Buch, Deutsch, Band 23, 302 Seiten, Format (B × H): 213 mm x 141 mm, Gewicht: 381 g
Reihe: Kultur der Medizin
Unmoralische Forschung in Deutschland, Japan und den USA im 20. Jahrhundert
Buch, Deutsch, Band 23, 302 Seiten, Format (B × H): 213 mm x 141 mm, Gewicht: 381 g
Reihe: Kultur der Medizin
ISBN: 978-3-593-38582-2
Verlag: Campus
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Vorwort: Die Auseinandersetzung in der BRD mit den medizinischen Verbrechen der Nazi-Zeit
Gernot Böhme
Einleitung: Der Baum der Erkenntnis und seine ambivalenten Früchte
William R. LaFleur
Deutschland
Versuche mit Menschen - historische Entwicklung und ethischer Diskurs
Rolf Winau
Moralische Probleme medizinischer Forschung - Argumentationsprofile in der Zeitschrift "Ethik" und ihr Kontext
Andreas Frewer
Das Schweigen der Gelehrten
Benno Müller-Hill
Ethik des Bösen - Die medizinischen Experimente im Nazi-Reich als eine Herausforderung und die Lehren, die wir daraus ziehen können
Arthur L. Caplan
Den Fall Viktor von Weizsäcker ernst nehmen - Zur Topik der Bioethik
Gernot Böhme
Japan
Die Einheit 731 und die 1989 entdeckten Schädel - Ärzte im organisierten Verbrechen
Kei-ichi Tsuneishi
Die Einheit 731 in der Nachkriegspolitik nationalen "Vergessens"
Frederick R. Dickinson
"Tödliche Wissenschaft" - Die Humanexperimente der japanischen Armee in China, 1932-45
Till Bärnighausen
Vereinigte Staaten von Amerika
Biologische Waffen - Die Vereinigten Staaten von Amerika und der Koreakrieg
G. Cameron Hurst III
Experimentelles Unrecht - Schusswundenforschung und Flugmedizin Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA
Susan Lindee
Stolpersteine auf dem Weg zur Bioethik - Humanexperimente in der Frühzeit des Kalten Krieges
Jonathan D. Moreno
Nachwort: Den Verlockungen von Utopien widerstehen -
Forschung, moralische Rechtfertigung und die Ethik von Hans Jonas
William R. LaFleur
Autorenverzeichnis
Sachregister
Personenregister
Vor nahezu zweitausend Jahren formulierte Marc Aurel eine Forderung, die angewandt auf die Mitglieder aller Berufsgruppen von ihnen verlangte, "aufrecht [zu]stehen, nicht erst aufgerichtet [zu] werden" (1990: III.5). Aber aus bitterer Erfahrung wissen wir, dass dieses hohe Ideal unrealistisch ist. Berufe, die medizinischen eingeschlossen, genießen heutzutage zum Teil [nur] deshalb das allgemeine Vertrauen der Gesellschaft, weil gewisse Mechanismen dafür sorgen, dass die zugehörigen Tätigkeiten auch normgerecht vollzogen werden.
Einer dieser Mechanismen besteht darin, Aktivitäten, die allgemein an-erkannte moralische Grundsätze verletzen, öffentlich bekannt zu machen - in der Vergangenheit wie der Gegenwart. Dies wurde auf eindrucksvolle, ja sogar schockierende Weise durch Berichte über einige Ärzte deutlich, die im Dienste des US-amerikanischen Militärs im Abu-Ghraib-Gefängnis im Irak tätig waren. So wurde die wichtigste britische medizinische Fachzeitschrift The Lancet ihrer Verantwortung gerecht, indem sie darauf aufmerksam machte, dass
"Regierungsdokumente beweisen, dass das medizinische System des US-Militärs nicht fähig war, die Menschenrechte der Häftlinge zu schützen, sondern stattdessen manchmal mit dem Vernehmungspersonal oder beleidigendem Wachpersonal gemeinsame Sache machte und über Verletzungen oder Todesfälle durch Misshandlungen nicht korrekt berichtete" (Miles 2004: 725).
Wir sollten große Versäumnisse der Berufsethik nicht länger mit "besonderen Umständen in Kriegszeiten" (war-time conditions) entschuldigen - als ob diese statistisch gesehen so selten oder ungewöhnlich wären, dass man übliche Standards gegebenenfalls einfach über Bord werfen könnte. Tatsache ist, dass eine eindeutige und scharfe Trennungslinie zwischen "Kriegszeiten" und "Friedenszeiten", die wir uns wünschen würden, nicht mehr existiert; sie wurde insbesondere in den vergangenen Jahrhunderten durch etwas dazwischen Liegendes verwischt, nämlich durch Zeiten von Kriegsgerüchten, Kriegserwartungen oder Kriegsplanungen. Die Jahre, die wir als "Kalten Krieg" bezeichnen, stellen genau solch eine Grauzone dar, eine, die ein halbes Jahrhundert andauerte und ihre eigene "Kultur" hervorbrachte (Whitfield 1991).
