E-Book, Deutsch, 220 Seiten
Reihe: Balance Ratgeber
Bock Achterbahn der Gefühle
5. überarbeitete Auflage 2023
ISBN: 978-3-86739-337-9
Verlag: BALANCE Buch + Medien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Mit Manie und Depression leben lernen
E-Book, Deutsch, 220 Seiten
Reihe: Balance Ratgeber
ISBN: 978-3-86739-337-9
Verlag: BALANCE Buch + Medien Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit zwanzig Jahren hilft dieses Buch Menschen mit Bipolaren Störungen, Angehörigen und Therapeuten, die Erkrankung besser zu verstehen und das 'Leben auf der Achterbahn' gelassener zu nehmen. Die Neuausgabe dieses 'trialogischen Klassiker' wurde erheblich erweitert und aktualisiert: Einfühlsam und gut lesbar stellt sie aktuelle Therapie- und Versorgungskonzepte sowie neueste Forschungen vor. Ein komplett überarbeitetes Kapitel zu Antidepressiva und Phasenprophylaktika schafft Sicherheit im Umgang mit Medikamenten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den Ressourcen der Betroffenen, auf Selbsthilfe und Genesungsbegleitung.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizin, Gesundheitswesen Medizin, Gesundheit: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
Weitere Infos & Material
Einleitung 7
Gegen Stigmatisierung – Vorwort zur Neuauflage 7
Das Leben zwischen emotionalen Polen – Vorwort 8
Annäherung an Ungewöhnliches: Zum Aufbau des Buches 12
Mögen Sie Achterbahnen? 15
Das eigene Erleben ernst nehmen 17
Wie Depressionen und Manien erlebt werden 19
Erleben und Erfahrungen von Angehörigen 26
Innenansichten einer alleinstehenden Mutter 32
Wahrnehmungen eines psychiatrisch Tätigen 40
Übersicht gewinnen 48
Manische und depressive Seiten in jedem von uns 48
Professionelle Diagnostik bipolarer Störungen 54
Immer anders, als man denkt: Häufigkeit und Verlauf 72
Verstehen 79
Verschiedene Verstehensansätze 79
Des Rätsels Lösung? Verstehen statt erklären 80
Depressionen werden nicht vererbt: Genetische Aspekte 82
Leiden hinterlässt Spuren: Biologische Aspekte 84
Selbstwertgefühl: Die Sicht der Psychoanalyse 88
Gelernte Hilflosigkeit? Verhaltenstherapie 94
Leben zwischen Extremen: Anthropologische Aspekte 99
Handeln 105
'Sich duldsam begegnen' – Was kann man selbst tun? 105
Hinrich N.: Mein Weg durch Manie und Depression 117
Was können Angehörige tun? 121
Möglichkeiten der Hilfe durch Angehörige und Freunde 125
Anhaltspunkte für Angehörige 131
Genesungsbegleitung 138
Psychotherapie mit manischen Patienten: Gespräch 139
Gruppentherapie bipolarer Störungen 151
Spezifische Psychopharmaka und ihre Wirkung 154
Gratwanderung: Ansätze professioneller Hilfe 180
Komplexleistung 185
Zehn Thesen zum Umgang mit Depressionen und Manien 192
Umgang mit Krisen 196
Antworten des Lebens – Umgang mit Konflikten 196
'Auf Leben und Tod?' – Umgang mit suizidalen Krisen 198
'Wie komme ich da wieder raus?' Rechtliche Aspekte 202
Schlussbemerkung 209
Literatur 212
Allgemein verständliche Fachliteratur 212
Erlebnisberichte 213
Kinder- und Jugendbuch 214
Belletristik 214
Fachliteratur 215
Adressen 219
Das eigene Erleben ernst nehmen
In Depressionen und Manien verändern sich Stimmung, Gefühle und Empfindungsfähigkeit sowie Antrieb und Energiehaushalt eines Menschen in verschiedene Richtungen – nach unten oder nach oben –, manchmal so grundlegend, dass das Wesen des Betreffenden verändert erscheint. Ein vertrauter Mensch ist auf einmal nicht wiederzuerkennen. Er erscheint erstarrt, niedergeschlagen, verzweifelt oder gigantisch, toll, lächerlich, lebendig begraben oder immer auf der Flucht. Manchmal wirken vorhandene Anlagen eines Menschen durch eine Depression oder Manie nur gesteigert. Manchmal aber scheint auch die Vertrautheit eines Menschen verloren zu gehen. Über diesen Aspekt sind nahe Angehörige besonders erschrocken. Sie haben Angst, ein Gegenüber zu verlieren und damit auch ein Stück von sich selbst. Manchmal verstärken wir in der Psychiatrie Tätigen diese Sicht noch, indem wir allzu vereinfachend und unpersönlich davon ausgehen, dass die Depression immer dies oder das bewirkt oder die Manie immer jenes macht. Wir behandeln Patientinnen und Patienten, als hätte sie eine abstrakte Krankheit in Besitz genommen. Das ist schon im Ansatz falsch.
