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E-Book

E-Book, Deutsch, Band 2, 224 Seiten

Reihe: Ein Fall für Kinny Glass

Bodenheimer In einem fremden Land

Ein Jerusalem-Krimi
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-311-70483-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Jerusalem-Krimi

E-Book, Deutsch, Band 2, 224 Seiten

Reihe: Ein Fall für Kinny Glass

ISBN: 978-3-311-70483-6
Verlag: Kampa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



In der Jerusalemer Altstadt erschießt eine Polizistin den dreißigjährigen Musa Hamid, weil sie die Gesten des autistischen Mannes falsch deutet. Wenige Tage später stürzt der Chef der Bereitschaftspolizei Uriah Zunder auf Zypern von einer Klippe in den Tod – er war es, der seinen Untergebenen befohlen hat, »proaktiv gegen Terroristen vorzugehen«, also im Zweifelsfall Menschen zu töten, die noch gar kein Verbrechen begangen haben. War es ein Unfall, wie die offizielle Version lautet? Oder eine Kurzschlussreaktion Zunders, der noch kurz vor seiner Abreise bei der Polizeipsychologin Kinny Glass in einer Sprechstunde war? Je mehr Kinny über die Umstände seines Todes erfährt, desto mysteriöser erscheinen ihr diese, und allen offiziellen Anordnungen zum Trotz stellt sie eigene Nachforschungen an. Dabei wächst ihr Entsetzen über die politische Situation in ihrem Land, die solche Tragödien begünstigt. Privat stehen Kinny große Ereignisse bevor: Ihre Tochter erwartet das erste Kind, ihre Eltern ziehen in eine Seniorenwohnung, und dann kündigt noch Helmut aus Stuttgart seinen Besuch an, ein ehemaliger Kommilitone, in den Kinny damals verliebt gewesen ist …
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1
»Kinneret«, klang es monoton aus dem kleinen Lautsprecher. Kinny Glass legte den Zettel mit ihrem Namen auf die Theke, und eine übermüdete junge Frau schob ihr das Tablett mit dem Café Hafuch und einer Bureka mit bulgarischem Käse hin. Kinny nahm das Tablett entgegen und setzte sich damit an einen der Bistrotische im hintersten Winkel der Ankunftshalle des Flughafens. Eine knappe Stunde Verspätung war für die Abendmaschine aus Frankfurt angekündigt, und Kinny war ohnehin sehr zeitig gekommen. Sie hatte außer einem Apfel nichts zu Mittag gegessen, weil der Tag vollgestopft gewesen war mit Terminen. Der Druck, unter den die Polizei in den vergangenen Monaten seit Antritt der neuen Regierung gekommen war, die Unsicherheit und Angst der Beamten, auch ihre Überforderung durch außerordentliche Einsätze, die ihnen Überstunden abverlangten – das alles machte sich immer stärker auch im polizeipsychologischen Dienst bemerkbar. Gestandene Mitglieder des Korps waren während der Gespräche mit Kinny in Tränen ausgebrochen. Ihr wurde immer klarer, dass die einst einigermaßen geeinigte Truppe in Individuen zerfallen war. Keiner wusste mehr, was der andere dachte, ob jemand sich auf Kosten von Kollegen Vorteile verschaffen würde. Sogar Uriah Zunder, der Chef der Bereitschaftspolizei, war innerhalb weniger Tage zweimal bei ihr gewesen. Kinny hatte extra Abendtermine außerhalb ihrer Arbeitszeit für ihn eingeräumt, was sie eigentlich nie tat, wenn sie nicht zum Pikettdienst eingeteilt war oder in Fällen unvorhersehbarer Katastrophen wie Attentaten. Doch Zunder war immerhin eine Führungskraft, und wenn er psychologische Unterstützung anforderte, konnte ein Hinauszögern für viele, die seinem Befehl unterstanden, zum Problem werden. So zumindest hatte sie vor sich gerechtfertigt, weshalb sie ihm spontan Treffen angeboten hatte, die für sie selbst mit Überstunden verbunden waren. Gleichzeitig musste sie sich eingestehen, dass die Gerüchte, Zunder könnte der nächste Kommandant des ganzen Jerusalemer Polizeidistrikts werden, auch eine Rolle bei ihrem Entscheid gespielt hatten. Sie machten ihn zu einer Person, deren Anliegen zu verweigern künftig seinen Preis haben könnte. Sie hatte bereits beim ersten Treffen eine tiefgehende Verstörung an Zunder festgestellt. Wie viele andere Beamte auch, die mit der Sprache nicht herausrücken wollten und meinten, dennoch ihre Probleme auf den Tisch legen zu können, klagte er über Schlafstörungen »seit einigen Nächten«. »Wissen Sie, was diese Schlafstörungen verursacht?