E-Book, Deutsch, 975 Seiten
ISBN: 978-3-641-29310-9
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
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1 Judith Sie würde ganz sicher nicht ohne Begleitung zu dieser Taufe gehen, diesmal nicht. Mit klopfendem Herzen blickte Judith auf das vibrierende Telefon, das sie neben dem Waschbecken abgelegt hatte. Warum machte die ganze Angelegenheit sie nur derart nervös? Eva hatte in den vergangenen Tagen mindestens siebzehn Mal angerufen und ihre Mailbox mit endlosen Nachrichten bombardiert. Fast konnte man meinen, es ginge hier um etwas Wichtiges. Um eine Privataudienz bei der Queen zum Beispiel, oder wenigstens um eine neue Wunderdiät aus Hollywood, eine, bei der man schon beim bloßen Gedanken an Sport einen Hintern wie Beyoncé bekam. Aber natürlich ging es Eva weder um einen gesellschaftlichen Ritterschlag noch um Knackärsche, sondern vor allem darum, den Finger in die Wunde ihrer Zwillingsschwester zu legen. Unruhig schielte Judith auf das Display, das nun einen weiteren Anruf in Abwesenheit verzeichnete – und im nächsten Moment leuchtete auch schon eine Textnachricht auf. Bringst du diesmal jemanden mit? Judiths Magen krampfte sich unheilvoll zusammen. Einatmen, ausatmen. Wenn sie an den Tisch zurückkam, musste sie sich dringend ein zweites Glas Wein einschenken – selbst wenn Heiko sie dann für eine Schnapsnase hielt. Der erste Eindruck zählte, das wusste Judith nach zehn Jahren unzähliger erster Dates besser als jede andere. Aber sie wusste eben auch, dass ein kleines Alkoholproblem immer noch einfacher zu erklären war als das, was der Gedanke an ihre Zwillingsschwester mit ihr machte. Als hätte sie es geahnt, ließ Eva in diesem Moment die nächste Textnachricht auf Judiths Handy aufleuchten. Ich muss das dringend wissen. Wegen der Tischordnung! Die Tischordnung, natürlich. Judith spürte, wie sich ihr Puls noch einmal beschleunigte. Hastig drehte sie den Hahn auf, ließ das kalte Wasser über ihre Handgelenke laufen und schloss die Augen. »Sie meint es nicht böse. Sie meint es nicht böse …« Geradezu fieberhaft versuchte sie an das Mantra zu glauben, das ihr Frau Doktor Hufschneider vor ein paar Jahren in der Therapiestunde mit auf den Weg gegeben hatte – aber vergebens. Im Grunde kannte diese Frau sie doch überhaupt nicht! Die hatte so viel Ahnung von Eva wie ein Hafenarbeiter von Rousseaus pädagogischem Spätwerk. Das Verhältnis zu ihrer Zwillingsschwester war nun mal kompliziert – und zwar seit stolzen dreiunddreißig Jahren. Man konnte es leider nicht einfach durch ein paar Kalendersprüche in ein Kuschel-Rock-Konzert verwandeln. Bei der letzten Taufe vor zwei Jahren hatte Eva Judith an den Kindertisch gesetzt. »Weil du so gut mit Kindern kannst«, hatte sie gesagt und sich dann zu einer Freundin umgedreht, die trotz ihrer vierten Schwangerschaft aussah wie eine Brechbohne auf zwei Beinen. »Meine Schwester ist Lehrerin.« »Für die Mittelstufe, Eva«, hatte Judith mit einem hilflosen Blick auf die glucksenden Kleinkinder an dem abgelegenen Tisch erwidert. »Meine Schüler rauchen Schnürsenkel und onanieren heimlich in ihre Sportsocken!« Eva hatte nur schrill aufgelacht und ihrer perfekt frisierten Freundin zugezwinkert. »Den Lehrerjob hält man nur mit einer gehörigen Portion Humor durch.« Dann hatte sie Judith wortlos am Kindertisch stehen lassen. Doch diesmal würde ihr das nicht passieren, o nein, diesmal würde sie garantiert nicht am Lätzchen-Tisch landen und sich mit halb durchgekautem Brokkoli bewerfen lassen. Sie würde in Begleitung kommen und in ihrer aller Mitte sitzen, und wenn sie sich dafür einen Mann kaufen musste! Aber so weit würde es wohl glücklicherweise nicht kommen. Judith drehte den Hahn zu und hielt sich die Hände an die glühenden Wangen. Heiko da draußen am Tisch war vielleicht kein Volltreffer, aber zumindest auch kein Grund, sich zu schämen. Auf einer Skala von eins bis Jackpot war er mindestens eine passable Sechseinhalb, vielleicht sogar eine Sieben. Natürlich würde Eva bei seinem Namen sofort an Heiko Holst aus dem Bio-Leistungskurs denken, den rothaarigen, grunzenden Sohn des Fleischers, an den Judith ihre Unschuld verloren hatte, nachdem Eva ihr Max ausgespannt hatte. Aber damit konnte Judith umgehen, sie war darüber hinweg. Und erfreulicherweise hatte dieser Heiko hier rein gar nichts mit dem Heiko von damals gemein. Selbstverständlich konnte sie nicht sagen, ob er beim Sex Schweinelaute von sich gab und seine Kuscheltiere als Zuschauer auf den umliegenden Schränken drapierte – aber wenn alles einigermaßen nach Plan lief, konnte sie diese Fragen vielleicht noch heute Nacht klären. Konzentriert fuhr sie sich durch das dichte dunkelblonde Haar, damit es so aussah, als würde es ganz von alleine so lässig über ihre Schultern fallen, und zog sich die Lippen nach. Das hier war ihr Abend. Nichts und niemand konnte ihr heute das Gefühl nehmen, eine Göttin zu sein – erst recht nicht Eva und ihre blöde Tischordnung! »Dir hängt da ein Schwanz aus der Hose, Schätzchen.