Buch, Deutsch, 397 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 546 g
Regionale Gemeinschaftsgüter in Geschichte, Politik und Planung
Buch, Deutsch, 397 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 215 mm, Gewicht: 546 g
ISBN: 978-3-593-39012-3
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Systeme Kommunal-, Regional-, und Landespolitik
- Wirtschaftswissenschaften Wirtschaftssektoren & Branchen Energie- & Versorgungswirtschaft Elektroindustrie
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Sozialpolitik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Umwelt- und Gesundheitspolitik
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Gesundheitsökonomie
- Wirtschaftswissenschaften Volkswirtschaftslehre Regional- und Städtische Wirtschaft
- Geowissenschaften Geographie | Raumplanung Regional- & Raumplanung Stadtplanung, Kommunale Planung
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte Deutsche Geschichte: Regional- & Stadtgeschichte
Weitere Infos & Material
Inhalt
Vorwort 7
Einführung
1. Gemeinschaftsgüter im Dienst der Regionalentwicklung: Eine Einführung
Timothy Moss, Rita Gudermann 11
Gemeinwohl und Gemeinschaftsgüter – ein theoretischer Rahmen
2. Zur Renaissance der Gemeinschaftsgut- und Gemeinwohlforschung
Timothy Moss, Rita Gudermann und Andreas Röhring 31
3. Infrastruktursysteme und Kulturlandschaften – Gemeinschaftsgut- und Gemeinwohlfunktionen
Ludger Gailing, Timothy Moss und Andreas Röhring 51
4. Synthese I: Von der Theorie zur Empirie
Timothy Moss, Ingrid Apolinarski, Christoph Bernhardt, Ludger Gailing und Andreas Röhring 75
Empirische Befunde im Raum Berlin-Brandenburg
5. Die Grenzen der sanitären Moderne – Aufstieg und Krise der Wasserpolitik in Berlin-Brandenburg 1900–1937
Christoph Bernhardt 85
6. Wassermangel im Überfluss – zum Spannungsverhältnis von Infrastruktur- und Wasserhaushaltsproblemen
Markus Wissen 115
7. Gemeinschaftsgutprobleme der Kulturlandschaft in der DDR
Ingrid Apolinarski 153
8. Kulturlandschaften als regionale Entwicklungspotentiale – integriertes Handeln und sektorale Gemeinwohlziele
Ludger Gailing, Andreas Röhring 181
9. Synthese II: Aktuelle Herausforderungen und historische Entwicklungslinien im Raum Berlin-Brandenburg
Heiderose Kilper, Christoph Bernhardt 223
Perspektiverweiterungen
10. Gemeinwohlorientierung und Planungstheorie
Uwe Altrock 237
11. Gemeinwohl und Kommunalwirtschaft aus europäischer Sicht
Gerold Ambrosius 265
12. Parzellen, Allmenden, Zwischenräume – Raumplanung durch Eigentumsgestaltung
Benjamin Davy 293
13.Gemeinwohldiskurse in Umweltkonflikten: Das Beispiel Bayern (1945–1980)
Ute Hasenöhrl 331
Schlussfolgerungen
14. Synthese III: Im Sinne des Gemeinwohls – zur Bedeutung raumwissenschaftlicher Gemeinschaftsgutanalysen
Christoph Bernhardt, Heiderose Kilper 371
Abkürzungen 385
Abbildungsverzeichnis 389
Tabellenverzeichnis 391
Autorinnen und Autoren 393
4 Synthese I: Von der Theorie zur Empirie
Timothy Moss/Ingrid Apolinarski/Christoph Bernhardt/Ludger Gailing/Andreas Röhring
4.1 Zwischenresümee
Ziel der vorangegangenen Theoriekapitel war es, am Beispiel der regionalen Infrastruktur- und Kulturlandschaftspolitik den Ertrag neuer Erkenntnisse aus der Gemeinschaftsgut- und Gemeinwohlforschung für die Raumwissenschaften aufzuzeigen. Das nun folgende Kapitel dient der Überleitung von der Theorie zur Empirie. Hierfür sollen zunächst die wichtigsten Ergebnisse der bisherigen Analyse in Form forschungsleitender Thesen formuliert werden:
Erstens liefern aktuelle Debatten zu Gemeinschaftsgütern und Gemeinwohl wichtige neue Perspektiven und Erkenntnisse zur Steuerung der Raumentwicklung. Debatten um das Gemeinwohl sind als Zeichen von Umbruchsituationen zu werten, in denen das Verhältnis zwischen privaten und kollektiven Interessen als gestört betrachtet und neu justiert werden muss. Die Bestimmung und Durchsetzung öffentlicher Belange sind zentrale Gegenstände jeder Raumentwicklungspolitik, sie wurden bisher in der raumwissenschaftlichen Literatur jedoch oft nur implizit oder stark normativ behandelt. Gerade heute, da beispielsweise die Bestandteile und Bereitstellungsformen von Infrastruktursystemen in Frage gestellt und die Potentiale von Kulturlandschaften für eine qualitative Regionalentwicklung erkannt werden, sind fundierte Kenntnisse über die Eignung bestimmter institutioneller Arrangements zur Steuerung dieser öffentlichen Güter von besonderem Wert.
