Arnold / Seiler Wolfgang Welt
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-96707-546-5
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 232, 129 Seiten
Reihe: TEXT+KRITIK
ISBN: 978-3-96707-546-5
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Willi Winkler nannte Wolfgang Welt (1952–2016) den "größten Erzähler des Ruhrgebiets", auch wenn der Außenseiter des Literaturbetriebs lange als Geheimtipp gehandelt wurde – bis Peter Handke dafür sorgte, dass Welts Texte im Suhrkamp Verlag erschienen.
Zunächst Anfang der 1980er Jahre Popjournalist für regionale und überregionale Magazine, galt der Bochumer aufgrund seines unverblümten Stils und seiner kompromisslosen Haltung schnell als Provokateur der Musikjournalistenszene. Nachdem eine psychische Erkrankung ihn dazu zwang, kürzer zu treten, wurde Welt hauptberuflich Nachtportier im Schauspielhaus und blieb es bis an sein Lebensende. Sein Werk umfasst neben fünf Romanen ("Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe", "Peggy Sue" und "Doris hilft" u. a.) zahlreiche kleinere Schriften: Rezensionen, Reportagen, Erzählungen, die aus dem Leben in der Zeitschriftenredaktion und dem Nachtleben berichten.
Das Heft erkundet anhand von Werkanalysen, aber auch von Gesprächen und von Berichten von Zeitgenossen Welts zentrale Rolle im Kontext der deutschen Popliteratur und stellt sein eigenwilliges Verständnis einer autofiktionalen Literatur dar, die sich durch strenge Subjektivität und regionale Bindung auszeichnet.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
- Wolfgang Welt: Jukebox Baby
- Sascha Seiler: "Die grüne Welle reiten". Gespräch mit Phillip Goodhand-Tait
- Rolf Parr: Im Stakkato pop-kultureller Bewegungszyklen. Wolfgang Welts autofiktionales Schreibprojekt
- Sascha Seiler: Der raue Ton der Achtzigerjahre. Wolfgang Welt als Musikjournalist
- Thomas Ernst: Pop und Komik, Wahn und ›Männlichkeit‹. Wolfgang Welt als Autor der Subversion?
- André Menke: "Er wollte wissen, in welcher Tradition ich mich sähe, und ich antwortete, in keiner". Über einige Einbettungen und literarische Nachbarschaften von Wolfgang Welts Werk
- Innokentij Kreknin: "Ob das alles autobiographisch sei? Ja sicher." Autofiktion bei Wolfgang Welt
- Jan Süselbeck: Einfach kompliziert. Über Wolfgang Welts Verhältnis zur Literaturkritik
- Martin Willems: "Ich besitze immerhin ca. 2000 Bücher …". Wolfgang Welts Nachlass
- Martin Willems: Auswahlbibliografie
- Notizen
Wolfgang Welt Jukebox Baby
Ich war auf nichts Besonderes aus, auch nicht auf irgendeine Frau. Es schien, dass ich mich wieder volllaufen lassen würde, wie an den vergangenen vier Wochenenden seit meinem Autounfall. Ich überlegte nicht lange, ob ich meine weißen Roots oder meine blauen Wildlederschuhe anziehen sollte. Was ich trug, spielte beim Saufen keine Rolle. Beim Dellmann klopfte ich zuerst auf den Stammtisch, um so die Klammerrunde zu grüßen. Alles alte Kartenhaie, die ich kannte, solange ich hier in unserem Vereinslokal verkehrte. Ich ging an den Tresen zu Erwin Patzke, dem bärtigen Haudegen, der mit seinen bald vierzig Jahren immer noch glaubte, als Libero in die Erste zu gehören, den man aber nur noch in den Alten Herren prockeln und die Mädchenmannschaft trainieren ließ. Das hatte er gerade gemacht. Seine Haare, die er nie föhnte, waren noch nass, wie an dem vergangenen Freitag, als ich hier meine Sauftour anfing. Da hatten Erwin und ich von gemeinsamen alten Zeiten geschwärmt, vor allem von dem Spiel in Eppendorf, das noch gar nicht so lange her war, als wir bei denen 3:0 in der Halbzeit führten und die dringend die Punkte gegen den Abstieg brauchten. Irgendeiner gab dann die Parole aus: »Jungs, verliert, die tun ein paar hundert Mark raus.