Buch, Deutsch, Band 943, 429 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 214 mm, Gewicht: 544 g
Reihe: Campus Forschung
Europäische Sozialpolitik aus soziologischer Perspektive
Buch, Deutsch, Band 943, 429 Seiten, Format (B × H): 143 mm x 214 mm, Gewicht: 544 g
Reihe: Campus Forschung
ISBN: 978-3-593-39153-3
Verlag: Campus
Stefan Bernhard untersucht die europäische Sozialpolitik aus soziologischer Sicht. Anhand der Entstehung der Inklusionspolitik zeigt er, wie sich die EU schrittweise die Kompetenz zur Definition von Kategorien, Begriffen und statistischen Instrumenten angeeignet hat. In direktem Wettbewerb mit den Mitgliedsstaaten arbeitet sie an der Konstruktion eines einheitlichen europäischen Sozialraums, der an die Seite des europäischen Wirtschaftsraums treten kann.
Ausgezeichnet mit dem Dissertationspreis 2010 der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Kultur Politische Soziologie und Psychologie
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Wohlfahrtsökonomie
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Europäische Union, Europapolitik
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Politische Soziologie
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Sozialpolitik
Weitere Infos & Material
Inhalt
1. Einleitung
2. Politikwissenschaft und politische Wissenssoziologie
2.1 Einleitung
2.2 Rationalismus und Konstruktivismus in der Governance-Forschung
2.3 Vom Konstruktivismus zur politischen Soziologie des Wissens
3. Symbolische Herrschaftsbeziehungen in sozialen Feldern
3.1 Einleitung
3.2 Eine vertikale Annäherung an symbolische Herrschaftsbeziehungen
3.3 Feldanalyse als Forschungsprogramm: Eine horizontale Annäherung
3.4 Feldanalyse und die Analyse symbolischer Herrschaftsbeziehungen
4. Erkenntnishindernisse der feldtheoretischen Forschung
4.1 Einleitung
4.2 Erkenntnishindernisse und Soziologie
4.3 Felder als Objektkonstruktionen
4.4 Der Bruch mit der methodengetriebenen Erkenntnis
4.5 Zweifacher Bruch und soziologische Erkenntnis
5. Die Genese des Feldes
5.1 Einleitung
5.2 Der europäische Binnenmarkt als neoliberales Projekt deutscher Prägung
5.3 Der Bruch im Binnenmarktparadigma: Das ›menschliche Gesicht‹
5.4 Die Entdeckung der Armut
5.5 Die Bildung der Kapitalsorten
5.6 Von der Feldwerdung
6. Die Ausweitung des Feldes
6.1 Einleitung
6.2 Die symbolische Konfliktlinie ›Binnenmarkt‹ vs. ›Solidarität‹
6.3 Auf dem Weg zum Feld der Ausgrenzungspolitik
6.4 Der Kampf gegen Ausgrenzung im europäischen Integrationsprozess
7. Die Sedimentierung der Ausgrenzungspolitik
7.1 Einleitung
7.2 Europäische Integration und amerikanisch-neoliberaler Grundkonsens
7.3 Die Sedimentierungsphase des Feldes
7.4 Ausgrenzungspolitik und amerikanisch-neoliberaler Grundkonsens
8. Das Feld der Inklusionspolitik
8.1 Einleitung
8.2 Die Bedingungen symbolischer Kämpfe in der Lissabon-Ära
8.3 Das Inklusionsfeld
8.4 Die Dynamik im Feld der Inklusionspolitik
9. Die europäische Sozialpolitik aus der Perspektive der politischen Soziologie des Wissens
9.1 Einleitung
9.2 Informationelles Kapital: Die Wissenschaft im Forschungsgegenstand
9.3 Forschungsgegenstand Wissenschaft - Der Gewinn des Perspektivwechsels
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Liste der geführten Interviews
Literatur
1. Einleitung
"A sizable part of the Union's population remains socially excluded, since 16% of Europe's population is at risk of financial poverty, one in five lives in sub-standard housing, 10% live in households where nobody works, long-term unemployment approaches 4% and the proportion of early school leavers is over 15%." (CEC 2007a: 2)
