Bodenheimer | Ihr sollt den Fremden lieben | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 192 Seiten

Bodenheimer Ihr sollt den Fremden lieben

Rabbi Kleins vierter Fall
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-312-01048-6
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Rabbi Kleins vierter Fall

E-Book, Deutsch, 192 Seiten

ISBN: 978-3-312-01048-6
Verlag: Nagel & Kimche
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Rabbi Klein ist Gast in einer Fernsehshow. Ausgerechnet in seinen Armen stirbt wenig später der Moderator. Lejser Morgenroth, der eifersüchtige Freund des Toten, war am Tatort und hat ein Motiv. Verzweifelt bittet er Klein um Hilfe. Gegen den Rat seiner Frau Rivka will der Rabbiner das Verbrechen aufklären und trifft dabei auf eine junge Muslimin, einen katholischen Priester, einen Jungunternehmer und dessen atemberaubend schöne Frau. Dazwischen streitet er mit seinen Schabbatgästen, die drastische Ideen zur Bekämpfung der Feindschaft gegen Juden vertreten. In seinem vierten Krimi bringt Alfred Bodenheimer den gelehrten und beharrlichen Rabbi an seine Grenzen.

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    1   Eine Sekunde lang herrschte vollkommene Ruhe. Das Publikum war fassungslos. Dann brandete ein eigenartiges Geräusch auf, eine Mischung aus Pfiffen, Gemurmel, Gelächter und vereinzelt Applaus. Bernhard Russi, die schön gealterte Schweizer Sportikone, lächelte schief. Der junge Moderator Kim Nufener schien entschlossen, den Augenblick wirken zu lassen, und ließ die Arme scheinbar entspannt neben seinem Drehsessel hängen. Gabriel Klein wusste auch nicht genau, was in ihn gefahren war, diesen Satz auszusprechen. Von Sapporo 1972 war die Rede gewesen, dem olympischen Abfahrtsrennen, das Klein als Bub am Fernseher in Schwarzweiß mitverfolgt und das Russi gewonnen hatte. Einige Ausschnitte aus dem Rennen waren gezeigt worden, und Klein war als Gast der Sendung «Weisch no?» aufgefordert, drei Sätze zu sagen, die ihm dazu durch den Kopf gingen. Dasselbe war auch von den anderen Teilnehmern verlangt worden, und das Publikum hatte zu entscheiden, wer den besten Kommentar abgab. Ein Sendekonzept wie aus den Siebzigern, da hatten die Kritiker recht. Zwei Sätze hatte Klein zum Besten gegeben. «Das Rennen habe ich damals mitten in der Nacht bei meiner Großmutter geschaut. Sechs Wochen später haben wir sie beerdigt.» Einen Augenblick lang beschlichen Klein Zweifel, ob es richtig war, den Tod seiner Großmutter zu missbrauchen, um seinem Auftritt mehr Dramatik zu verleihen. Denn es war nicht so, dass er sie bei dieser Gelegenheit das letzte Mal gesehen hatte, bevor sie an einem plötzlichen Hirnschlag starb. Seine Familie und er hatten sie fast jeden Schabbat nach dem Gottesdienst besucht. Außerdem stand ihr Tod in keinerlei Zusammenhang mit Russis Sieg. Der war seiner Großmutter gänzlich gleichgültig, sie hatte das Rennen auch nicht angeschaut, sondern tief geschlafen, während Gabriel und seine zehn Jahre ältere Schwester Esthi mitfieberten und den Kuchen futterten, den die Großmutter für sie gebacken hatte. Doch Klein konnte sich nicht lange mit seinen Skrupeln beschäftigen, denn nun kam der nächste Satz: «Eins der Ereignisse, die in knapp zwei Minuten ein Leben verändert haben. Und vielleicht sogar das ganze Land.» Das klang kühn, und die Leute hörten so etwas gern. Und dann flutschte ihm der dritte Satz über die Lippen, als hätte er schon ewig herausgewollt: «Aber Collombin war bei weitem der komplettere Skifahrer als Russi.» In Esthis Zimmer hing damals ein großes Poster an der Wand, Roland Collombin mitten im Rennen, und der Satz mit dem kompletteren Skifahrer war ein wörtliches Zitat von ihr. Als Teenager stand sie damals wenige Jahre vor ihrer Auswanderung nach Israel, wo sich ihr Interesse für Männer, die, in windschlüpfrige Anzüge gepresst, das