« Und Erwin schaukelte das Ding mit unserem Torwart. Eppendorf gewann tatsächlich 4:3. Nur bekamen wir nicht die Blauen in die Hand gedrückt, die taten bloß einen Kasten Bier und ’ne Flasche Jägermeister raus, die dann Erwin und ich alleine leer machten, weil die andern den Likör nicht wollten. Bei Erwin stand einer, von dem ich nur wusste, dass er Ötte hieß. Ich hatte ihn schon öfter hier in der Kneipe gesehen, aber die meiste Zeit hatte er für sich gestanden. Jetzt unterhielt er sich mit Erwin. Ich stellte mich zu den beiden, ohne dass ich aufdringlich wirken wollte. Ich bekam mit, dass Erwin und Ötte mal zusammen gearbeitet hatten, nicht auf dem Pütt und auch nicht auf dem Bau, wo Erwin jetzt Estrich legte, sondern bei irgendeiner Klitsche in Werne. Ich hörte nur zu und trank sehr schnell mein Bier. Neben uns an der Theke lungerte ein Besoffener rum, den ich noch nie gesehen hatte. Am andern Ende des Tresens knobelte die Wirtin mit zwei Stammgästen. Immer wenn ihr ein Schock gelungen war, schräpte sie. Zum Glück schien sie eine Pechsträhne zu haben und blieb meist stumm. Erwin fing an, von dem Attentat in Lütgendortmund zu erzählen, bei dem sich im Amtshaus der Bombenleger selbst in die Luft gesprengt hatte. Erwin, ganz Fachmann, meinte, er hätte Diesel genommen, der brennt nicht so schnell. Und ich meinte, der hätte wohl erst das Benzin verteilt und sich dann eine angesteckt. Der Besoffene hatte das mitgekriegt und sagte »Ihr seid doch alle Terroristen.« »Halt die Klappe«, sagten wir oder so was. Wir ließen uns nicht von ihm stören. Erwin kam auf einen neuen Energiedeal mit den Russen zu sprechen und schwärmte von den riesigen Rohstoffvorhaben, die die hätten. Auch das hatte der Besoffene, der so an die fuffzig war, mitgekriegt. »Ihr seid doch Kommunisten.« Er ging um den Tresen rum und verlangte vom Dellmann das Telefon. Bereitwillig gab ihm der Wirt den Hörer. Dann wollte der Besoffene die Nummer der Polizei wissen. Die anzurufen, konnte ihm der Wirt ausreden. Ich dachte, eigentlich müsste der den rausschmeißen, da der doch Stammgäste belästigte. Doch der Dellmann tat nichts dergleichen, er war eben kein Gerd Neemann. Stattdessen servierte er ihm noch Pommes frites mit Mayonnaise. Ich ging schiffen. Kaum hatte ich den Dödel in der Hand, ging hinter mir die Tür auf. Eh ich mich versah, hatte mir der Besoffene über meine Schulter drei Stück ins Gesicht geknallt und dabei geschrien »Du machst mir Deutschland nicht kaputt.« Ich tickte mit dem Kopf gegen die Fliesen. Erst da wusste ich, was eigentlich los war. Ich drehte mich um und nahm den Schläger in den Schwitzkasten. Ich rief nach Hilfe, aber keiner kam. Er wehrte sich heftig. Wir landeten in der Pissrinne, doch ich ließ ihn nicht los. Langsam zog ich ihn vom Scheißhaus runter, rein in die Kneipe. Erst da ließ ich ihn laufen. Ich forderte den Wirt auf, die Polizei zu rufen, das machte der aber nicht, obwohl ich ihm die Male in meinem Gesicht zeigen konnte. Stattdessen ließ er den Besoffenen zahlen und gehen. Als der weg war, drang ich noch mal auf den Dellmann ein, er sollte die Polizei anrufen. Als der sich wieder nicht rührte, verlangte ich das Telefon, das konnte er mir nicht verwehren. So rief ich die Bullen an. Nicht dass ich ein besonderer Polizistenfreund war, aber schon der Krankenkasse wegen musste der Täter dingfest gemacht werden. Unter Garantie würden die mich von der Barmer Ersatzkasse anrufen, wenn sie die Diagnose kannten und mich nach dem Vorgang befragen. Keine fünf Minuten später kamen zwei Mann in Uniform an. Ich stellte mich vor und schilderte die Tat. Als ich fertig war, kamen noch zwei Zivile rein. Ich dachte mir, die sind vom BKA, wegen des Attentats. Ein Uniformierter sagte denen, es sei nichts Besonderes und ich dachte, hat nichts mit dem Attentat zu tun. Da hauten die Zivilen wieder ab. Ich wurde gefragt, ob ich den Täter kenne. Ich sagte nein und dann in vollem Ernst: »Hier an der Gabel sind seine Fingerabdrücke.« Aber der Polizist winkte ab. Dann fragte er die andern Gäste, ob die den Schläger kannten. Keiner antwortete. Ich hatte zumindest den David Hoffmann in Verdacht, dass der wusste, wer das war. Der kannte doch jeden auf der Wilhelmshöhe. Aber er ließ sich nicht mit den andern beim Klammern unterbrechen. »Sie wollen eine Strafanzeige machen? Dann kommen Sie mal mit in den Wagen.« Ich war schon halb draußen, als mir der Piff Temma nachrief: »Bei Arthur Wagner um die Ecke, erstes Haus, erste Tür.