Buch, Deutsch, Band 6, 600 Seiten, Lesebändchen, Format (B × H): 138 mm x 212 mm, Gewicht: 748 g
Reihe: Werke
Buch, Deutsch, Band 6, 600 Seiten, Lesebändchen, Format (B × H): 138 mm x 212 mm, Gewicht: 748 g
Reihe: Werke
ISBN: 978-3-608-93566-0
Verlag: Klett-Cotta Verlag
Amérys Arbeiten zur Philosophie: alle wesentlichen Aufsätze zu diesem Bereich sind hier versammelt – darunter einige wichtige, bisher noch nie gedruckte Essays, die für den Rundfunk geschrieben wurden.
Als dritter Band der großen Améry-Ausgabe erscheinen Amérys Arbeiten zur Philosophie; alle wesentlichen Aufsätze zu diesem Bereich sind hier versammelt – darunter einige wichtige, bisher noch nie gedruckte Essays, die für den Rundfunk geschrieben wurden. Die drei Schwerpunkte dieses Bandes repräsentieren die Hauptstadien von Amérys Entwicklung:
Die Essays zur modernen französischen Philosophie: vom Existentialismus über die immer wieder aufgenommene Auseinandersetzung mit Sartre bis zu Lévi-Strauss und Foucault. Dann die Kritik der deutschen Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, Texte also zu Hegel, Nietzsche, Heidegger, Marcuse, Bloch, zum Positivismus und zur Kritischen Theorie. Und schließlich die großen Aufsätze über 'Autorität und Freiheit', oder die 'Sprache des Menschen'.
Eine Dokumentation im Anhang bringt Dokumente zur Rezeptionsgeschichte der Texte. Das Nachwort erläutert Amérys philosophische Entwicklung, die sich in der unaufhebbaren Spannung zwischen dem Denken der Aufklärung und der Erfahrung der Tortur vollzog.
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Weitere Infos & Material
Engagement und Tendenzwende
– Der Existentialismus in Frankreich. Revolution des Geistes? Mode? Oder Dämmerung des 'Esprit français'? (1945)
– Französische Sozialphilosophie im Zeichen der 'linken Frustration' (1966)
– Jean-Paul Sartres Engagement (1968)
– Jean-Paul Sartres Kritik der dialektischen Vernunft (1968)
– Wider den Strukturalismus. Das Beispiel des Michel Foucault (1973)
– Fremdling in dieser Zeit. Zu Werk und Gestalt des Strukturalisten Claude Lévi-Strauss (1975)
– Der leere Mythos – Claude Lévi--Strauss. Über den vierten Band der Mythologica (1975)
– Bericht über den 'Gauchismus' (1975)
– Ein neuer Verrat der Intellektuellen? (1977)
– Französische Tendenzwende? Politische und philosophische Aporien im Lande des Cartesius (1977)
– Michel Foucaults Vision des Kerker-Universums (1977)
– Michel Foucault und sein 'Diskurs' der Gegen-Aufklärung.Vorstellung und Vorbehalt (1978)
– Neue Philosophie oder alter Nihilismus Politisch-Polemisches über Frankreichs enttäuschte Revolutionäre (1978)
– Wissen ist GULAG. Über André Glucksmanns Kritik deutscher Meisterdenker (1978)
Befreier oder Oppressor?
