Atwood / Blixen / Schalansky | Ein Haus mit vielen Zimmern | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 27, 192 Seiten

Reihe: edition fünf

Atwood / Blixen / Schalansky Ein Haus mit vielen Zimmern

Autorinnen erzählen vom Schreiben
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-942374-74-3
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Autorinnen erzählen vom Schreiben

E-Book, Deutsch, Band 27, 192 Seiten

Reihe: edition fünf

ISBN: 978-3-942374-74-3
Verlag: edition fünf
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ich schreibe, also bin ich Schriftstellerin: Wenn es so einfach wäre, gäbe es die Geschichten in dieser Sammlung nicht. Ist Dichten das große Glück, ein großer Kraftakt - oder beides? Wie entstehen Ideen, aus welchen Situationen und Begegnungen schöpfen Autorinnen ihre Inspiration? Wie finden sie ihre Form? Und wie ergeht es Schriftstellerinnen im Literaturbetrieb?

In den Erzählungen, Essays und Gedichten dieses Bandes lassen sich die Autorinnen beim Schreiben über die Schulter gucken. Sie entwerfen Geschichten zu dem Thema, beschreiben die Beziehung zu ihren Figuren, besingen ihre Arbeit mit der Sprache, denken über die Wirkung von Worten und Geschichten nach und plaudern aus der Werkstatt der Büchermacherin. Sie äußern sich über den Beruf, mit dem sie sich ihren Lebensunterhalt und bisweilen auch Ruhm verdienen, und über die Hürden, die zu überwinden sind, wenn sie sich als Frauen, die schreiben, treu bleiben wollen. Humorvoll, selbstkritisch und geistreich und immer unterhaltsam gewähren sie Einblicke in die Arbeit von Autorinnen und das Verhältnis von Schreiben und Leben.

