Buch, Deutsch, Band 934, 254 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 216 mm, Gewicht: 3647 g
Reihe: Campus Forschung
Frankreichs Justiz und ihr Verhältnis zum Staat 1946-1981
Buch, Deutsch, Band 934, 254 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 216 mm, Gewicht: 3647 g
Reihe: Campus Forschung
ISBN: 978-3-593-38728-4
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Europäische Geschichte
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Geschichte einzelner Länder Europäische Länder
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein Rechtsgeschichte, Recht der Antike
Weitere Infos & Material
Abkürzungen
Einleitung
1. Das Gewicht der Vergangenheit
1.1 Genese einer Rechtskultur
1.2 Legalität oder Legitimität: Vichy und das Recht
1.3 Der Versuch einer Vergangenheitsbewältigung
2. Die Neu-Ordnung: Die Vierte Republik
2.1 Der Oberste Richterrat
2.2 Die "Krise der Justiz"
2.3 Das Unbehagen an der Rechtsprechung
3. Die Dekolonisierung und die Rolle der Justiz
3.1 Der Konflikt um Algerien
3.2 Die Justiz als Element der Kriegslogik
3.3 Ein neues Regime und das alte Problem
3.4 Die Sondergerichtsbarkeit
4. Die gaullistische Republik und ihre Richterschaft
4.1 Die Verfassung von 1958
4.2 Die Justizreform
4.3 Reibungsflächen
4.4 Die Direktwahl und das Entstehen einer kritischen Öffentlichkeit
4.5 Das Beförderungswesen
5. Formen und Strategien des Wandels
5.1 Eine Gesellschaft im Übergang
5.2 Der Rechtsdiskurs im Wandel
5.3 Die Defizite der Rechtsprechung
5.4 Das Modell zur Problemlösung
5.5 Das Studienzentrum CNEJ
5.6 Die Ecole nationale de la Magistrature (ENM)
6. Die berufsständische Organisation der Richterschaft
6.1 Die Union fédérale des Magistrats
6.2 Spaltungserscheinungen
6.3 Versuch der Öffnung und "service public"
6.4 Eine "Dosis Sauerstoff": Das Syndicat de la Magistrature
6.5 Ziele und Methoden des SM
7. Der Aufbruch
7.1 Mai 68 und die Justiz
7.2 Koinzidenz und Nähe
7.3 Die "sanfte" Revolte
7.4 Ernüchterung und Verhärtung der Fronten
8. Der "Lagerwechsel"
8.1 Ansätze der Politisierung
8.2 Die Mechanismen der Kontrolle
8.3 Die soziale Ungleichheit
8.4 Radikalisierung
8.5 Der politische Standort
9. Schlussbetrachtung
Chronologie
Bibliographie 237
Seit langer Zeit wurde der französischen Richterschaft eine besondere Nähe zur staatlichen Sphäre nachgesagt. Bestätigt wurde diese Einschätzung 1944 durch eine Studie, in der Mitglieder der Résistance versuchten, die politische Orientierung der Richterschaft aufzuklären. Anlass für die Untersuchung war die geringe Beteiligung von Richtern an Aktionen des Widerstandes. Die Autoren der Studie kamen zu dem Schluss, es handle sich um ein Milieu, "das sehr schwer zugänglich ist, nicht nur wegen der individualistischen Prägung der Richter, sondern auch, weil es sich aufgesplittert auf die einzelnen Gerichtsorte verteilt. Zudem ist es weitgehend auf sich selbst bezogen und wenig zugänglich für den Einfluss Außenstehender, zu denen kein Vertrauensverhältnis besteht. Insbesondere aber setzt sich dieses Milieu aus Personen zusammen, die durch lange Tradition und durchdrungen von der Vorstellung der Legalität gewöhnt sind, die Hierarchie zu respektieren. Sie geraten leicht in Bestürzung durch äußere Geschehnisse und durch das, was sie Politik nennen, und sind wenig geneigt, gegenüber den bestehenden Machtverhältnissen Widerstand zu leisten."
Ein ganz anderes Bild ergab sich eine Generation später, als der Richterverband Syndicat de la magistrature in der Beschlussfassung seines Jahreskongresses 1971 das richterliche Mandat mit den Worten beschrieb: "In Wahrheit ist die Justiz eine Gegengewalt zum Staat." Diese neue Deutung blieb offenbar nicht ohne Auswirkung in der Praxis, denn vier Jahre später bezichtigte ein ehemaliger Justizminister in der Zeitschrift Paris-Match den Großteil der jungen Richter, "sich der Rechtsprechung zu bedienen, um die Revolution einzuführen, um eine andere Gesellschaft an die Stelle der heutigen zu setzen".
