Bode Die vergessene Generation
33. Auflage 2018
ISBN: 978-3-608-10504-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-608-10504-9
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Noch nie hat es in Deutschland eine Generation gegeben, der es so gut ging wie den heute 60- bis 75jährigen. Doch man weiß wenig über sie, man redet nicht über sie - eine unauffällige Generation. Jetzt beginnen sie zu reden, nach langen Jahren des Schweigens.
Die Kriegskindergeneration ist im Ruhestand, die eigenen Kinder sind längst aus dem Haus. Bei vielen kommen jetzt die Erinnerungen allmählich hervor und mit ihnen auch Ängste, manchmal sogar die unverarbeiteten Kriegserlebnisse. Sie wollen nun über sich selbst nachdenken und sprechen.
Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter spricht von einer 'verschwiegenen, unentdeckten Welt'. Mit den Holocaust-Opfern habe man sich eingehend beschäftigt, mit der Kriegskindergeneration nie.
Ihnen wurde gesagt: 'Sei froh, daß du überhaupt überlebt hast. Vergiß alles und schau lieber nach vorne!' Sie haben den Bombenkrieg miterlebt oder die Vertreibung, ihre Väter waren im Feld, in Gefangenschaft oder sind gefallen. Diese Erinnerungen haben sie bislang in sich verschlossen gehalten, sie trösteten sich mit der Einstellung: 'Andere haben es noch viel schlimmer gehabt als wir.'
So wurde eine ganze Generation geprägt: Man funktionierte, baute auf, fragte wenig, jammerte nie, wollte vom Krieg nichts hören - und man konnte kein Brot wegwerfen.
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
1;Umschlag;1
2;Impressum;1
3;Inhalt;2
4;Einführung zur erweiterten und aktualisierten Ausgabe;6
5;Dank;11
6;1 Millionen Kriegskinder unter uns;12
6.1;Was der Kalte Krieg verhinderte;13
6.2;Ein erhellendes Seminar;13
6.3;Nazivergangenheit und Kriegsvergangenheit;13
6.4;Eine tüchtige Generation;13
6.5;Phantasiediagnose »vegetative Dystonie«;13
6.6;Wo sind die Erinnerungen?;13
6.7;»Wir haben jahrelang im Keller gesessen«;13
6.8;Als der Krieg aus war, kam die Lebensangst;13
7;2 Was Kinder gebraucht hätten ...;21
7.1;Ein behutsamer alter Mann;22
7.2;Kinder ohne Väter;22
7.3;Die Not und die Wut der Heimkehrer;22
7.4;Diagnose »Dystrophie«;22
7.5;Früher Ratgeber »Flüchtlingskinder«;22
8;3 »Eine verschwiegene, unentdeckte Welt«;28
8.1;Als Deutschland hungerte;29
8.2;Forschen, Messen, Wiegen;29
8.3;»Heute dümmer als früher?«;29
8.4;Was Schelsky herausfand;29
8.5;Verspätete Kriegsfolgen in der Pubertät;29
8.6;Eine Generation, die nicht interessierte;29
9;4 Zwei Frauen ziehen Bilanz;36
9.1;Die Sehnsucht, es möge nie wieder Krieg geben;37
9.2;Großmutter und Enkeltochter;37
9.3;Vom Hunger geprägt;37
9.4;Ständig im Hilfseinsatz, wenig Schlaf;37
9.5;Und immer wieder Überleben;37
9.6;Panik bei Mückenstichen;37
9.7;Eine minimale Rente;37
9.8;Ein Traum, der heilte;37
10;5 Das fröhliche Kind;45
10.1;Eine kleine Preußin erträgt alles;46
10.2;Der Hunger und das Vergessen;46
10.3;Die Rolle der Psychoanalyse;46
10.4;Wenn das Herz verrückt spielt;46
10.5;Sonnenschein und Spaßvogel;46
10.6;Bombenstimmung!;46
11;6 Ein ganzes Volk in Bewegung;54
11.1;Die verlorene Heimat als Fixpunkt;55
11.2;Auf der Flucht geboren;55
11.3;Der Mutter immer dankbar sein ...;55
11.4;Halb Deutschland unterwegs;55
11.5;Ahnungslose Dorfbevölkerung;55
11.6;Harte Verteilungskämpfe;55
11.7;Eine couragierte Zwölfjährige;55
11.8;»Schreckliches Œ aber auch viel Schönes«;55
11.9;Ins Bett, weil das Zimmer so eisig war;55
11.10;Zu Fuß von Thüringen ins Ruhrgebiet;55
11.11;Ein letzter Brief;55
12;7 Kriegswaise: Die Suche nach der Erinnerung;63
12.1;Kinder, die verloren gingen;64
12.2;Ein Lager in Dänemark;64
12.3;Neuer Start in der Bundeswehr;64
12.4;Eine deutsch-deutsche Geschichte;64
12.5;Mutter und Großmutter verhungerten;64
12.6;Eine fürsorgliche Tochter;64
