E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Arzt Das Unbehagen
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7017-4741-2
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4741-2
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Das Unbehagen" nimmt uns mit auf eine Reise unter die dünne Haut der Zivilisation — und in eine überwältigende Natur.
Ein diffuses Unbehagen ist es, das den Lehrer Lorenz Urbach mehr und mehr befällt, eine politische Unzufriedenheit, eine Überforderung, ein Überdruss. Plötzlich bricht eine ungekannte Aggression aus ihm heraus, er gerät in eine Schlägerei und verliert den Boden unter den Füßen. Als Berichte über ein blutrünstiges Tier auftauchen, das in den Alpen sein Unwesen zu treiben scheint, werden in Lorenz alte Erinnerungen wach. Die Medien spekulieren – ist es ein Wolf? Oder vielleicht doch ein Mensch? – und Lorenz denkt an seine Jugendfreundin Theresa, die Außenseiterin, die Aussteigerin, die immer schon Gewaltbereite … Er bricht zu einer einsamen Wanderung in die Berge auf, setzt sich den Naturgewalten aus – auf der Suche nach dem "Ungeheuer" da draußen und dem Ursprung der Gewalt in sich.
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2.
Erste Stunde, supplieren für Kollegin Franz, Trauerfall in der Familie, er ließ die Klasse Schilder basteln für den nahenden Aktionstag. Zweite Stunde, schlechter Kaffee und müßiger Smalltalk, Direktorin Freudmann kotzte sich über die Bildungsdirektion aus, es bleibe freilich unter uns, ihr Stimmvolumen schepperte raus in den Eingangsbereich der Schule. Dritte Stunde, Briefromane am Beispiel von Goethes Werther und Bauers Fieberkopf, ursprünglich geplant unter freiem Himmel, doch der Regen überraschte sie, die sechste Klasse stand triefend im Nass, sie entschieden, ins Café gegenüber zu gehen, dort verebbte der Unterricht und es wurde Eis gegessen. Vierte Stunde, Erster Weltkrieg. Fünfte Stunde, die noch ausständigen Referate im Vertiefungsgegenstand Literatur der Gegenwart, und damit begann das Unheil. Eigentlich begann es mit Flora. Sie war, wie gewohnt, souverän. Sie referierte über einen ihm unbekannten Roman, einen beinahe aktionistischen Bericht über Klassenkampf und Ausbeutung des Planeten. Er beneidete seine Schülerin um ihre Selbstsicherheit, sie war belesen und interessiert an allem, was auf sie im täglichen Informationsstrom einprasselte, überhaupt beachtlich, stellte er fest, die Blicke der gesamten Gruppe auf ihn gerichtet, allein bei dem Tempo der Nachrichten, dass ihr da nicht durchdreht … Er selbst fühlte sich zunehmend überfordert, oder anders: Er misstraute der Überzeugung, noch etwas Sicheres über das Hier und Jetzt aussagen zu können. Die Eindeutigkeit, mit der im vergangenen Schuljahr Positionen eingenommen werden sollten (Weltkonflikte, ausgetragen in überfüllten Klassenräumen), ängstigte ihn. Demgegenüber liebte er die vermeintlich ungebrochene Euphorie und Entschlossenheit seiner Schülerinnen und Schüler. Er wollte für einen Moment mithalten, mit dieser so schillernden Jugend (er war in einem Stadium seines allzu durchschnittlichen Lebens angekommen, in dem er vermehrt derartige Wörter in den Mund nahm: das Alter, das Sterben …), und er brach an dem Tag von Floras Referat eine Diskussion vom Zaun, darüber nämlich, was Bücher imstande wären zu