Zweitens bietet die Gemeinschaftsgutforschung ein bewährtes analytisches Gerüst zur Untersuchung spezifischer Gütereigenschaften. Anhand nutzungsbezogener Merkmale (Rivalität, Ausschließbarkeit) lassen sich Güterkategorien wie rein öffentliche, private, Allmende- und Clubgüter bilden und durch die damit verbundene Komplexitätsreduzierung grundlegende Probleme des Akteursverhaltens identifizieren. Neue Aussagekraft bekommt die Gemeinschaftsgutforschung heute durch ihre sozialwissenschaftliche Öffnung. Danach sind Gemeinschaftsgüter nicht mehr nur anhand von Rivalität und Ausschließbarkeit zu bestimmen, sondern vor allem durch Prozesse der sozialen Konstruktion. Auf diese Weise rückt ein Teil der Gemeinschaftsgutforschung näher an den normativ geladenen Begriff des Gemeinwohls heran. Aus der Analyse der Eigenschaften einzelner Güter und ihrer sozialen Konstruktion lassen sich potentiell geeignete Optionen für institutionelle Regelungen ableiten. So verlangen technische Infrastruktursysteme – als Netzwerkgüter, die Umweltgüter verteilen – besondere Governanceformen, die dieser Doppelfunktion Rechnung tragen. Bei Kulturlandschaften liegt das Hauptaugenmerk – angesichts der Heterogenität der institutionellen Zugänge – auf Regelungen, welche die vielfältigen (negativen wie positiven) externen Effekte beeinflussen.
Drittens bietet die Gemeinwohlforschung sozialwissenschaftlich fundierte Orientierung für raum- und fachplanerische beziehungsweise regionalpolitische Ziel- und Steuerungsdiskussionen. Für die gegenwärtigen Debatten über die Zukunft der Daseinsvorsorge, die sich stark auf Formen der infrastrukturellen Bereitstellung (zum Beispiel öffentlich versus privat) beziehen, liefert sie damit wichtige Anregungen für die entscheidende Frage, welchen öffentlichen – und vor allem regionalpolitischen – Zielen Infrastruktursysteme dienen (sollen). Bei Kulturlandschaften hilft die Gemeinwohlforschung wiederum, die Pluralität und Konkurrenz von 'öffentlichen Interessen' besser zu verstehen. Dabei plädiert die neuere Forschung gegen ein zu rigides, substantialistisches Verständnis von Gemeinwohl und für ein offenes, prozedurales Verständnis, welches der machtpolitischen Bestimmung von Gemeinwohl eher entspricht. Entscheidend ist damit die Frage, welche Gemeinwohlbelange von wem zu welchem Zeitpunkt und zu welchem Zweck bestimmt werden. Damit sind Gemeinwohldebatten oft Vorläufer von institutionellen Reformen oder neuen Governanceformen.