12.7;Mit kleinem Gepäck allein in den Westen;64
13;8 Nazi-Erziehung: Hitlers willige Mütter;74
13.1;Die Schule der Johanna Haarer;75
13.2;»Wehret den Anfängen!«;75
13.3;»Das Kind nicht riechen können«;75
13.4;Streit mit der Nazimutter;75
13.5;Wie Wölfchen seine Lebensfreude verlor;75
13.6;Auch Mädchen weinen nicht!;75
14;9 »Aber recht, recht lieb wollen wir sein ...«;83
14.1;Wenn Kinder zu Freiwild werden;84
14.2;Ein Volk von Zerlumpten und Bettlern;84
14.3;Ein Gott, der alles rechtfertigt;84
14.4;Bußrituale für Heimkehrer;84
14.5;Sterben wollen und in den Himmel kommen;84
14.6;»Ich habe keine Eltern mehr«;84
14.7;Ausbruch und Neubeginn;84
14.8;Stress macht sie vergesslich;84
14.9;»Sucht euch Ersatzeltern!«;84
15;10 Das Trauma, der Krieg und die Hirnforschung;93
15.1;Eine persönliche Katastrophe;94
15.2;Es begann mit der Eisenbahn;94
15.3;Gerichtsmediziner schlugen Alarm;94
15.4;Massentod in den Schützengräben;94
15.5;Traumaforschung weltweit;94
15.6;Was Kinder instinktiv wissen;94
15.7;Wissen Therapeuten genug?;94
15.8;Das Fehlen der Worte;94
16;11 Die große Betäubung;104
16.1;Nach einem Bombenangriff;105
16.2;Ein heikler Schritt;105
16.3;Werbung für die »Tablettchen«;105
16.4;Beim Angriff die Finger in den Ohren;105
16.5;Tabletten gegen die Todesangst;105
16.6;Mit einer Behinderung leben;105
17;12 »Als alter Mann werde ich glücklich sein«;111
17.1;Zwei Kindheiten: Hanno und Kaspar;112
17.2;Ein Sohn, der die Bühne liebt;112
17.3;Die Kriegsschrecken der Eltern geerbt;112
17.4;Vater und Sohn Œ wie zwei Veteranen;112
17.5;Eine schizoide Episode;112
17.6;Das Ende der Zärtlichkeit;112
17.7;Heilung ist möglich;112
18;13 Trostlose Familien;118
18.1;Ein Abschiedslied ohne Trauer;119
18.2;Eltern und Kinder sind sich fremd geblieben;119
18.3;Das große Desinteresse;119
18.4;»Kollektive Geheimnisse«;119
18.5;Eltern, die vor allem Neuen zurückschrecken;119
18.6;Zwei Flüchtlingskinder;119
18.7;Ein Steinmetz wirft die Brocken hin;119
18.8;»Wir sind eine heile Familie!«;119
18.9;Verluste werden nicht betrauert;119
19;14 Ein Plädoyer für Vernunft und Trauer;129
19.1;Wie der Kriegsschrecken gedenken?;130
19.2;Nicht jammern Œ trauern!;130
19.3;Die Auswirkungen einer großen Rede;130
19.4;Die Befreiung durch eine Trauerfeier;130
19.5;Ein Ritual entfaltet seine Wirkung;130
19.6;Die Störung eines Gottesdienstes;130
19.7;»Eine traumatische Kultur«;130
19.8;Wenn Überleben eine gemeinsame Identität stiftet;130
19.9;»Was haben wir mit unserer Wut gemacht?«;130
19.10;Mit dem Schicksal Frieden schließen;130
20;15 Vom Schweigen, Sprechen und Verstehen;140
20.1;Im Gespräch mit Kriegskindern;141
20.2;Jüngere und ältere Geschwister;141
20.3;Vaterlos, kinderlos;141
20.4;Reise zum Mittelpunkt der Angst;141
20.5;»Ich konnte meine Kinder nicht lieben«;141
20.6;Kriegsenkel;141
20.7;Die Kriegskinder und die mediale Öffentlichkeit;141
20.8;Der Deutschland-Reflex;141
20.9;»Kriegskinder für den Frieden«;141
21;Nachwort (2004);148
22;Informationen zur Autorin;151
Einführung
Er habe zu lange geschwiegen, befand der Schriftsteller Günter Grass und lenkte in seiner Novelle "Im Krebsgang" die Aufmerksamkeit auf die deutschen Opfer von Krieg und Vertreibung. Ein Zitat macht die Hintergründe seiner Sinneswandlung deutlich: Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema denen rechts überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos.
Anfang 2002 widmete "Der Spiegel" dem Grass-Buch und vor allem der Vertreibung eine Titelgeschichte. Darin stand - was dem Tenor in fast allen großen Zeitungen entsprach -, daß über die Folgen der Nazizeit noch einmal gründlich nachgedacht werden müsse. Für mich war dies der Wendepunkt. Ich wußte: Jetzt ändert sich etwas. Jetzt kommt auch das Thema "deutsche Kriegskinder" endlich an die Öffentlichkeit.