leisten, was Literatur an sich für Möglichkeiten in den Raum stelle, wie sehr Sprache uns als Waffe für den Kampf gegen die uns umgebenden Umstände bestärke. So in etwa hatte er es gesagt, im schalen Gefühl, allen etwas vorzubeten. Doch kann’s schlussendlich ja nur darum gehen, rief er plötzlich hilflos aus, um die Hoffnung, dass die Zeit, die wir hier alle absitzen, uns beflügelt, aufrichtet. Nicht? Uns wappnet gegen Tristesse und Pessimismus. So schwülstiges Pathos kannte er nicht an sich. Und dann, wie aus einer Faustfeuerwaffe in sein schlappes Mittvierzigerherz gedonnert: Flora. Es war erwartbar gewesen. Er hatte sie ja dazu aufgefordert, über das Buch hinauszudenken, an das, was jenseits des Schulgebäudes … – Aber Herr Professor, unterbrach sie, laut und vor der Klasse stehend, ist doch alles nur Scheiß. Und eigentlich hätte er gern erwidert, dass er nicht ihr Professor sei (er wollte die Form vergessen, aber die Form war stärker), und Flora trug die Vernichtung vor: Wir sitzen hier und reden und reden und es ist trotzdem Scheiß. Kein Geheule folgte, sondern eine klare Schlussfolgerung. Wenn ein Buch, sagen wir, eine Gruppe Menschen, wie wir sie jetzt sind, begeistern würde, also voll und so! Und sagen wir, es wird über das Buch hinaus was ausgelöst. Wir alle wissen, wie wenig wir am Ende auf der letzten Seite sagen: Yeah, wow, echt, hey! Wir müssen das jetzt anpacken, ja, los, und alle zusammen oder so. Wir wissen, dass das nur drei machen, oder zwei, vielleicht, und wenn überhaupt, dann können wir die … die eigenen Eltern dafür gewinnen. Die eigene Hood. Aber wie oft ist durch ein Buch jetzt ein Gesetz oder so, Sie wissen, was ich meine, aber … Sagen wir mal, es ist utopisch, toll, wir alle lesen das Buch und sagen dann, jetzt aber! Und wir tun was. Wir. Hier. Jetzt … Wie viele Bücher müssten dann aber gelesen werden und wie verdammt gut müssten die sein, dass weltweit, wegen Literatur … Ist doch für den Arsch. Sorry, sie sagte es bewusst provokant, Herr Professor Urbach, wenn wir die Welt retten wollten, dann säßen wir lang schon nicht mehr hier. Wenn wir es wirklich ernst meinten … Sie hielt inne. Er nutzte den Moment, um sich aufzurichten, von seinem Sessel, da war er gekauert, wie früher bei seinen Uniseminaren, Beine übereinandergeschlagen, Kinn in der Hand abgestützt, den Flaum seines leichten Barts massierend, als würde er angestrengt nachdenken, doch war er unter Strom, nervös, schwankend, ihm fielen Versatzstücke seines bildungsbürgerlichen Horizonts ein, er hätte vieles nun zitieren wollen (konnte er Büchner aus dem Stegreif? Es gerieten ihm Titel durcheinander), stattdessen knickte er ein, sah Floras gefasste Miene und sagte schlicht: Ja eh! Der Deutsch- und Geschichtelehrer Lorenz Urbach stammelte ein gut gemeintes, doch desaströses Ja-eh. Flora reagierte angeekelt. Nix ja eh!, schrie sie heraus. Lüge! Er versuchte zu kontern, wie sehr doch Bücher über bloße Handlungsaufforderungen hinaus die Fähigkeit zu Reflexion, zu Kritik … Toll, tat es Flora ab. Sollen die Despoten der Welt nun einfach einen guten Roman lesen und that’s it? – Nein, natürlich nicht … Er hauchte Ratlosigkeit in den Raum. Alle Augen auf ihn gerichtet, es wäre ein guter Moment gewesen, eigentlich sind das ja die Momente, die es braucht, pädagogischer Augenblick!, dachte er