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Am alten Stadttor saß eine kaffeebraune, schwarz verschleierte Greisin, die vom Geschichtenerzählen lebte. Sie sagte: »Wollt ihr eine Geschichte hören, gnädige Dame, werter Herr? Wahrhaftig, ich habe schon viele Geschichten erzählt, tausendundeine, seit jener Zeit, als ich mir selbst noch von jungen Männern Geschichten erzählen ließ von einer roten Rose, zwei glatten Lilienknospen und vier seidigen, geschmeidigen, tödlich verschlungenen Schlangen. Es war die Mutter meiner Mutter, die schwarzäugige Tänzerin, die vielumarmte, die es sich auf ihre alten Tage – als sie schon schrumpelig war wie ein Winteräpfelchen und sich hinter dem barmherzigen Schleier verkroch – zur Aufgabe machte, mich die Kunst des Geschichtenerzählens zu lehren. Die Mutter ihrer Mutter hatte sie darin eingeweiht, und die beiden waren bessere Geschichtenerzähler als ich. Aber das ist jetzt nicht mehr von Belang, denn sie und ich sind für die Leute eins geworden, und so erweist man mir höchste Ehren, weil ich nun seit zweihundert Jahren Geschichten erzähle.« Wenn sie aber reichlich entlohnt wird und bei guter Laune ist, wird sie mit ihrer Geschichte anfangen. »Bei meiner Großmutter«, sagte sie, »bin ich durch eine harte Schule gegangen. ›Bleib der Geschichte treu‹, sagte die alte Vettel immer zu mir. ›Bleib stets und unbeirrbar der Geschichte treu.‹ – ›Warum soll ich das tun, Großmutter?‹, fragte ich sie. ›Muss ich dir auch noch die Gründe liefern, nichtsnutziger Fratz?‹, schrie sie. ›Und du willst Geschichtenerzählerin sein! Nun, du sollst Geschichtenerzählerin werden, und ich werde dir sagen, warum! So höre denn: Wo der Geschichtenerzähler stets und unbeirrbar seiner Geschichte treu bleibt, spricht am Ende die Stille. Wo aber die Geschichte verraten wird, ist Stille nichts weiter als Leere. Aber wir, die wir an die Geschichte glauben, werden, wenn wir unser letztes Wort gesprochen haben, die Stimme der Stille vernehmen. Ob so ein kleiner Grünschnabel das nun versteht oder nicht.‹ Wer erzählt denn«, fährt sie fort, »bessere Geschichten als irgendeine von uns? Die Stille. Und wo liest man eine tiefsinnigere Geschichte als auf der meisterhaft gedruckten Seite des kostbarsten Buchs? Auf der leeren Seite. Wenn eine Erzählung im Augenblick höchster Inspiration einer königlichen und kundigen Feder entfloss und in der allerfeinsten Tinte niedergeschrieben wurde – wo in der Welt gibt es dann etwas noch Tiefsinnigeres, Rührenderes, Lustigeres und Grausameres zu lesen? Auf der leeren Seite.« Ein Weilchen sagt die Alte nichts, kichert nur ein wenig und mümmelt mit ihrem zahnlosen Mund. »Wir«, fährt sie endlich fort, »die alten Frauen, die Geschichten erzählen, kennen die Geschichte von der leeren Seite. Aber allzu gern erzählen wir sie nicht, denn sie könnte leicht unserem Ansehen bei den Uneingeweihten schaden. Dennoch will ich bei euch, schöne, gnädige Dame und hochherziger Herr, eine Ausnahme machen: Ich werde sie euch erzählen.« »Hoch oben in den blauen Bergen von Portugal steht ein altes Nonnenkloster der Karmeliter, eines angesehenen und strengen Ordens. In alten Zeiten war es wohlhabend, die Nonnen waren alle Edelfräulein, und Wunder geschahen dort. Aber mit den Jahrhunderten ließ die Begeisterung hochgeborener Damen für das Fasten und das Beten nach, und üppige Aussteuern flossen nur noch spärlich in die klösterliche Schatzkammer. Heute bewohnen die wenigen mitgiftlosen und ärmlichen Schwestern nur noch einen Flügel des ausgedehnten verfallenden Gemäuers, das aussieht, als sehnte es sich danach, eins zu werden mit dem grauen Felsuntergrund, auf dem es steht. Dennoch sind sie noch immer eine muntere und regsame Schwesternschaft. Sie halten voll Freude ihre heiligen Andachten und kommen emsig jener einen, besonderen Aufgabe nach, die dem Kloster einst, vor langer, langer Zeit, ein seltenes und merkwürdiges Privileg eintrug: Sie bauen den feinsten Flachs an und stellen das erlesenste Linnen von Portugal her. Das langgestreckte Feld unterhalb des Klosters wird von sanftäugigen, milchweißen Ochsen gepflügt und die Saat von geübten, jungfräulichen Händen, voller Schwielen und mit Erdrändern unter den Fingernägeln, ausgesät. Zur Zeit der Flachsblüte wird das ganze Tal duftig blau, so blau wie die Schürze, welche die Heilige Jungfrau sich umband, als sie im Hühnerhof der heiligen Anna Eier einsammeln wollte, just bevor der Erzengel Gabriel sich mit mächtigen Flügelschlägen auf die Schwelle des Hauses herniederließ und während hoch, hoch oben eine Taube mit gesträubtem Nackengefieder und bebenden Flügeln wie ein kleiner, klarer Silberstern am Himmel stand. In diesem Monat heben die Dorfbewohner im Umkreis von Meilen die Augen zum Flachsfeld empor und fragen einander: ›Ist das Kloster in den Himmel gehoben worden? Oder ist es unseren lieben kleinen Schwestern gelungen, den Himmel zu sich herunterzuholen?