« Ich sagte den Schackos, was ich gehört hatte. Sie fuhren auch mit mir zu dem Haus hin. Es wohnten zwei Parteien darin. Die Polizisten meinten, da könnten sie nicht stören, wenn ich nicht wüsste, wie der hieß. Schließlich sei schon nach zehn. Dann fragten sie mich, ob ich einen Krankenwagen haben wollte. Ja, sicher. Ich will das hier nicht bestreiten, von Anfang an dachte ich an Schmerzensgeld, so viel wie bei dem Autounfall, so an die 400 Mark. Die Sau würde ich noch fertigmachen. Die Ambulanz brachte mich ins Knappschaftskrankenhaus. Der behandelnde Arzt sah mich unfreundlich an, als ich ihm den Vorgang erklärte. Ich bekam eine Tetanusspritze, weil ich Schrammen am Arm hatte, der verbunden wurde. Aber zu meiner Überraschung wurde mein Kopf nicht geröntgt und ich konnte gehen. Ich fuhr mit dem 78er nach Hause und weckte meine Eltern. »Regt euch nicht auf.« Aber natürlich regten sie sich auf. Nicht so sehr wegen der Verletzung, sondern weil ich mal wieder blau war, obwohl es so schlimm gar nicht war. Ich hatte in den zwei Stunden vielleicht zehn Pils getrunken, war also noch lange nicht besoffen. Doch meine Eltern dachten da anders. Samstags blieb ich zu Hause und ging erst Sonntagabend wieder raus, ins Rotthaus. Ich traf keinen Bekannten, stellte mich an den Tresen. Werner bediente. Was hast du denn gemacht? »Ja, das war so …« Und so was war mir in meiner langjährigen Stammkneipe passiert. So was würde mir hier im Rotthaus nicht geschehen. Ich trank Kaffee, bekam auf einmal Angstzustände. Ich stieg um auf Mineralwasser. Zwei Typen mit Ring im Ohr unterhielten sich am anderen Ende des Tresens. Allmählich wuchs der Verdacht in mir, dass es sich dabei um Polizisten handelte, die mich im Auge zu behalten hatten. Das erste Mal in meinem Leben spürte ich so was wie Verfolgungswahn. Als ich endlich zahlte, kriegte ich keinen Ton raus. Auf dem Heimweg sah ich mich immer wieder um. Doch obwohl mir niemand folgte, wurde ich immer unruhiger. Ein paar Tage später. Zu Hause rief Monika Littau an. Sie wollte sich mit mir treffen, um alles klar zu machen für unsere gemeinsame Lesung. Wir verabredeten uns. Ne Stunde später saß ich mit ihr in einem Dortmunder Café. Unsere Texte ließen sich kaum auf einen Nenner bringen. Sie wollte Gedichte über Sri Lanka lesen, wo sie im Urlaub gewesen war, und ich wollte »Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe« vortragen. Schon das Suchen eines geeigneten Vortragsraumes war uns schwergefallen. Sie hatte sich dann von der Idee, in ein Café zu gehen, abbringen lassen und wir landeten in der Zeche, deren Eröffnung ich ein paar Wochen vorher fast von Anfang an mitgemacht hatte. Die Betreiber des neuen Veranstaltungszentrums hatten jede Menge Freikarten verteilt und alles drängte sich an die paar Zapfhähne, während auf das Programm niemand zu achten schien, auch ich nicht. Ich traf jede Menge Leute. Omo war da, Jochen vom DGB, der mich in meinem Prozess vertreten hatte. Aus Köln waren June Miller und Barbara Wolf angereist. Ich konnte mich kaum mit ihnen unterhalten. Dann stand ich neben Herbert Grönemeyer. Er erkannte mich wieder. »Tut mir leid, dass ich dich damals verreißen musste, aber die beiden Platten waren echt scheiße.« Er stand neben einem älteren Herrn, offensichtlich seinem Vater. »Jaja«, meinte er, »die Scheiben waren auch nicht besonders.« In seinem »Boot«-Film hatte ich ihn nicht gesehen. Außerdem lebte er nicht mehr in Bochum. Im Grunde interessierte ich mich nicht für ihn und ging auch bald zu jemand anderem hin. Bernd, der einer der Macher der Zeche war und zuständig für die Buchung der Veranstaltungen, hatte sich sofort bereit erklärt, uns einen Raum zur Verfügung zu stellen. Am 8. Dezember, das wäre John Lennons erster Todestag. So schlug ich Monika vor, die Sache unter dem Motto »Give Peace A Chance« laufen zu lassen. Auch wenn mein Text nichts mit Frieden zu tun hatte und ich weit entfernt war von der Friedensbewegung, die sich in Bonn und anderswo breitmachte. Wir versuchten im Chat Noir, ein Flugblatt zu...