noch, doch schnürte ihm etwas die Luft ab. Ein Schwenk, fluchtartig, zu einer Floskel, durchschaubar naiv: Aber wenigstens du. Das ist doch was. Wenn du … Flora … diese Gedanken jetzt trägst, nicht? Der Zweifel ist gut. Und den hat doch das Buch hier ausgelöst … Mach was aus diesem Zweifel … Und sie zu ihm: Was haben denn Sie getan? Haben all die Dinge, die Sie lesen mussten, über die Sie referiert haben, die Sie hier uns weitergeben wollen, haben die DIESEN PLANETEN BESSER GEMACHT? Oder sagt uns das einfach nur: Lesen ist eh was Feines und da dürfen wir auch mal heulen und uns auskotzen, aber wenn wir den Umschlag zuklappen, ist alles wie davor. Ich find, das wär ehrlicher, wenn wir das sagen würden. Deutsch ist Deutsch und dann ist Pause, dann kommt Mathe und irgendwann läutet die Glocke und ein paar hundert Kilometer entfernt zerbomben die Menschen sich trotzdem weiter, und der Meeresspiegel eh schon wissen … Was haben Sie getan? Seit einem Monat trug er diese Frage bereits mit sich rum. Er schlief mit ihr ein, erwachte, sah verschämt an den Gesichtern vorbei, schlapfte furchtsam durch die Gänge, die gewohnten Wege wirkten auf ihn unerträglich lang, alles starrte auf ihn, die Mahnung groß plakatiert: WAS HABEN SIE GETAN? Meine Güte, kommentierte Klara, als sie Emmi nach dem Kletterkurs zu ihm brachte, jetzt lass dich nicht von einer Schülerin so runterziehen. War doch erwartbar. – Ja eh, gab er ihr Recht. Er hatte noch die verschwitzten Sachen vom langen Schultag an, voller Kaffeeflecken. Fertig sah er aus, dabei wollte er sich bemühen, vor Klara einen aufgeräumteren Eindruck zu machen (auch ein Begriff, der ihm zu schaffen machte: Ordne dich mal neu!). Sie meinte, das sei doch bloß Teenie-Protest einer Sechzehnjährigen im Weltschmerzfieber … Er mochte Klaras Art, die Dinge zu benennen, ihre Präzision, auch Nüchternheit. In ihm waren Gedankengänge umständlich ineinander verknotet. Er brauchte ewig für die einfachsten Alltagsanweisungen, bis Nervenimpulse zu einer linguistischen Minimalausdrucksweise, die Zungenmuskulatur endlich in Bewegung … – Lorenz … ist ja gut, fixierte Klara ihn. Sie kannte seinen Hang, sich in Dinge hineinzusteigern, genau deswegen hatten sie sich ja getrennt. Dann der Abschied, zwischen Tür und Angel. Meld dich, und Klara ging. Hallo Papa. – He, Emmi! Seine Tochter drückte ihm einen eingeübten Kuss auf die Wange, schlurfte mit ihrer Sporttasche an ihm vorüber in die Wohnung, in ihr Zimmer, das er endlich für sie eingerichtet hatte. Kannst gern alles umstellen, ist nur mal provisorisch, okay? Fühl dich frei, gab er ihr als Botschaft mit. Aber die Worte vergrößerten sich in seinem vorsommerlichen Müßiggang zu schweren Nominalkonstruktionen, das Freie, das Gute, er war gewaltig urlaubsreif. So stand er also in der letzten Schulwoche am Fenster, blickte durch fliegenverschissenes Glas über die Dächer des verwinkelten Schulgebäudes, die Stadt unter brütender Hitze, ständig fiel die Klimaanlage aus oder sie fehlte komplett, und am Eck des Ganges kauerte (sie hatte ihm gerade noch gefehlt!) Flora. Sie sah ihn (warum musste sie gerade jetzt herschauen?) und winkte. Er winkte zurück (hätte es gern unterlassen). Na, schon ferienreif? – Ja, sagte sie und nahm die Kopfhörer aus den Ohren, und Sie? – Auch. Morgen noch und dann bin ich weg. – Schön für...