Andras Die Wunden unserer Brüder
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-446-25761-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-446-25761-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Fernand Iveton ist dreißig, als er im November 1956 für die algerische Unabhängigkeitsbewegung in einem verlassenen Gebäude eine Bombe legt. Der Algerienfranzose will ein Zeichen setzen, ohne Opfer zu riskieren. Doch Iveton wird verraten und noch vor der Detonation verhaftet. Nach tagelanger Folter verurteilt ein Militärgericht in Algier ihn zum Tode, und unter Mitterrand, dem damaligen Justizminister Frankreichs, wird er am 11. Februar 1957 hingerichtet. Ein Franzose auf Seiten der Algerier ist nicht tragbar. Joseph Andras erzählt diese wahre, ungeheuerliche Geschichte in all ihrer Aktualität. Sein gefeiertes Debüt ist ein literarisches Kunststück, „kurz und dicht birgt es eine unerhörte Kraft.“ (Le Monde)
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Einer der beiden von Fernand »gelieferten« Namen schläft. Die Tür seines Zimmers wird aufgestoßen. Handfeuerwaffen und drohend geschwenkte Maschinengewehre, Hände hoch, Taschenlampen mitten ins Gesicht. Sie drücken auf den Lichtschalter. Fabien erhebt sich benommen, aber er versteht sehr genau, was passiert. Schöne Grüße von Iveton, schiebt einer der Offiziere nach, als wäre nicht alles schon klar. Das Zimmer wird auf den Kopf gestellt, in einer Pappschachtel unter ein paar Hosen werden Kabel gefunden. Fabien kriegt einen Faustschlag ins Sonnengeflecht, und während er zusammengekrümmt nach Atem ringt, streckt ihn ein weiterer rechts ins Gesicht zu Boden. Bastelst du damit die Bomben? Schert euch zum Teufel, gibt er zurück, bevor ihm ein Stiefel in die Rippen springt. Auch Hachelafs Frau wird festgenommen. Man fährt sie ins selbe Revier, um beide einander gegenüberzustellen – sie tun, als kennten sie sich nicht, nein, sein Gesicht sagt mir nichts, nie gesehen, tut mir leid. Fabien wird ausgezogen, Stockschläge auf die Fußsohlen, Elektroden an die Hoden, er schickt sie weiter zum Teufel und in die Hölle, Imperialistenpack, man schmiert ihn mit einem seltsamen Gel ein, dessen Namen er nicht kennt, Pomade, höhnen die Bullen. Das Lachen ist das spezifische Merkmal des Menschen, sagt man, und das sieht nicht schön aus. Sie reiben es ihm auf »die Weichteile«, doch selbst die Anführungszeichen schmerzen: ein Gefühl von Säure, brennt, nagt, frisst, er brüllt, rede und du leidest nicht mehr, er weiß nicht, wo die hergestellt werden, nein, und auch nicht, wer sie bastelt, Fabien beißt sich von innen auf die Wangen, nicht ein Wort dringt aus seinem Mund. Die Nacht streicht über seinen mit Narben übersäten Körper hinweg. Fernand wacht auf. Das heißt, er wird geweckt. Wie zerschlagen, kaum fähig, gerade zu gehen. Er kratzt sich die Nase – ein ständiges Gefühl von Wasser darin. Die Presse ist da für dich, sie warten schon, zieh deine Klamotten an. Der Direktor der Nationalen Sicherheit hat sich in voller Montur aufgebaut, der Kommissar, ein gewisser Parrat, versucht, es ihm gleichzutun. Ihnen gegenüber ein Dutzend Journalisten und Fotografen. Fernands Hände sind vor seinem Körper in Handschellen gelegt. Grelles Blitzlichtgewitter, weiße Spucke. Er kneift die Augen zusammen, das Haar zerzaust und fettig, den Blick am Boden. Man teilt ihm mit, sein Name prange auf den Titelseiten sämtlicher algerischer Zeitungen. Sicher hätte er seine tödliche Waffe nach der Arbeit irgendwo in einem Bus, einer Straßenbahn oder einem Geschäft ablegen sollen, wo