« »Stress, denke ich.« »Hat dieser Stress denn gerade in der jüngsten Zeit zugenommen?« »Er hat sich aufgestaut, würde ich sagen.« Bei allen weiteren Versuchen, irgendetwas über diesen Stress herauszufinden, hatte er gemauert. »Was wollen Sie denn von mir, Uriah? Mit welchen Erwartungen sind Sie zu mir gekommen?« »Dass Sie mir helfen, Stress abzubauen.« »Da gibt es schon Möglichkeiten. Aber wenn Sie sich in einer akuten Notsituation befinden, vielleicht am Beginn einer Depression, dann nützt es nichts, über Mittag eine halbe Stunde zu meditieren, um nachher gleich wieder in denselben Trott einzusteigen. Dann müssen Sie ernsthaft herunterfahren, eine Weile sogar ganz pausieren.« Zunder hatte sich am Kopf gekratzt. Kinny wunderte sich immer wieder, mit welchen Vorstellungen die Leute zu ihr kamen. Als erhofften sie sich von einem einzigen Gespräch mit ihr das Rezept zur Behebung ihrer Probleme. »Eine Krankschreibung, meinen Sie«, hatte er schließlich gesagt. »Ja, eine Krankschreibung. Die kann ich Ihnen nicht ausstellen, aber ich kann einen Brief an Doktor Wigoder schreiben und ihn bitten, dass er Ihnen rasch einen Termin gibt. Von ihm erhalten Sie dann die Krankschreibung.« Er sah sie unsicher an, und für einen Moment erinnerte er sie an ihren Yorkshireterrier Itztrubal, an diesen resigniert-erwartungsvollen Blick, wenn er darauf wartete, das im Napf bereitliegende Futter zu verschlingen, bis sie das ausschlaggebende »o.k.« ausgesprochen hatte. Kinnys Tochter Mia hatte den Hund seinerzeit ohne Rücksprache mit Kinny in ihre Wohnung gebracht. Und Mia war es auch gewesen, die dann im Internet recherchiert hatte, dass das Training eines solchen »O.k.«-Kommandos zu einer anständigen Hundeerziehung gehörte und dass das Fehlen ebendieses Kommandos der Grund sein musste, warum Itztrubal sich nicht gleich auf den vollen Fressnapf stürzte, sondern diesen sonderbaren Blick aufsetzte und dabei den Kopf auffordernd nach hinten drehte. Seine vorherigen Besitzer, das ermordete Ehepaar Wacholder, mussten ihn zu diesem Gehorsam erzogen haben. »Ich gehe zu Wigoder«, hatte Zunder dann gesagt. »Aber Sie brauchen ihm nicht zu schreiben. Ich werde ihm sagen, dass ich bei Ihnen war, das sollte ja reichen.«   Die Bureka war fett und der Käse zu salzig, der Kaffee immerhin trinkbar. Den Leuten an den Tischen rundum sah man an, dass niemand dasaß, weil er sich diesen Ort ausgesucht hatte. Eine Gruppe strohblonder Rucksacktouristen saß um einen Tisch, jeder mit seinem Handy beschäftigt, dazwischen riefen sie sich Namen von Orten zu – sie schienen jetzt, nach der Landung, ihre Reise überhaupt erst richtig zu planen. Ein arabischer Geschäftsmann im feinen Zwirn, der einen eleganten Trolley neben sich stehen hatte, nippte an einem Espresso im Kartonbecher. Wahrscheinlich wartete er auf die nächste Zugverbindung, einen verspäteten Taxifahrer oder ein Familienmitglied, das ihn abholen sollte. Eine ältere Frau sprach über die Lautsprecher ihres Telefons mit einem hörbar keuchenden »Shuli«, offenbar ihr Sohn, begleitete ihn für alle hörbar auf jedem Schritt seines Weges, vom Fingerdock durch die biometrische Passkontrolle, die lange weite Rampe hinunter in die Ankunftshalle mit den Kofferbändern und dann auch noch während der ewigen Warterei auf das Aufgabegepäck. »Die Idioten haben das Gehlaufband auf der Rampe abgestellt«, maulte Shuli, den Kinny sich als adipösen Mittdreißiger vorstellte. »Was willst du?«, sagte die Mutter, »alles in diesem Land ist im Abwärtsgang.