Das Zitat beschreibt soziale Problemlagen im gegenwärtigen Europa. Wir erfahren etwas über das Phänomen der sozialen Ausgrenzung, dass es existiert und dass es die Bevölkerung in Form von finanzieller Armut, Wohnungsproblemen, Arbeitslosigkeit und Bildung in unterschiedlichem Ausmaß betrifft. Damit scheint die Textpassage keineswegs außergewöhnlich. Dennoch sind zumindest drei Punkte bemerkenswert. Der erste Punkt ist, dass so unterschiedliche Probleme wie Armut, Wohnsituation, Arbeitslosigkeit und Bildung unter dem Obergriff der sozialen Ausgrenzung zusammengefasst werden; der zweite ist, dass sich die statistischen Kennzahlen auf die gesamte Bevölkerung Europas beziehen und nicht etwa auf einzelne Mitgliedstaaten; und schließlich ist erwähnenswert, dass es die Europäische Kommission selbst ist, die hier in einem offiziellen Dokument spricht und nicht etwa ein Wissenschaftler, der seine Forschungsergebnisse vorstellt. Die zitierte Beobachtung steht im Kontext einer langen und wechselhaften Entwicklung, die sie ermöglicht und die ihr Sinn verleiht. In den vorangegangenen vier Jahrzehnten hat sich ein europäisches Politikfeld entwickelt, in dem soziale Probleme routinemäßig als Teile eines zentralen Ausgrenzungsphänomens thematisiert werden und in dem die Beschreibungen zunehmend mit Statistiken fundiert werden, die die Europäische Union als ein soziales Ganzes fassbar machen. So kann man das Zitat tatsächlich als etwas ansehen, das unter spezifischen sozialen Möglichhkeitsbedingungen eine ganz gewöhnliche Äußerung geworden ist.
Die Intention der Untersuchung
Diese Arbeit ist aus der Überzeugung entstanden, dass solche Fragen bisher nicht genügend wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben und dies, obwohl sie für die Wahrnehmung und Entwicklung der europäischen Gesellschaft, in die wir hineinwachsen, nicht unerheblich sind. Es scheint fast so, als fielen sie zwischen den Interessenprofilen der beiden Disziplinen, die sich ihnen widmen könnten, wie durch ein grobmaschiges Sieb hindurch. Die Politikwissenschaft auf der einen Seite stellt diese Fragen nicht, weil sie ihr sekundär erscheinen. Die Soziologie auf der anderen Seite beschäftigt sich primär mit den Veränderungen der nationalen Gesellschaften in Europa sowie mit horizontalen Transnationalisierungsprozessen, die diese verändern. Die Institutionenbildung und -dynamik der EU wird oft mit falscher Bescheidenheit der Politikwissenschaft überlassen. In dieser Arbeit wird der Instrumentenkasten der Soziologie auf einen Gegenstand angewendet wird, der bisher überwiegend politikwissenschaftlich betrachtet worden ist. Die politische Soziologie, die dabei entsteht, hat zur Aufgabe, die Integration Europas mit anderen theoretischen Begriffen und - wo nötig - auch mit anderen empirischen Methoden zu durchleuchten. Sie zeigt, was der bisherigen Forschung entgangen ist und warum dieser Verlust nicht hingenommen werden kann.
Was sind die sozialen Bedingungen der Möglichkeit des obigen Zitats? Diese Arbeit untersucht die Möglichkeitsbedingungen solcher und vergleichbarer Aussagen als Produkte eines emergierenden europäischen Politikfeldes. Anders formuliert geht es darum, die Entstehung und Veränderung des Komplexes aus Institutionen, Akteuren und Logiken der symbolischen Positionierungen zu rekonstruieren, die die Behandlung sozialer Probleme im Themenbereich von Armut, sozialer Ausgrenzung und Inklusion in der Europäischen Union möglich gemacht haben. Dabei soll im Einzelnen gezeigt werden,ik aus den ersten sozialpolitischen Impulsen des europäischen Integrationsprozesses herausgebildet hat. Dieser Entwicklungsprozess ist ein äußerst voraussetzungsvoller Vorgang, bei dem es nicht nur darum geht nachzuvollziehen, welche Beobachtungen auf europäischer Ebene gemacht werden, sondern auch darum, wer sie anstellt und nach welcher Logik die Beobachtungsleistungen produziert werden. Das Phänomen besteht aus zwei parallelen Konstruktionsprozessen, die sich gegenseitig bedingen: In dem Maße, wie neue Problemwahrnehmungskategorien konstruiert werden, entsteht aus den relationalen Positionierungen der Akteure, die dabei mitwirken, ein sozialer Raum beziehungsweise ein soziales Feld. In dem Maße, wie sich ein Raum von Produzenten herausbildet, kann sich eine produktive Konfliktlogik einstellen, mit der sich die Bewegungen der Akteure im sozialen Raum sowie ihre Produktionsleistungen verstehen lassen.