‹ Später, zu gegebener Zeit, werden die Flachspflanzen gerauft, geschwungen und gehechelt, wird der feine Faden gesponnen, das Leinen gewebt und zuallerletzt das Tuch zum Bleichen aufs Gras gelegt und wieder und wieder gewässert, bis man glauben könnte, rund um die Klostermauern sei Schnee gefallen. All diese Arbeiten werden voll Sorgfalt und Gottesfurcht und unter Besprengungen und Gebeten ausgeführt, deren Geheimnis nur die Klosterfrauen kennen. Deshalb ist das Leinen, das in Ballen hoch auf die Rücken kleiner grauer Esel gepackt und durchs Klostertor hinaus und hinunter, immer tiefer hinunter in die Städte geschickt wird, so blütenweiß, glatt und zart, wie meine eigenen kleinen Füße es waren, als ich sie mit vierzehn Jahren im Bach wusch, um zum Tanz ins Dorf zu gehen. Fleiß, meine verehrten Herrschaften, ist etwas Gutes, und Glaube auch, aber der allererste Keim einer Geschichte entstammt stets einem mystischen Ort außerhalb der Geschichte selbst. Und so bezieht das Linnen des Convento Velho seinen wahren Wert daher, dass der allererste Leinsamen von einem Kreuzfahrer aus dem Heiligen Lande mitgebracht wurde. Wer lesen kann, erhält in der Bibel Kunde von den Ländern von Lecha und Marescha, in denen Flachs angebaut wird. Ich selbst kann nicht lesen und habe dieses Buch, von dem so viel die Rede ist, noch nie gesehen, aber die Großmutter meiner Großmutter war als kleines Mädchen der Liebling eines alten jüdischen Rabbi, und das Wissen, das sie von ihm erhielt, ist in unserer Familie bewahrt und weitergegeben worden. So können Sie im Buch Josua nachlesen, wie Achsa, die Tochter des Kaleb, von ihrem Esel stieg und zu ihrem Vater sprach: ›Gib mir eine Segensgabe; denn du hast mich nach dem dürren Südland gegeben; gib mir auch Wasserquellen!‹ Und da gab er ihr die oberen und die unteren Quellen. Und auf den Feldern von Lecha und Marescha lebten später die Familien derer, die das feinste Linnen von allen wirkten. Unser portugiesischer Kreuzfahrer, dessen eigene Vorfahren einst zu den berühmten Leinenwebern von Tomar gehört hatten, erkannte, als er über ebendiese Felder ritt, voll Staunen die Qualität des Flachses und band daher ein Säckchen mit Leinsamen an seinen Sattelknauf. Diesem Umstand verdankt das Kloster sein wichtigstes Privileg, das darin bestand, allen jungen Prinzessinnen der königlichen Familie die Brautlaken zu liefern. Ihr müsst wissen, verehrte Herrschaften, dass im Lande Portugal in sehr alten und vornehmen Familien ein ehrwürdiger Brauch gepflegt wurde. Am Morgen nach der Hochzeit einer Tochter des Hauses und noch vor der Überreichung der Morgengabe hielt der Kammerherr oder Haushofmeister von einem Balkon des Palastes aus das Laken der Hochzeitsnacht hoch und verkündete feierlich: ›Virginem eam tenemus. – Wir erklären ihre Jungfernschaft als erwiesen.‹ Ein solches Laken wurde danach niemals mehr gewaschen noch jemals wieder aufgezogen. Dieser altehrwürdige Brauch wurde nirgends strenger befolgt als bei Hofe selbst und hielt sich dort bis in die jüngste Zeit. Nun besaß das Kloster in den Bergen aber in Anerkennung der vorzüglichen Qualität des von ihm gelieferten Linnens viele Hundert Jahre lang ein zweites Privileg: Das Mittelstück des schneeweißen Lakens, welches von der Ehre einer königlichen Braut Zeugnis ablegte, gelangte in seine Obhut zurück. Im hohen Hauptflügel des Klosters, von wo der Blick über eine unendliche Weite von Hügeln und Tälern geht, befindet sich eine lange Galerie mit schwarz-weißem Marmorfußboden. An den Wänden der Galerie hängen in langer Reihe nebeneinander schwere, vergoldete Rahmen, jeder mit einem Schild aus purem Gold geschmückt, in das eine Krone und der Name einer Prinzessin eingraviert sind: Donna Christina, Donna Ines, Donna Jacintha Lenora, Donna Maria. Und jeder dieser Rahmen umschließt einen viereckigen Ausschnitt aus einem königlichen Hochzeitslaken. Aus den verblassten Flecken...



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