sie weitere Frauen und Kinder grausam verstümmelt und Unschuldige getötet hätte, behauptet La Dépêche quotidienne … Fragen hageln auf ihn ein und prallen zurück, Geifer für die Meinung, das ausgelieferte Tier im Schlachthof. Er antwortet, so gut er kann, ohne Einzelheiten zu nennen und ohne mehr zu sagen als nötig. Seine Worte zittern, erschöpft vom Hunger und den Martern des Vorabends. Nein, seine Zelle hat nichts mit den Attentaten in der Milk-Bar und im La Cafétéria zu tun; nein, er ist kein Mörder, sondern ein politischer Aktivist, seine Operation war ausschließlich auf die Gasfabrik gerichtet, auf Betriebsanlagen, nicht mehr, niemand sollte bei der Explosion zu Schaden kommen, darauf hatte er sich persönlich mit seinen Kameraden verständigt, alles war so geplant, dass kein Blut fließen würde; ja, er ist Kommunist. Er antwortet und knetet dabei unruhig die Hände. Man erklärt ihm, eine zweite Bombe, auf der der Name »Jacqueline« stehe (auf seiner »Betty« – eine Freundin von Taleb, auch das wissen die Journalisten), sei im Morgengrauen in einem Mannschaftswagen der CRS mitten in der Stadt gefunden worden, was er dazu zu sagen habe? Ich bin nicht informiert, ich weiß davon nichts. Und denkt: Jacqueline hat es also geschafft, sie loszuwerden. Sie ist nicht hochgegangen, wohl ein technisches Versagen. Djilali sitzt über seine Schreibmaschine gebeugt. Er reibt sich die Augen. Sein rechtes Lid zuckt nervös. Jacqueline massiert ihm mit einer Hand den Nacken und liest über seine Schulter hinweg das Flugblatt, das er gerade verfasst: Der FLN bekennt sich ohne Einschränkungen zur Tat des Genossen Fernand Iveton, einem ausnehmend mutigen Patrioten. Sein Land ist das Algerien von morgen, ein Land, in dem der Kolonialismus nur noch eine schlechte Erinnerung sein wird, eine dunkle Klammer in der Erzählung von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ein Land, in dem die Araber nicht mehr werden kriechen müssen, ein Algerien, in dem der Staat souverän und von Frankreich unabhängig sein wird. Jacqueline fragt, ob er das Blatt der Frontleitung vorlegen und ihre Zustimmung einholen will, bevor man es druckt und verteilt, ja, natürlich, es ist ein heikler Moment, besser, wir sichern uns ab. Fabien liegt mit ausgebreiteten Armen da, aus seiner Unterlippe sprudelt Blut. Er hat gerade zwei Namen preisgegeben, er konnte nicht mehr. Fernand wurde den ganzen Tag lang gefoltert, er hat drei herausgerückt. Aus welchem Stoff sind Helden nur gemacht?, fragt er sich, während er gefesselt mit herunterbaumelndem Kopf auf der Bank liegt. Aus welcher Haut, welchen Knochen, Skeletten, Sehnen, Nerven, aus welchem Stoff und Fleisch, aus welchen Seelen sind sie bloß gemacht? Vergebt mir, Genossen … Seine Schultern sind nicht breit genug, um das Ornat des Präfekten von Eure-et-Loir, Moulin, genannt Max, zu füllen, der übel zugerichtet in einem Paris-Berlin-Zug verreckte; er hat nicht den Mumm, sich auf die Geschichte zu berufen, die mit dem bestimmten Artikel. Vergebt mir, Genossen, ich hoffe wenigstens, ihr seid in Sicherheit, ich habe dichtgehalten, solange es ging … Heute starben etwa dreißig »Rebellen« im Hinterland durch Maschinengewehrsalven oder Bomben. Aber immer noch kein »Krieg«, nein, so weit gehen wir nicht, die Staatsmacht kultiviert ihre Höflichkeiten – aus Seide geschneiderte Kampfanzüge, als Menschenliebe getarnte Schlachterei. Fernand trinkt ein wenig, hat aber immer noch nichts gegessen. Schläft ein. Am nächsten Tag überstellt man ihn in eine andere Stadt. Wieder Folter. Diesmal befindet sich