– Jargon der Dialektik (1967)
– Sie blieben in Deutschland – Martin Heidegger (1968)
– Hegel – Befreier oder Oppressor? Überlegungen zum 200.Geburtstag (1970)
– Für und wider die Lokomotive der Geschichte: Karl Popper – Herbert Marcuse (1971)
– Rückkehr des Positivismus? (1971)
– Rückblick auf die Apokalypse. Zu Günther Anders’ Anthropologie des homo faber (1972)
– Aufrechten Ganges in die Zukunft. Zu Ernst Blochs Experimentum Mundi (1975)
– Nietzsche – der Zeitgenosse. Zu seiner Betrachtung 'Schopenhauer als Erzieher' (1975)
– Schopenhauer: Gefährte und Gefahr. Zu den Neuausgaben der Werke (1978)
– Ludwig Wittgenstein – An den Grenzen des Scharfsinns. Zu den Vermischten Bemerkungen Ludwig Wittgensteins (1978)
Aufklärung als Philosophia perennis
– Autorität und Freiheit (1967)
– Atheismus ohne Provokation (1968)
– Gewalt und Gefahr der Utopie. Das Prinzip Hoffnung (1969)
– Weiterleben – aber wie? (1970)
– Die Vielen und ihr Eigentum (1973)
– Sprache des Menschen (1977)
– Aufklärung als Philosophia perennis (1977)
– Die heitere Subversion. Zum 200.Todestag Voltaires (1978)
– Lessingscher Geist und die Welt von heute (1978)
Anhang
Nachwort
Jean Améry hat sich nicht als Philosoph verstanden. Seine Form, die großen Strömungen und Systeme der Philosophie darzustellen, bedeutende und weniger bedeutende Denker zu porträtieren, weicht offenkundig von gängigen Vorstellungen ab, wie sie im akademischen Rahmen und vor allem in Deutschland verbreitet sind. Er beschreibt sie 'aus nächster Ferne' – mit Leidenschaft und zugleich mit Skepsis. Leidenschaftlich ist die Parteinahme für Sartres Philosophie und die Dankbarkeit gegenüber dem Positivismus des Wiener Kreises – aber zugleich betrachtet er beide schon aus der Ferne, als historisch gewordenes und begrenztes, nicht mehr unmittelbar wirkendes Denken.
Leidenschaftlich auch ist die Ablehnung des französischen Strukturalismus und seine Gegenrede zum deutschen Jargon der Dialektik – doch er kann im Siegeszug von Foucault die eigene Niederlage erkennen, und er weiß, daß, wer auf die 'Gangart' des spekulativen Denkens ganz verzichtet, diese Niederlage auch noch bejahen muß. Das spezifische Ineinander von Empathie und Distanz ist einzigartig an den hier vorliegenden Aufsätzen zur Philosophie. Es ist die Form, in der Améry seine Erfahrungen zur Sprache bringt – ohne unbedingt von ihnen selbst zu sprechen wie in seinen großen Essaybänden. Was sich darin als Idiosynkrasie (gegenüber Foucault oder Adorno) mitunter erbittert oder als Sympathie (gegenüber Sartre und Bloch) manchmal überschwenglich äußert, bildet jenen Teil der Erfahrung, den Améry nicht durchwegs erhellen kann, der aber gleichwohl seine Reflexionen zur Erhellung antreibt.
Die eigentümliche Konstellation dieses Denkens gibt in nuce die Passage eines Briefs zu erkennen, den Améry 1965 seinem Wiener Jugendfreund Ernst Mayer kurz nach einer Begegnung mit Ernst Bloch geschrieben hat: 'Ich glaube nicht, daß ich bestechlich bin, weil er mir die größte Sympathie bezeugte, wenn ich sage: seit ich 1946 hier Sartre sprechen hörte, hatte ich noch nie so sehr das sichere Gefühl, einem großen Denker zu begegnen. Nicht daß Blochs Philosophie die meine, die unsrige wäre: er verachtet die Positivisten und entwirft eine ausgewachsene Existential-Metaphysik, die sehr weit vom Marxismus entfernt ist (…). Es ist eine mir eigentlich fremde Gedankenwelt, aber sie ist von solcher Wucht und Tiefsinnigkeit, sie wird in einer so hinreißenden Sprache vorgetragen, daß man ihr den Respekt nicht verweigern will und kann. Daß man über den bloßen Neopositivismus hinausgehen muß, des bin ich – ganz ohne Bloch, eher von Sartre her – gewiß: es hat keinen Sinn (…) ein Leben lang nachzudenken, um dann festzustellen, daß A gleich A ist. Und dennoch muß man im Negativen, d. h. bei der Enthüllung von Schein fragen, den positivistischen Weg gehen und sich immer wieder, wenn man zum Hochflug ansetzen will, sagen: ›Der Sinn eines Satzes ist der Weg seiner Verifizierung.‹ Ich habe es aufgegeben, zu einer gefestigten Weltanschauung gelangen zu wollen; eine solche ist unter den heutigen Umständen wahrscheinlich gar nicht mehr möglich. Das beste, was sich noch erzielen läßt, ist ein Denken, das mit sich selbst aufrichtig ist.'