Viertens bietet die gegenseitige Bezugnahme der Konzepte Gemeinschaftsgüter und Gemeinwohl (und der ihnen zugrundeliegenden Erkenntnisinteressen) – wie im vorliegenden Band erstmals in dieser Form vollzogen – mehrere Vorteile: Die Gemeinwohlforschung hilft, nicht nur ein Gut, sondern 'Güter' in ihrem Zusammenhang und ihren Wechselwirkungen zu betrachten, das heißt sie sensibilisiert für das Nebeneinander und die Überlagerung unterschiedlicher Ansprüche und Objekte. Demgegenüber kann die Bezugnahme auf Gemeinschaftsguteigenschaften helfen, der Gefahr einer 'rhetorischen Leere' bei der Bestimmung des Gemeinwohlbegriffs zu entgehen. Zwar gelten auch Gemeinschaftsgüter inzwischen als soziales Konstrukt, doch ist der Begriff noch nicht vergleichbar normativ aufgeladen.
Fünftens belegen die ausgewählten Beispiele aus der Geschichte der Infrastruktur- und Kulturlandschaftspolitik den hohen Wert historischer Analysen gerade bei Untersuchungen zum Wandel von Verständnissen des Gemeinwohls. Dabei ist es wichtig, zwischen historisch aufgetretenen und künftig vorstellbaren Zielen des Gemeinwohls zu unterscheiden. Darüber hinaus bieten historische Rekonstruktionen Aufschluss darüber, in welchen zeitlichen oder räumlichen Konstellationen und durch welche Faktoren sich ein bestimmtes Gut zu einem Gemeinwohlobjekt entwickelt.
4.3 Charakteristische Gemeinschaftsgutprobleme von Infrastruktursystemen und Kulturlandschaften
Welche charakteristischen Gemeinschaftsgutprobleme wurden auf der Grundlage der theoretischen Abhandlungen für die beiden Handlungsfelder identifiziert? Für Infrastruktursysteme besteht das grundlegende Gemeinschaftsgutproblem in dem Spannungsverhältnis zwischen der Bereitstellung von Netzwerkgütern (zum Beispiel von Wasserinfrastrukturen) und dem Schutz von Umweltgütern (zum Beispiel von Wasserressourcen) als institutionelle Herausforderung. Hierbei geht es um die Steuerung des Umgangs mit zwei lebenswichtigen Gütern, wobei strukturell das Problem darin liegt, dass das Umweltgut Wasser im Interesse der Allgemeinheit möglichst sparsam verwendet und das Netzwerkgut Wasserinfrastruktur im Interesse der Nutzer und Betreiber (bis zu einer gewissen Sicherheitsreserve) möglichst voll ausgelastet werden soll. Einen gesellschaftlich akzeptablen Ausgleich zwischen diesen Gemeinschaftsgutinteressen zu erzielen, ist das Ziel diesbezüglicher institutioneller Regelungen. In Zeiten des wirtschaftlichen Wachstums – und des infrastrukturellen Ausbaus – wurden diese Regelungen oft zugunsten einer sicheren Wasserversorgung und auf Kosten des regionalen Wasserhaushalts ausgelegt. Heute führt der demographische und wirtschaftliche Strukturwandel jedoch in vielen Teilen Ostdeutschlands zu einem unter Wasserwirtschaftlern zuvor weitgehend unbekannten Problem: Überkapazitäten und Unterauslastungen ihrer Ver- und Entsorgungsnetze. Appelle von Versorgungsbetrieben an ihre Kunden, mehr Wasser zu verbrauchen, um die steigenden spezifischen Infrastrukturkosten zu drücken, sollen nun Anreizstrukturen für den vermehrten Verbrauch von teilweise – zumindest regional betrachtet – knappen Wasserressourcen schaffen.