Es gibt also ein Vorher und ein Nachher bei meiner journalistischen Arbeit über die Kindergeneration. Seit dem Bosnien-Krieg in den neunziger Jahren, als im Fernsehen dem Leid der Kinder viel Zeit gewidmet wurde und gerade die Deutschen zu den großzügigsten Spendern zählten, beschäftigt mich die Frage: "Wie geht es eigentlich den deutschen Kriegskindern heute?" Seitdem habe ich keine Gelegenheit ausgelassen, Angehörige dieser Generation danach zu fragen.
In den ersten Jahre verlief meine Spurensuche zäh. Die meisten Angesprochenen wehrten das Thema ab mit Sätzen wie "Andere haben es viel schlimmer gehabt" oder "Es hat uns nicht geschadet". So gut wie nie hörte ich jemanden über sein Schicksal klagen, und bis heute habe ich den Eindruck, daß entgegen der oft bei uns Deutschen festgestellten Neigung, sich als Opfer zu sehen, ausgerechnet die ehemaligen Kriegskinder in keiner Weise larmoyant sind. Ich fand sie in der Anfangszeit meiner Recherche vor allem einsilbig. Nur gelegentlich kam es zu längeren Gesprächen, und rückblickend kann ich meine Erfahrungen der ersten Jahre mit dem Satz zusammenfassen: Je mehr Menschen ich fragte, desto unklarer wurde das Bild. Nach meinen Interviews war ich oft ratlos, ich zweifelte an meiner Wahrnehmung und war körperlich sehr erschöpft. Wenn ich mit Freunden darüber sprach, hörte ich: "Was beschäftigst du dich auch mit so einem dunklen Thema."
Aber daran allein konnte es nicht liegen. Ich habe Erfahrung mit schweren Themen - Nazizeit, Holocaust, psychische Erkrankungen, Kindstod - aber eine vergleichbar niederdrückende Stimmung und Konfusion hatte ich noch nicht erlebt.
Die Verwirrung ging schon damit los, daß es eine ganze Weile dauerte, bis ich begriff, daß es sich bei den Jahrgängen von 1930 bis 1945 in Wahrheit um mehrere Generationen handelt. Denn es macht einen großen Unterschied, in welchem Alter ein Kind diesem Krieg ausgeliefert war: ob als Säugling, als Kleinkind, oder ob vor oder nach der Pubertät.
Natürlich hätte ich auch eine andere Zeitspanne wählen können, zum Beispiel von 1928 bis 1950, aber ich entschied mich, vor allem um die Arbeit halbwegs überschaubar zu halten, für jene fünfzehn Jahrgänge, beginnend mit der Flakhelfergeneration, und am Ende jene Kinder, die auf der Flucht geboren wurden. Gerade diese Eckpunkte machen noch einmal deutlich, daß es nicht um eine, sondern um mehrere Generationen geht.
Und dennoch gibt es viele Ähnlichkeiten in den Aussagen über die Kriegszeit und die schweren Jahre danach. Zum Beispiel der Satz: Es war nie langweilig. Und: Was wir damals erlebt haben, war für uns normal. Soll heißen: Wir haben das, was der Krieg mit sich brachte, als normal empfunden, zumal es ja allen Familien ringsum genauso ging, und wir haben uns in unserem Alltag so wenig wie möglich vom Krieg stören lassen.
Nun ist ja bekannt, daß kleine Kinder auch extreme Lebensumstände hinnehmen, wie sie sind. Romanautoren haben sich davon immer wieder inspirieren lassen, daß solche Prägungen ihre eigene Dynamik entwickeln. Ein Kind, das in einem Bordell aufwächst, wird das als völlig normal empfinden, bis es mit den Normen der Außenwelt in Kontakt kommt. Wenn dann aus dem Kind ein reflektierender Erwachsener geworden ist, wird der ein Bewußtsein davon entwickeln, welche Spuren eine als normal empfundene Kindheit bei ihm hinterlassen hat.
Bei meinen Gesprächspartnern war das in der Regel anders. Die meisten lehnten es ab, sich mit der Frage zu befassen, wie sich der Krieg auf ihr weiteres Leben ausgewirkt haben könnte. Sie wollten von ihren Kindheitserinnerungen erzählen, die sie gern mit dem Satz einleiteten: "Wir haben in dieser Zeit auch viel Schönes erlebt."
Selbst im nachhinein fehlte der Mehrzahl der Betroffenen das angemessene Gefühl für das, was sie an Schrecken erfahren hatte. Daß das Haus der Lieblingstante, in dem man so viel Schönes erlebt hatte, von Bomben komplett zerstört worden war, das erwähnte ein Mann nur beiläufig; bei mir kam es so an wie: nichts Besonderes, sowas hat man eben weggesteckt. Sprach ich meine Interviewpartner darauf an, dann stellte sich heraus, daß sie auch das Festhalten an eigentlich unpassenden Gefühlen heute noch "ganz normal" fanden.