direkt unter der Klappleiter, auf die man ihn gefesselt hat, ein unter Strom gesetztes Wasserbecken; wenn er sich bewegt, während ihm das Wasser in den Mund strömt, taucht er mit dem Hintern hinein. Er soll die Adresse der Bombenfabrik herausrücken, die von Abderrahman Taleb, einem Chemiestudenten, der sich letztes Jahr der Widerstandsgruppe angeschlossen hat. Fernand hält mehr als zwei Stunden dicht, dann brüllt er, sie sollen aufhören, ja, er wird reden, ja, er kennt sie, ich fahre mit euch hin. Man legt ihn in Handschellen und setzt ihn in einen von drei Militärjeeps. Nach etwa vierzig Minuten zeigt er auf einen Bauernhof in der Ferne – Fernand hat nie einen Fuß hierhergesetzt, er weiß absolut nichts über diesen Ort, außer dass er überzeugend nach einem Bauernhof aussieht und somit die Information untermauert, die er unter den Schlägen abgeliefert hat (»die Fabrik befindet sich in einem Bauernhof außerhalb von Algier«); er versucht nur, der Folter zu entgehen und gleichzeitig keine Informationen herauszurücken, die für das Überleben der Gruppe wichtig sind. Die weiß gekalkten Mauern des Gebäudes schneiden scharf ins Grün der Umgebung. Etwa zwanzig Soldaten marschieren mit MAt 49 und Thompson M1A1 in der Hand auf die Tür zu – sie teilen sich in drei Gruppen auf und umstellen sie. Einige Schritte neben dem Jeep wird Fernand von zwei Wachen beaufsichtigt. Ihr Blick ist starr auf den bevorstehenden Ansturm geheftet. Einer der Soldaten klopft an die Tür, wartet auf eine Antwort, nichts, er gibt ein Zeichen und tritt beiseite, drei Soldaten hinter ihm stoßen sie ein. Die beiden Wachen kneifen die Augen zusammen, um ja nichts zu verpassen. Fernand schaut hinter sich: Bäume, und weiter weg, so scheint es zumindest von hier, eine kleine Schlucht. Hätte er Zeit, um bis dorthin zu kommen? Die Soldaten stürmen in den Bauernhof. Fernand beginnt zu laufen; sechs oder sieben Meter hat er hinter sich gebracht, da drehen sich die Wachen um und eröffnen das Feuer. Er hört drei Schüsse, doch zu seiner großen Überraschung bricht er nicht zusammen, nein, er ist unverletzt und rennt weiter! Hinter ihm Schreie. Plötzlich eine tiefe Senke. Das Gefälle ist so jäh aufgetaucht, dass er nicht hinunterhastet oder -rutscht, sondern springt, spürt, wie sein Fußgelenk bei der Landung zusammengestaucht wird, strauchelt, sich wieder aufrichtet. Um ihn herum große Steine, Büsche, Gestrüpp und Sträucher und ein paar Meter weiter vorn ein Flusslauf. Er wird nicht die Zeit haben zu rennen oder zu schwimmen, denkt er, sie werden von oben auf ihn losballern. Er rollt sich unter einen Strauch, eine Art Ginster, verdammt, die Arme schauen heraus, er versucht, sich so klein wie möglich zu machen, zieht die Gliedmaßen so eng wie möglich an sich heran, doch die Wunden hindern ihn, sich so zusammenzukauern, wie er möchte. Die Soldaten stürzen den Abhang hinunter, sie schreien, Waffen klicken, Lederstiefel trampeln das trockene Gras nieder. Fernand sieht nichts. Manche Stimmen rücken in die Ferne, andere scheinen sich zu nähern, zumindest befürchtet er das, glaubst du, er hatte Zeit, über den Fluss zu kommen?, verdammt, Leute, ich hatte doch gesagt, auf ihn aufpassen, ihr seid wirklich Idioten, echte Vollidioten, hol den Suchscheinwerfer, Daniel! Ist es die Angst, die der Zeit ihren eigenen Takt diktiert? Fernand hat den Eindruck, seit Stunden unter diesem Ginster zu hocken. In den Schenkeln Krämpfe, obendrauf Ameisen. Nein, er fantasiert nicht, es wird wirklich schon langsam dunkel. Ein Soldat schlägt vor, einen Hund zu holen,...