Lauberhorn oder die Streif hinunterbretterten, in Luft aufgelöst hatte. Wäre er nach diesem Abend nochmals gefragt worden, wieso er überhaupt von Collombin geredet hatte, der in Sapporo die Silbermedaille holte und für einen Schweizer Doppelsieg sorgte, hätte Klein kaum eine rechte Antwort gewusst. Weil kein Mensch mehr von Collombin sprach? Weil er fand, dass seine Antwort kompetent und originell klang, ohne wirkliche Kenntnisse zu erfordern? Weil es ihm ersparte zu erwähnen, dass der eigentliche Champion jener Skisaison der Österreicher Karl Schranz gewesen war, haushoher Favorit, ausgeschlossen von der Olympiade wegen des Logo-Aufdrucks einer blöden Kaffeemarke auf seinem Fußballtrikot? «Amateurregel» hatte man das damals genannt. Keine der Antworten wäre richtig gewesen. Vielmehr wollte Gabriel Klein sich mit diesem Satz am Vorstand seiner Gemeinde rächen, der ihm diesen peinlichen Auftritt eingebrockt hatte. Als Bestandteil einer Imagekampagne für das Zürcher Judentum, den nur er übernehmen konnte, wie der Vorstand behauptete. Oder es war der Preis, den der Vorstand für ein Sabbatical einforderte, das ihm im Jahr zuvor gewährt worden war. Dies jedenfalls vermutete seine Frau Rivka. Wie zu vermuten war, verlor Klein die Zuschauerabstimmung haushoch. Er wurde mit dünnem Applaus und einem Trostpreis bedacht, dem silbernen «Nufi», einer Gummifigur mit dem karikierten Gesicht Kim Nufeners. Allerdings musste er hinter der Bühne den Rest der Sendung abwarten, um am Ende mit allen Gästen nochmals winkend durchs Studio zu laufen. Mehr Siebziger war nie. Der nostalgische Grundton der populären Sendung «Weisch no?», das hatte längst auch das gehobene Feuilleton bemerkt, ließ tief in die Schweizer Seele der Gegenwart blicken. Immerhin war die knappe Stunde, die er bei Getränken und leider nichtkoscheren Häppchen zusammen mit drei anderen Ausgeschiedenen verbrachte, interessanter, als das Weiterkommen in der Sendung gewesen wäre. Denn so kam Klein mit Nufeners junger Assistentin Frau Demirtok ins Gespräch, die für ihre Betreuung zuständig war. Nur kurz sprachen sie noch über Bernhard Russi und Sapporo. Dann kam Frau Demirtok ins Reden, womöglich weil sie einen Rabbiner vor sich hatte. Diese Erfahrung machte Klein immer wieder, bei vielen Menschen, egal welcher Konfession. Sie war in Ostanatolien geboren und in Bülach aufgewachsen. Sie erzählte von den schwierigen Jugendjahren in einer Familie, die sich nur langsam auf eine andere Kultur einstellen konnte, eine Familie, in der ihre beiden jüngeren Brüder, in der Schweiz geboren, bevorzugt behandelt wurden. Aber auch von einem Schweizer Umfeld, das sie nicht gerade willkommen geheißen hatte. Klein erfuhr, wie fremd sie sich bei den Reisen in die Türkei gefühlt hatte, als sie noch dorthin gefahren war. Sie hatte sich hier ein Leben aufgebaut, mit Schweizer Freunden, die die Türkei höchstens als Ferienland kannten. Und plötzlich hatte es vor einigen Jahren die öffentliche Debatte über die Beschneidung von Jungen gegeben, und sie war die Einzige in ihrem Freundeskreis, die nicht von Menschenrechtsverletzung und Barbarei sprach. Handkehrum hätten sich alle ihre Bekannten vehement für das Recht auf Vollverschleierung ausgesprochen, und sie war als Einzige dagegen. Er habe, warf Klein ein, vor vielen Jahren das Buch eines Schweizer Psychiaters gelesen – sein Name war ihm entfallen –, über die Juden als Minderheit. «Teilnehmen und nicht dazugehören» war der Titel. «Das spricht mir aus der Seele», sagte Frau Demirtok begeistert. Ihre grünen Augen blitzten. Sie strahlte die Kraft und Lebensfreude einer jungen Frau aus, der alles im Leben offensteht. Aber bevor sie weiterreden konnten, erhielt sie über ihr Headset die Anweisung, die ausgeschiedenen Kandidaten ins Studio zu lotsen. In drei Minuten beginne das Finale. Es entstand eine kurze Aufregung, weil eine Kandidatin erklärte, noch dringend auf die Toilette zu müssen, wofür sie allerdings eine Stunde lang Zeit gehabt hätte. Klein war beeindruckt, wie gelassen und bestimmt Frau Demirtok damit umging: «Halten Sie noch zehn Minuten durch? Dann ist der ganze Spuk vorbei. Sonst vermissen Ihre Verwandten zuhause Sie im Fernseher, und Sie dürfen sich noch monatelang dumme Kommentare anhören.»   