Allgemeine kulturelle Muster und soziale Rollen beeinflussen alle seelischen Vorgänge, selbstverständlich auch Depressionen und Manien. In beiden Phasen kann der Kontakt zu nahen Angehörigen beeinträchtigt sein; umso wichtiger ist es, dass sie in der Behandlung selbstverständlich einbezogen werden. Wie bei allen seelischen Vorgängen, so ist auch bei extremen Stimmungsschwankungen der Körper beteiligt. Doch sind und bleiben Depressionen und Manien Ausdruck des psychischen Prozesses eines unverwechselbar einzigartigen Menschen. Seine Lebensgeschichte beeinflusst seine Art, krank zu sein, genauso wie seinen Weg, gesund zu werden. Insofern hat jede Depression und jede Manie ihre besondere Gestalt und enthält auch für den Einzelnen und seine Umgebung eine besondere Botschaft, die zu betrachten sich lohnt. Das sollen die nachfolgenden Beispiele verdeutlichen.
Als Teil der Medizin neigt die Psychiatrie leicht dazu, Depressionen und Manien allzu stereotyp, eben ausschließlich als abstrakte Krankheiten zu behandeln. Doch Erfahrene und Angehörige konfrontieren die Wissenschaft mit der Forderung, psychische Krankheiten (wieder) als Ausdruck der Entwicklung des ganzen Menschen anzusehen, unabhängig davon, ob und in welchen Grenzen sie auch mit biologischen Mitteln zu beeinflussen sind. Körperliche, seelische und geistige Prozesse sind untrennbar verbunden. Und bis zu seinem Tod befindet sich der Mensch unvermeidlich niemals nur in passiver, sondern immer auch in aktiver Auseinandersetzung mit seiner Umgebung. Kein psychischer Ausnahmezustand ist nur eine Störung, sondern immer auch eine Bewältigungsstrategie; das gilt auch und gerade für Depressionen und Manien.
Das Erleben des einzelnen Patienten und seiner Angehörigen rückt wieder in den Mittelpunkt aller Bemühungen um Verstehen und Behandlung. Der direkte Dialog zwischen den Experten aus Erfahrung und den Experten durch Ausbildung, der in den sogenannten Psychoseseminaren begonnen wurde und sich weit verbreitet hat, lohnt sich für alle Beteiligten (Bock u.a. 1998; Bock u.a. 2007).
Wie Depressionen und Manien erlebt werden
Depression und Manie fallen nicht vom Himmel, auch wenn das manchmal so scheint. Sie haben eine Geschichte, sind Teil eines Entwicklungsprozesses, haben einen Anfang und ein Ende. Wenn jemand manisch oder depressiv wird, ist das kein Zufall. Etwas wie Veranlagung mag eine Rolle spielen in dem Sinn, dass nicht alle Menschen aus dem gleichen Anlass in derselben Weise manisch oder depressiv werden. Doch bleibt der Mensch ein geschichtliches Wesen; er sammelt ein Leben lang Erfahrungen und seine Erfahrungen hinterlassen Spuren. Die folgenden Zitate verdeutlichen die Geschichtlichkeit von Depressionen und Manien, wobei ich betonen möchte: Es handelt sich um subjektive Sichtweisen, die einen subjektiven Wahrheitsgehalt beanspruchen können. Was »wirklich« stattgefunden hat, können wir ohnehin nicht klären. Die meisten Zitate stammen aus einer kleinen Arbeitsgruppe des Hamburger Psychoseseminars, die dieses Buch begleitet hat, einige auch von Patientinnen und Patienten aus der psychiatrischen Ambulanz, in der ich arbeite. Sie sind hier weitgehend unkommentiert wiedergegeben, um erst einmal einen ungefilterten Eindruck entstehen zu lassen. Es handelt sich also um eine Collage aus subjektiven Erfahrungen, die vielleicht anregt, eigene Erinnerungen zu ergänzen.
Die Perspektive der Angehörigen folgt im nächsten Abschnitt.
