie ihn.
Er stand an einem Taxi vor dem Hotel...