« Erschrocken zuckte Judith zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass jemand die Damentoilette betreten hatte, und sah jetzt ertappt in das aufgeschwemmte Gesicht der Putzfrau. Offenbar machte sie dabei nicht den intelligentesten Eindruck, denn im nächsten Moment stieß die Frau ein ungeduldiges Stöhnen aus, klemmte sich ihren Mopp unter den Arm und deutete mit ihrem fleischigen Finger auf Judiths Hintern. »Schwänzchen, da. An deinem Popo.« Als Judith den Kopf drehte, sah sie, was gemeint war. Tatsächlich hing eine nicht unbedeutend lange Bahn Klopapier aus dem hochgeschlossenen Bund ihrer neuen Hose. Solche Missgeschicke waren ihr früher ständig passiert – aber damals war sie ein ungelenkes Kind gewesen und keine Frau, die vorhatte, zum Dessert einen Mann zu vernaschen, den sie erst vor drei Tagen über ein Onlineportal kennengelernt hatte. Augenblicklich schrumpfte die Göttin, die eben noch in ihrem Inneren Salsa getanzt hatte, zu einem Meerschweinchen mit Silberblick und Hamsterbäckchen zusammen. Judith spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss und ihr Gesicht die Farbe einer glühenden Herdplatte annahm. Ungeschickt zupfte sie sich das Papier aus der Hose. »Ich … o Gott … danke …«, stammelte sie und versuchte dabei zu lächeln. »Kein Problem«, murmelte die Putzfrau und hielt mit einem Grinsen die Hand auf. »Wir Ladys müssen doch zusammenhalten.« »Ich hatte schon befürchtet, du wärst heimlich durch das Klofenster abgehauen.« Heiko lachte und tauchte ein Stück Brot in Olivenöl. »Normalerweise machen die Frauen das erst, wenn ich ihnen von meiner Vorliebe für Nacktgolf und Gunter Gabriel erzähle.« Er zwinkerte derart aufdringlich, dass Judith sich nicht sicher war, ob er wirklich nur einen Scherz machte. Trotzdem ließ sie sich zurück auf den Stuhl sinken und lachte, achtete dabei aber tunlichst darauf, den Mund nicht zu weit zu öffnen. Letztes Jahr hatte ihr ein Anwalt in einer schicken Yuppie-Bar gesagt, es sei vulgär, wenn die Frau beim Lachen zu viel Zahnfleisch zeigte. Es sei ein Zeichen dafür, dass sie leicht zu haben wäre und auch vor schmutzigen Ideen nicht zurückschreckte. Seitdem fiel es Judith schwer, sich beim Lachen so richtig fallen zu lassen. Sie wollte nicht, dass Heiko sie für vulgär hielt, und sie wollte auch nicht, dass er erkannte, wie leicht sie am Ende tatsächlich zu haben war. »Du bist also Lehrerin?« Judith nickte und war dankbar, als der Kellner die Vorspeisen brachte. »Stadtteilschule.« Heiko hob die Augenbrauen. »Heißes Pflaster, oder?« »Ich mag es, wenn es nicht langweilig wird.« »Fächer?« »Deutsch und Geschichte.« Überrascht hielt er im Kauen inne. »Echt jetzt? Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.« Judith quittierte seinen Kommentar mit einem verunsicherten Stirnrunzeln. »Na ja«, fuhr er fort. »Du siehst irgendwie viel … lebendiger aus. Nimm’s mir nicht übel, aber Deutsch und Geschichte klingt nach Mottenkugeln und Gebissreiniger.« Er lachte auf. Judith blieb vor Schreck ein Stück Rucola im Hals hängen. Sie hustete, aber das Salatblatt saß hartnäckig fest, bis sie es mit einem verzweifelt großen Schluck Weißwein hinunterspülte. Mottenkugeln und Gebissreiniger! Für wen hielt sich der Kerl eigentlich? Am liebsten wäre Judith aufgestanden und gegangen – ein Abgang in Würde und Selbstachtung, wie Frau Hufschneider es damals genannt hatte –, aber in ihrer Handtasche an der Stuhllehne vibrierte schon wieder ihr Handy. Carlas Taufe fand in nicht einmal vier Wochen statt. Selbstachtung war also ein Luxus, den sie sich jetzt leider nicht leisten konnte. Nach Ava und Bella war die kleine Carla bereits Evas drittes Kind in vier Jahren, und Judith hatte nicht vor zuzusehen, wie ihre Schwester ein ganzes Alphabet von Kindern in die Welt setzte, während sie selbst nicht mal in der Lage war, einen vernünftigen Mann kennenzulernen. Also gab sie sich einen Ruck und Heiko noch eine Chance. »Und nach welchem Fach sehe ich deiner Meinung nach aus?« Heiko musterte sie einen Augenblick, aber Judith hatte nicht das Gefühl, dass er dabei sonderlich nervös wirkte. Schließlich griff er sich die Weinflasche, füllte Judiths Glas ein weiteres Mal bis zum Rand und verzog den linken Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen. »Banküberfall«, flüsterte er und zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Judith klammerte sich vorsichtshalber an ihrem Weinglas fest. »Banküberfall ist kein Unterrichtsfach.« »Na und?«, erwiderte Heiko und beugte sich über den Tisch zu ihr....