Beginn
Depressionen und Manien entstehen nicht aus dem Nichts, doch manchmal sind die Auslöser und Anlässe schwer zu fassen:
»Bei mir reicht ein geringer Anlass für die Manie oder die Depression. Diesen Anlass zu verarbeiten gelingt nicht. Und es tut weh, diese Zustände nur einfach aushalten zu können. Diese extremen Schwankungen sind für mich wie eine Achterbahn, die mich hin und her schüttelt.«
»Ich werde manisch, wenn traurige Erlebnisse auf mich zukommen. Ich spüre inzwischen richtig, wie es ›klick‹ macht. Mein Organismus setzt die Manie in Gang, damit ich über bestimmte Erlebnisse hinwegkomme. Das geschieht innerhalb weniger Stunden. Die Depression kommt erst viel später.«
»Bei mir beginnen diese Phasen erst mit Angstgedanken und mit dem Gefühl, verfolgt zu werden. Diese Wahrnehmungen kriege ich nicht mehr relativiert. Und dann heble ich das Ganze aus, indem ich mir besondere Aufträge zuziehe. Das heißt, ich löse die Situation auf, indem ich mir besondere Bedeutung beimesse, und so wachse ich in die Manie hinein.«
»Ich habe extrem viel gearbeitet, stand unter großem Druck; die Euphorie kippte in Erschöpfung um und die wiederum nach zusätzlichen Verletzungen in eine Depression.«
»Ich habe vielfach Misshandlungen erlebt. Zum ersten Mal manisch wurde ich mit 21 Jahren. Da habe ich meinen eigenen Groll und Hass vom Stapel gelassen, war auf einmal nicht mehr klein, unterdrückt und erniedrigt. Ich fühlte mich befreit, als wäre ein Riegel vom Mund weggesprengt worden. Bärenkräfte habe ich entwickelt in der Manie.«
Schon diese Zitate lassen einen inneren Zusammenhang von Depressionen und Manien ahnen. Es scheint fast so, als könne das innere Gleichgewicht nur noch um den Preis größerer Ausschläge – nach »oben« oder nach »unten« – gehalten werden.
Kindheit
Die Erfahrungen der Kindheit prägen, doch die Entwicklung hört nicht mit den ersten Jahren auf. Wir verklären oder verdammen unsere frühen Erfahrungen, versuchen zu kompensieren, was uns gefehlt hat, und wiederholen die Muster, die wir kennen gelernt haben. Immer sind wir Glied einer Kette: Auch unsere Eltern waren Kinder und geben weiter, was sie erfahren haben. Doch zugleich kann uns niemand die Verantwortung für eine eigene Entwicklung abnehmen.
»In meiner Kindheit durften Gefühle nicht gezeigt werden. Ich hatte eine Schwester, die sehr krank war und alle sehr in Anspruch nahm. Meine Eltern führten eine Vernunftehe ohne Gefühle. Jetzt zählt nur noch das Gefühl. Das ist so eine Art Flucht nach vorn. Natürlich birgt dieser Weg seine eigenen Risiken.«
»Als Kind habe ich viel geschrien, ohne dass meine Mutter merkte, was los war. Sie hatte resigniert, glaubte es mir sowieso nicht recht machen zu können. Ich bin dann sehr stark in meinen Verstand und in die Logik gegangen. Doch tief in mir war eine Sehnsucht nach Liebe, eine Art Motor für die Manie. In der Manie gebe ich mich der Sehnsucht hin, voll und ganz, ohne sie so erfüllen zu können.«
»Für mich war niemals Platz. Ich habe die Sprache verweigert als Baby, dann plötzlich mit drei oder vier wie ein Erwachsener geredet. Ich habe in die Windeln geschissen, bis ich irgendwann den Topf selbst geholt habe. Ich empfinde tiefe Trauer, die von Sehnsucht verdeckt wird und von Angst. So kann ich nicht weinen. Und das baut Druck auf und fördert die Manie.«
»Ich hatte schon als Kind diese verschiedenen Phasen. Mal habe ich nächtelang durchgeheult, war nicht ansprechbar, manchmal war ich überaktiv und schon nach meinem damaligen Empfinden unnormal. In gewisser Weise wurde ich so akzeptiert, obwohl ich den Eindruck hatte, dass meine Eltern immer versteinerter wurden. Als krankhaft wurde meine Art erst bezeichnet, als ich 21 war. Da wurde dann die Manie mehr akzeptiert, weil ich so enorm leistungsfähig war. Die Depressionen aber waren schrecklich.«
»Schon als Kind habe ich zu viel wahrgenommen, nicht selektiv, sondern alles gleichzeitig. Da waren immer zu viele Eindrücke auf einmal. Die Manie war so etwas wie ein Ventil.«
Die Depression ein Schutz, die Manie ein Ventil? Das Leid bleibt gleich und darf nicht weggeredet werden. Doch für ein wirkliches Verstehen reicht nicht der Blick zurück mit der Frage »Woher?«. Hinzukommen muss der Blick nach vorn mit der Frage »Wozu?«.
Verletzungen und Ausflüchte
Wie tief das Leid der Depression sein kann, lassen Zitate nur erahnen. Trauer können wir teilen, Schmerzen nachempfinden. Aber bei Leere und Fühllosigkeit versagt das Mitgefühl oft.
»Meine Depression bedeutet in erster Linie unendliche Trauer. Ich schüttle mich dann in Weinkrämpfen und empfinde eine tiefe Perspektivlosigkeit.«
»In Depressionen empfinde ich Schmerzen bis ins Knochenmark.«
»Depressionen sind für mich Ausdruck runtergeschluckter Aggressionen.«
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