Die Medizin war in das Dilemma des Kalten Krieges verwickelt - und zwar von Beginn an, also ab 1945. Wir beginnen allmählich zu erkennen, dass die gigantische Menge an Radioaktivität, die über zwei japanischen Städten verteilt wurde, außer der [beabsichtigten] rascheren Herbeiführung des Kriegsendes einen weiteren "Wert" erzeugte. Und dieser wurde dadurch realisiert, dass ein Teil der amerikanischen Mediziner in die Forschung, die diesen "Wert" produzierte, hineingezogen wurde. Wir haben zwar keine direkten Beweise, dass die Erzeugung von Daten zur Erforschung von radioaktiver Strahlung und ihren Auswirkungen ein ausdrücklicher Beweggrund für den Bombenabwurf war, aber die enorme Energie, die anschließend von den USA darauf verwandt wurde, die Daten, die anhand von Bodenproben, [menschlichen] Körpern und Körperteilen in Hiroshima und Nagasaki gewonnen werden konnten, zu sammeln, zu dokumentieren und zu studieren, konfrontiert uns mit etwas zutiefst Beunruhigendem. Selbst, wenn es nur ein Zufallsprodukt war - aus diesen Datenbergen entwickelte sich ein Forschungsprojekt, das später von der Kommission für Atomenergieopfer (Atomic Energy Casualty Commission, AECC) weitergeführt, von den Japanern aber sehr rasch als Missbrauch der Zivilbevölkerung von Hiroshima und Nagasaki als "Versuchskaninchen" in Strahlungstests angesehen wurde.
Die Beweggründe jenes Projektes erhielten insbesondere dadurch einen bitteren Beigeschmack, dass die AECC einer "Nichtbehandlungs"-Politik (no treatment) zustimmte. Das heißt, die hibakusha, die Strahlenopfer, die den Atombombenabwurf zwar überlebt hatten, aber an den Folgen litten und dringend medizinische Versorgung benötigt hätten, erhielten letztere nicht. Die offizielle US-amerikanische Politik verlangte, dass die in den bombardierten Städten tätigen amerikanischen Ärzte Daten sammeln sollten und dementsprechend nichts verabreichen durften, was hätte therapeutisch wirksam sein können (Lindee 1994: 124-142). Mit einer Behandlung der Patienten wären die Rohdaten zwangsläufig "kontaminiert" gewesen, und die Amerikaner waren besessen davon, so unverfälschte Daten wie irgend möglich zu sammeln. Damit liegt die Beweislast zweifellos auf jenen, die gern den Verdacht ausräumen würden, dass viele, wenn nicht sogar alle amerikanischen Ärzte in Hiroshima und Nagasaki ihre grundlegendste berufliche Verpflichtung den "Erfordernissen" der Forschung nachordneten.
Wichtig hierbei ist, dass nicht der gerade beendete Krieg diese Außerkraftsetzung der Berufsethik förderte, sondern ein möglicherweise in der Zukunft bevorstehender Krieg. Lindee bemerkt dazu: "Von den amerikanischen Ärzten (die Ende September 1945 in Japan eintrafen) wurde erwartet, dass sie Pläne für eine atomare Triage in einem zukünftigen Krieg entwickeln" (Lindee 1998: 382). Und solche Pläne erforderten anscheinend, dass die Daten für einen problemlosen Zugriff und eingehendes Studium nach Hause gebracht wurden. So transportierte die AECC mindestens "zwanzigtausend Gegenstände, u.a. Fotos, Autopsieberichte, Kleidungsstücke und viertausend menschliche Überreste" um die halbe Welt nach Washington, D.C., wo sie als Forschungsobjekte verblieben, bis sie - auf Druck der Japaner - im Mai 1973 nach Japan zurückgebracht wurden (Lindee 1998).
Moralische Rechtfertigungen verbergen sich [oft] hinter zunächst einleuchtenden Begründungen, die dann erst im Nachhinein als das, was sie tatsächlich waren, enttarnt werden. Es ist eine zentrale Komponente in ihrer Aufbauphase, dass sie auf "spezielle" oder "außergewöhnliche" Umstände verweisen. Natürlich ist ein Krieg, sei er nun akut im Gange oder nur erwartet, eine kaum schlagbare Rechtfertigung für Praktiken, die stark von dem abweichen, was normalerweise in der Medizin als moralisch vertretbar gilt.