Bei unseren Untersuchungen im Raum Berlin-Brandenburg konnten also Interessenskonflikte zwischen dem Ziel der Aufrechterhaltung effizienter und effektiver Wasserinfrastruktursysteme in Zeiten starker Unterauslastungen einerseits und dem Schutz teilweise knapper regionaler Wasserressourcen andererseits identifiziert werden. Zugespitzt wird diese regionale Ausprägung des Gemeinschaftsgutproblems durch aktuelle wie potentielle Wirkungen des Klimawandels auf den Wasserhaushalt. Während vor allem Wasserversorger aus infrastrukturellen Gründen gegen das Wassersparen plädieren, argumentieren Klimaforscher, Hydrologen und Ökologen für eine verstärkte Schonung regionaler Wasservorräte, nicht zuletzt zur Anpassung an die existierenden und die drohenden Folgen des Klimawandels.
Bezogen auf Kulturlandschaften steht folgendes grundlegendes Gemeinschaftsgutproblem im Mittelpunkt der Untersuchungen: Das Gemeinschaftsgut Kulturlandschaft, das zu einem wesentlichen Teil ein Nebenprodukt des Umgangs mit öffentlichen und privaten Gütern ist, wird zunehmend Gegenstand von regionalen Steuerungs- und Entwicklungsansätzen. Dabei entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen der Heterogenität der institutionellen Zugänge zu Kulturlandschaften einerseits und der Steuerung ihrer gemeinwohlorientierten Nutzung als ganzheitlich wirkendes, regional relevantes Entwicklungspotential andererseits. Die institutionelle Herausforderung liegt hier in der Steuerung eines Gemeinschaftsguts, welches (im Gegensatz zu Wasser beziehungsweise Wasserinfrastrukturen) keine klare institutionelle Zuordnung genießt, sondern von dem Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Institutionensysteme lebt, wie zum Beispiel jenen für Naturschutz, Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Raumplanung und Tourismus. Das erschwert die Verfolgung neuerer raumplanerischer und regionalpolitischer Ziele für Kulturlandschaften als Impulsgeber für die Regionalentwicklung insbesondere dort, wo die Qualitäten und Eigenarten von Kulturlandschaften beeinträchtigt worden sind und/oder wo sie infolge des gesellschaftlichen Strukturwandels zu den (wenigen) Stärken einer Region gehören.
Diese beiden Phänomene – Kulturlandschaften mit ihren Stärken und Schwächen – können im Untersuchungsraum Berlin-Brandenburg beobachtet werden. Dort sind zwei Ausprägungen des generellen Gemeinschaftsgutproblems zu erkennen: Auf der einen Seite besteht ein Spannungsverhältnis zwischen den konkurrierenden und überlappenden Handlungsräumen von sektoralen Politiken und den Kulturlandschaften in ihren unscharfen natur-, kultur- beziehungsweise identitätsräumlichen Grenzen. Das räumliche misfit zwischen politisch-administrativem Territorium und gebietsübergreifenden Kulturlandschaften stellt besonders in der Hauptstadtregion eine Herausforderung bei der Verfolgung einer regionalen Kulturlandschaftspolitik dar. Auf der anderen Seite besteht ein Spannungsverhältnis zwischen übergeordneten (und häufig selektiven) Steuerungsansätzen gerade der Landesregierungen und dem Handeln regionaler kulturlandschaftlicher Initiativen. Hier geht es um Fragen der multi-level-Governance im Umgang mit kulturlandschaftlichen Potentialen.
Die Aufgabe der empirischen Forschung bestand darin, diese charakteristischen Gemeinschaftsgutprobleme in ihrer regionalen Ausprägung zu erkunden, die dazugehörigen Gemeinwohlvorstellungen der regionalen Akteure zu dokumentieren und die Eignung bestehender institutioneller Arrangements und Governanceformen zur Verfolgung der Gemeinwohlbelange und zur Lösung der Gemeinschaftsgutprobleme zu analysieren. Ergänzt wurde diese gegenwartsbezogene Forschung mit historischen Untersuchungen über die Genese der Gemeinschaftsgutprobleme sowie der relevanten Institutionensysteme unter den verschiedenen politischen Systemen des 20. Jahrhunderts. Die Ergebnisse dieser Analysen werden im folgenden Themenblock präsentiert.