Beim Pflichtwinken ins Publikum fühlte Klein sich erstmals an diesem Abend vollkommen fehl am Platz und fragte sich bang, was er wohl seinerseits für Kommentare zu erwarten haben würde. Es war freundlich von Kim Nufener, dass er Klein beim Abschied versicherte, er habe seinen Auftritt einfallsreich und originell gefunden und habe es bedauert, dass er nicht weitergekommen sei. Freundlich war das, aber nicht überzeugend. Der Rabbi war froh, dass seine Frau Rivka seinem Wunsch gefolgt und nicht mitgekommen war. Zwar hatte sie sicher alles zuhause am Bildschirm verfolgt, aber wenigstens konnte sie den Fernseher abschalten, als er ausgeschieden war. Das heißt, zumindest seine jüngere Tochter Rina hatte wahrscheinlich bis zum Schluss geschaut. Eigenartigerweise liebte sie wie viele andere Jugendliche die Sendung «Weisch no?», obwohl das Format nicht auf sie als Zielgruppe zugeschnitten war. Sie zählte sogar zu den zigtausend Facebookfreunden von Kim Nufener, und Klein hatte versprechen müssen, ihr seinen Nufi mitzubringen, damit sie ihn in der Schule herumzeigen konnte. Außer es wäre der Siegernufi – der war zwar deutlich kleiner, aber aus echtem Gold. Nun musste er nur noch den unvermeidlichen Anruf des Vorstandsmitglieds Tobias Salomon abwarten. Der war mitverantwortlich für diesen ganzen unsäglichen Auftritt und würde sich mit zuckrig hämischen Kommentaren nicht zurückhalten. Bislang ließ Salomon noch nichts von sich hören. Umso besser. Klein ging zum Parkplatz des Schweizer Fernsehens, der wegen Bauarbeiten an einer Tiefgarage ein Stück vom Fernsehgebäude wegverlegt worden war, und stieg in sein Auto. Es regnete in Strömen. Er warf den Nufi auf den Beifahrersitz und fuhr los. Er kam selten in diesen Teil der Stadt; schon lange waren hier in Oerlikon die Industrie und das Gewerbe zuhause. Die Publikumsmagnete des Quartiers waren eine Radrennbahn, das Hallenstadion und das Messegelände, und mit denen hatte er als Kind kaum je zu tun gehabt. In den vergangenen Jahren waren hier in großem Maßstab Blocks mit Büros und Wohnungen gebaut worden, meist mit großzügigem Grünanteil, austauschbar, aber nicht unfreundlich, bei Licht betrachtet. Jetzt war es einfach ein dunkel verschlungenes Netz aus Straßen, das er so rasch wie möglich hinter sich lassen wollte. Im Radio lief die Wiederholung einer politischen Diskussion, in der es wieder einmal um Verkehrspolitik ging. Klein konnte sich kein anderes Land vorstellen, in dem in den Medien so viel und so leidenschaftlich über Verkehrspolitik gestritten wurde, während sich im Alltag kein Mensch dafür interessierte – wenigstens kein Mensch in seinem Alltag. Als er den Wagen vor dem Haus parkte, hatte der Regen wunderbarerweise aufgehört, und zuhause...


Bodenheimer, Alfred
Alfred Bodenheimer, geboren 1965 in Basel, erhielt eine traditionelle jüdische Ausbildung und betrieb Talmudstudien in Israel und den USA. In Basel studierte er Germanistik und Geschichte und promovierte 1993 mit einer Arbeit über die Emigration von Else Lasker-Schüler nach Palästina. Nach Forschungs- und Lehrtätigkeiten in Israel und an der Universität Luzern und einer Habilitation an der Universität Genf kam er 2003 als Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an die Universität Basel zurück. Er veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, darunter Studien über Moses und den Ewigen Juden, jüdische Narrative und Traditionsvermittlung.



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