« »Ja, alles außer dem Laufband auf dieser Rampe hier«, meinte der Sohn. Die Mutter schien nicht zu verstehen, was er meinte, aber Kinny grinste in sich hinein. Gerade wollte sie checken, ob der Flieger aus Frankfurt nun endlich gelandet sei, da klingelte ihr Telefon. Der Anruf kam von Helmuts deutscher Nummer über eine Internetverbindung, und während Kinny im Hintergrund noch die plärrenden Anweisungen der Flugassistentin nach der Landung hörte, rief Helmut auf Englisch in die Sprechmuschel: »Wir sind am Ausrollen – hast du’s zum Flughafen geschafft?« »Ja«, sagte Kinny, sicher viel weniger enthusiastisch, als Helmut erwartet hätte, »ich bin da. Warte in der Ankunftshalle. Lass dir Zeit, ich habe noch einen ziemlich heißen Kaffee vor mir stehen.« »Alles klar«, sagte Helmut. »Bis gleich. Freue mich.«   Das zweite Gespräch mit Uriah Zunder hatte länger gedauert als das erste. Kinny hatte ihn zur Begrüßung erstaunt gefragt, ob etwas mit der Krankschreibung nicht geklappt habe, und Zunder hatte in einem betont selbstsicheren, beinahe triumphalen Ton erklärt, er habe sich entschlossen, Wigoder doch nicht anzurufen. »Und warum nicht?«, fragte Kinny. »Eine Krankschreibung passt jetzt überhaupt nicht.« »Sie haben Angst, dass das Ihre Kandidatur für die Bezirkskommandantur beeinträchtigen könnte?« Er schwieg für einen Moment. »Helfen würde es nicht«, meinte er schließlich. Seine Augen wichen den ihren aus. Kinny stützte ihr Kinn auf die Hand und fixierte ihn, bis er nicht umhinkam, sie anzuschauen. Erst als ihre Blicke sich trafen, sagte sie langsam: »Sie haben mir bis jetzt nicht gesagt, was es sein könnte in Ihrem Leben, das diese Unruhe und Schlaflosigkeit verursacht. Vielleicht wäre es an der Zeit, darüber zu reden.« »Wir haben doch letztes Mal schon darüber gesprochen. Es ist dieser immense Stress in den letzten Monaten.« Kinny rieb sich zweifelnd die Stirn. »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass es nicht einfach ein Burnout ist. Sie schlafen schlecht, das könnte auf eine Depression hindeuten. Und es scheint mir, Sie haben das Bedürfnis zu reden, deshalb sind Sie schon einmal hergekommen. Vielleicht habe ich zu rasch eine Krankschreibung empfohlen, das hat Sie womöglich abgeschreckt. Aber den inneren Wunsch, etwas Bestimmtes zu erzählen, das Ihnen den Schlaf raubt, haben Sie sehr wohl – sonst wären Sie heute nicht wiedergekommen. Auch wenn Sie jetzt dennoch Hemmungen haben, darüber zu sprechen.« Zunder sagte längere Zeit gar nichts. Kinny sah, dass er mit dem Wunsch kämpfte, einfach aufzustehen und zu gehen, und sich andererseits der Sinnlosigkeit bewusst war, ein ums andere Mal die Psychologin aufzusuchen, ohne den Mund aufzumachen. Schließlich obsiegte seine Vernunft. »Ich bin zuletzt in meinen Führungsqualitäten infrage gestellt worden. Zum ersten Mal in meiner Laufbahn.« Er sprach nicht weiter. »Können Sie konkreter sagen, in welchem Zusammenhang das geschah?« »Nein, das möchte ich nicht.« »Hat das Ihr Selbstwertgefühl beschädigt? Gerade in einer Phase, in der Sie einen großen Karriereschritt planen?« Er wiegte den Kopf, offenbar unentschlossen, ob man das so sagen könne, und auch, ob dies das entscheidende Problem sei. Kinny spürte, dass da ein Schmerz sehr tief in ihm saß, und sie war keineswegs sicher, dass sie ihn in diesem Gespräch aus ihm herausholen könnte. »Ist die...


Bodenheimer, Alfred
Alfred Bodenheimer, geboren 1965 in Basel, muss das literarische Schreiben wegen seiner Arbeit als Professor für Jüdische Literatur- und Religionsgeschichte an der Universität Basel auf wenige Wochen im Jahr beschränken. Dann aber fühlt er sich, als würde sich ein Ventil ungebremster Kreativität öffnen. Oft unterwegs zwischen der Schweiz und Israel, wo seine Familie lebt, sieht er sich als Pendler zwischen zwei Welten, was seinen Blick für beide Länder und Gesellschaften schärfe.



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