Mit dem Feldbegriff schließt diese Untersuchung an die Arbeiten von Pierre Bourdieu an. Ein maßgeblicher Gedanke in dessen Werk ist die Überzeugung, dass der Soziologe dem Wesen des Sozialen nur durch gezieltes Fragen auf den Grund gehen kann. Bourdieu geht in der Tradition der französischen Epistemologie davon aus, dass soziologische Erkenntnis nur durch den Bruch mit der Alltagserkenntnis gewonnen werden kann (Bourdieu, Chamboredon und Passeron 1991). Der soziologische Blick muss sich soweit vom ›naiven‹ Blick unterscheiden, dass er diesen zu seinem Forschungsgegenstand machen kann. Das Instrument dieser Distanzierung ist die wissentliche Konstruktion eines Forschungsobjekts, mit dem Wahrnehmungsobjekte erzeugt und sinnvoll kontextualisiert werden können. Für die hier betriebene Feldanalyse ist es daher unerlässlich, sich einen Begriff davon zu machen, was ein Feld ist und wie es funktioniert. Forschungspragmatisch gesehen stellt die Objektkonstruktion des Feldes sowohl die Heuristik vor, die den Forscher in der Forschungspraxis mit Forschungsinteressen und Anschlussfragen versorgt, als auch die Theorie der Funktionsweise des Sozialen, die er dabei voraussetzt. Wenn im Folgenden von der Emergenz eines politischen Feldes die Rede ist, heißt das, dass nicht erst mit der Feststellung begonnen wird, die Politik konstruiere ihre Gegenstände. Es heißt, dass wir uns auch mit der Konstruktion der Konstrukteure beschäftigen, und es heißt, dass wir den Blick von der Gegenwart der sozialen Praxis auf ihren Ursprung richten. Die Feldtheorie ist eine Heuristik, die das Soziale historisiert. Sie stellt der Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit, mit der sich die Alltagserfahrung aufdrängt, die systematische Dekomposition der Verhältnisse als geworden und gemacht gegenüber. Die Überlegungen zur Feldtheorie sowie die methodologischen Überlegungen zur Feldanalyse werden im dritten und im vierten Kapitel der Arbeit vorgestellt.
Zu welcher Art von Forschung gelangt man, wenn man die europäische Institutionenbildung im Bereich Inklusionspolitik als politisches Feld untersucht, das sowohl die Produktion von Kategorien als auch die Konstruktion des sozialen Raums der Kategorienproduzenten umfasst? Die Antwort verweist darauf, dass das Inklusionsfeld einer der Orte ist, an dem die chronisch vorauseilende rechtliche und wirtschaftliche Integration Europas mit einer "symbolischen Ordnung" eingefangen wird (Münch 2006). Es verhandelt nicht zuletzt die Frage, wie die Gesellschaft, die aus der wachsenden transnationalen Transaktionsdichte in Europa entsteht, an zentraler Stelle abgebildet und für die Selbstbeschreibungen der Gesell-schaftsmitglieder handhabbar wird. In unzähligen Mitteilungen, Projekt-finanzierungen, Stellungnahmen, Arbeitskontakten und Willensbekun-dungen schafft das Feld Wissen über die sozialen Probleme Europas und konstitutiert zugleich die Realität dieser Probleme. Die Feststellung, dass die sozialen Probleme nicht nur beschrieben werden, sondern selbst Ergest auf eine forschungsstrategische Grundsatzentscheidung der Untersuchung hin. Das Wesen des Feldes der Inklusionspolitik lässt sich nur begreifen, wenn die Frage nach dem ›ech-ten‹ Ausmaß der sozialen Probleme erst einmal zurückgestellt wird. Es sind eben nicht die Veränderungen ›realer‹ Probleme, die eine europäische Beschreibung notwendig machen. Es sind vielmehr die europäischen Konstruktionsleistungen, die soziale Problemlagen wahrnehmbar und kognitiv verwertbar machen und die sie damit gezielten politischen Interventionen zuführen. Die politische Soziologie des Wissens sieht das Feld der Inklusionspolitik nicht als unausweichlichen, notwendigen Reflex auf feldexterne ›wirkliche‹ Begebenheiten, sondern als eigendynamischen Kosmos von Wirklichkeitsrepräsentationen, die im Wettstreit von feldinternen Akteuren vorgebracht werden.