Diese Konstellation des Denkens konnte Améry in kaum mehr als einem Jahrzehnt – von 1966 bis 1978 – entfalten. Erst nach seinem großen Erfolg mit Jenseits von Schuld und Sühne erhielt er überhaupt Gelegenheit, Philosophisches im engeren Sinn zu publizieren. Davor mußte er solche Gedanken noch in Auftragsarbeiten gleichsam einschmuggeln. (Bereits in der Geburt der Gegenwart von 1961 konnte er allerdings, insbesondere im Kapitel über Frankreich, in größeren Zusammenhängen eigene Überlegungen in der Darstellung des französischen Existentialismus entwickeln; vgl. GW). Nun aber taten sich überall Möglichkeiten der Vermittlung auf, seine Präsenz in der Öffentlichkeit erreichte beachtliche Intensität: er nahm an zahllosen Diskussionen in Rundfunk und Printmedien teil und publizierte unablässig Essay nach Essay in wichtigen Zeitschriften, Zeitungen und Sammelbänden.
Améry wirkte zum einen als eine Art ›philosophischer Korrespondent‹ und machte die deutsche Öffentlichkeit wie kein anderer mit den Bewegungen des französischen Denkens bekannt, ohne sich darum selbst als unbeteiligter Beobachter außerhalb der Bewegungen zu sehen. Zum andern trat er als Kritiker der deutschen Denker von Hegel bis Heidegger hervor: darin gewann zwar die Philosophie seiner frühen Wiener Jahre – der Positivismus des Wiener Kreises – besondere Bedeutung, aber sie gewann sie nur gebrochen durch die eigene Erfahrung in den Folterkellern und Vernichtungslagern des Nationalsozialismus. Richtete sich in Frankreich die polemische Spitze ab einem bestimmten Zeitpunkt vor allem auf die Antipoden der Sartreschen Philosophie – Levi-Strauss, Foucault, Deleuze und die nouveaux philosophes –, so in Deutschland gegen eine bestimmte Verengung der Kritischen Theorie Adornos, Horkheimers und Marcuses, die es vor allem deren Adepten erlaubte, von jenen Erfahrungen, die Améry mitzuteilen hatte, beharrlich abzusehen.
Schließlich arbeitete Améry auch an einer langen Reihe von Texten, worin er relativ unabhängig von solchen, nicht selten polemischen Auseinandersetzungen etwas wie eine eigene Philosophie zu entwickeln suchte: eine Philosophie der Aufklärung, die von der klassischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts ausgehend eine Synthese visiert zwischen dem Positivismus des Wiener Kreises, der ihn einst den deutschen 'Waldgängern' entfremden konnte, und dem französischen Existentialismus, mit dem er 1945 konfrontiert wurde. Aber Elemente der thematisch weitgespannten Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos gehen ebenso in sie ein wie Gedanken aus Ernst Blochs umfangreichen Werken zur Utopie – bei allem, durchaus unterschiedlich akzentuiertem Abstand, den Améry zu den beiden großen philosophischen Richtungen der Linken in Nachkriegsdeutschland hielt: Letztlich ist diese Philosophie, will sie nicht epigonal sein, nur als permanentes, nicht abschließbares und gerade darin engagiertes Selbstgespräch möglich – und so entspricht die lockere parataktische, aber nicht beliebige Anordnung der Texte durchaus ihrem Wesen. […]