Als erste Konsequenz dieser Perspektive kann festgehalten werden, dass die feldinternen Problemdefinitionen, Lösungsvorschläge, Ursachenanalysen und Wissensbestände zur sozialen Situation Europas und zu den Politiken der Mitgliedstaaten als eigenständige symbolisch-politische Gegenstände zu betrachten sind. So gesehen geht es im einleitenden Zitat nicht um die tatsächliche Armutsquote in der EU, also darum, ob sie bei 16 Prozent oder bei 15 Prozent liegt, ob sie steigt oder sinkt, wie Armut zu bestimmen ist und Ähnliches, sondern um die Tatsache, dass dieses Wissen von einem europäischen politischen Akteur mit dem Anspruch vorgetragen wird, die soziale Lage der Raumeinheit ›Europa‹ zu beschreiben. Es wird zu zeigen sein, dass die Übergänge von der Beobachtung der Mitgliedstaaten zum Vergleich der Mitgliedstaaten und schließlich zur Behandlung Gesamteuropas als neuer Zurechnungseinheit eine stillschweigende Ambition der symbolischen Konstruktionen der Inklusionspolitik und ähnlicher europäischer Politikfelder ist. Sie wird in dem Maße deutlicher, wie der Emergenzprozess der Felder zum Abschluss kommt. Mit dieser ersten Konsequenz ist eine zweite eng verbunden. Aus der Eigenständigkeit des politischen Feldes folgt, dass es sich um einen Forschungsgegenstand handelt, dem eo ipso wissenschaftliche Aufmerksamkeit gebührt. Diese These steht in direktem Gegensatz zur politikwissenschaftlich angelegten Forschung, die unabhängig von ihrer axiomatischen Ausrichtung die europäische Inklusionspolitik überwiegend im Hinblick auf ihre (potenzielle) Wirkung auf die nationale Politik untersucht. Eine detailliertere Positionierung gegenüber dem einschlägigen Forschungsstand wird im anschließenden zweiten Kapitel vorgenommen.
Eine weitere Konsequenz der Umstellung der Forschungsperspektive bezieht sich auf das Wesen der Politik. Inklusionspolitik in der EU entfaltet sich in einer unauflöslichen Verflechtung mit wissenschaftlicher Wahrheitsproduktion. Der Bourdieu'sche Kapitalbegriff eignet sich in idealer Weise dazu, die Entstehung und wechselnde Bedeutung von Wissenschaft und Politik in der Entwicklung des Inklusionsfeldes theo-retisch und empirisch zu fassen. So wird deutlich, dass Wissenschaft zwar von Beginn an eine wichtige Rolle in der europäischen Armutspolitik spielt, dass die Formen der Vermengung von Politik und Wissenschaft seit Mitte der 1970er Jahre aber erheblichen Wandlungs- und Differen-zierungsprozessen unterworfen sind. Die Wissenschaft übernimmt neue Aufgaben, für die sie neue Allianzen unter veränderten institutionellen Rahmenbedingungen schmiedet. Das Monitoringkapital, das seit dem Jahr 2000 die wissenschaftliche Wahrheitssuche mit dem politischen Impuls verbindet, einen normativen Druck auf die Mitgliedstaaten auszuüben, ist hierfür ein Beispiel. Das informationelle Kapital, mit dem sich quanti-fizierende Situationsbeschreibungen im Stile des einleitenden Zitats herstellen lassen, ist ein anderes Beispiel.
Die europäische Politik zeitigt spezifische Effekte. So wie sie sich in der Inkig an der Monopolisierung der physischen Gewalt, umso mehr aber an der Monopolisierung der symbolischen Gewalt (Bourdieu 1999). Bei der Monopolisierung von symbolischer Gewalt können Kompetenzen zu kollektiv-bindenden Entscheidungen helfen, eine notwendige Voraussetzung sind sie jedoch nicht. Die Geschichte des Inklusionsfeldes dokumentiert, wie die Europäische Union symbolisches Kapital gerade dadurch anhäuft, dass sie einen Subsidiaritätsreflex der Nationalstaaten im europäischen Mehrebenensystem vermeidet. Man setzt darauf, auf europäischer Ebene Möglichkeiten und Anschlüsse zur Wissensproduktion zu schaffen, und man legt die Institutionen so an, dass sie niemandem etwas wegnehmen, sondern jedermann etwas anbieten.