Auch wenn die letztere Charakterisierung polemisch zugespitzt sein mag, so überrascht doch der offenkundige Kontrast zwischen den Deutungsmustern. Wie erklärt sich der Wandel, der aus den seit jeher als "Mandarine" bezeichneten Richtern einen Berufsstand werden ließ, dem "revolutionäre" Bestrebungen vorgeworfen werden konnten? Welches sind die Gründe, welches die Motive, die die Gesinnung, das eigene Rollenverständnis und den politischen Standort der Richter so nachhaltig veränderten, dass selbst das seit jeher vorherrschende Verständnis der Staatsbeamten, ihre Aufgabe bestehe in der Aufrechterhaltung der politischen Ordnung, darüber in den Hintergrund trat?
Eingangs stellt sich die Frage, was unter dem Begriff "Richterschaft" im Frankreich der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen ist, wie dieser Berufsstand sich zusammensetzte und welche Gemeinsamkeiten die Mitglieder verbanden.
Zu den "juges", bzw. zur "justice judiciaire", gehörten in erster Linie die Recht sprechenden Richter, die im Französischen auch als die "sitzenden Richter" bezeichnet werden, "les juges assis" oder auch "les juges du siège". Diese waren auf Grund ihrer Ausbildung, die aus der an den Rechtsfakultäten absolvierten "licence de droit" und einer darauf folgenden praktischen Anleitung bei einem Gericht bestand, zum Richter berufen worden. Der letztere Teil der Ausbildung wurde ab 1958 ersetzt durch ein etwa zweijähriges Studium an der Richterschule, einer Institution, die im europäischen Rahmen eine Sonderstellung einnimmt. Manche der Besonderheiten, die sich in der Geschichte der Richterschaft während des Untersuchungszeitraums einstellten, lassen sich denn auch auf diese Ausbildungsform zurückführen.
Eine Sonderform der französischen Justiz stellt auch die Tatsache dar, dass die Staatsanwälte unter die Richterschaft gezählt werden, nämlich als "stehende Richter", "les juges debout" oder "les juges du parquet". Dies beruht darauf, dass die Funktionen beider Berufsgruppen austauschbar sind und Berufslaufbahnen häufig den Wechsel der einen Sparte in die andere ausweisen. Ungeachtet dessen bestehen zwischen beiden Kategorien administrative Unterschiede. So gelten und galten die Recht sprechenden Richter als in höherem Maß von der politischen Administration unabhängig - was in der Untersuchungsperiode wenig der gelebten Wirklichkeit entsprach -, waren ihnen doch einige Garantien, zum Beispiel die der Unabsetzbarkeit, zugestanden, die die relativ enge Anbindung an die staatliche Führung abmildern sollten. Die Staatsanwälte hingegen waren, als Vertreter der Staatsmacht vor Gericht, direkt der Weisungsbefugnis des Justizministeriums unterstellt.
Die Forderung nach mehr Selbstbestimmung, die die "sitzenden" Richter während des ganzen Untersuchungszeitraums mehr oder minder lautstark erhoben, bildete, wie sich in der Studie zeigt, ein zentrales Motiv für die stürmische Entwicklung, die der Berufsstand während des Untersuchungszeitraums durchlief. Jedoch stand seit alters her in Frankreich dem Anspruch auf den Status einer "Dritten Gewalt", also auf weitgehende Unabhängigkeit von Exekutive und Legislative, die weit verbreitete Befürchtung vor einem "gouvernement des juges" entgegen, wie es in bestimmten Phasen des Anciem Régime verwirklicht gewesen war. Nun allerdings, während der Vierten und des ersten Teils der Fünften Republik, gründete sich der Widerstand gegen die Bestrebungen der Richterschaft nach mehr Autonomie weniger auf die Befürchtungen, ein "gouvernement des juges" könne sich über die gewählten politischen Akteure hinwegsetzen und demokratisch nicht legitimierte Macht entfalten, sondern resultierte vielmehr aus dem Bestreben der Exekutive, sich ein Instrument der politischen Kontrolle zu bewahren, das sowohl zur Durchsetzung gaullistischer Planungsvorhaben als auch zur Aufrechterhaltung der etablierten Ordnung nach traditionellem Muster dienen konnte.
Der etymologische Ursprung des Begriffs "Aufstand" bezeichnet den Bewegungsablauf von einer ruhenden Position in eine aufgereckte, bewegte Position. Im übertragenen Sinn verdeutlicht der Begriff in Bezug auf eine Gruppe von Menschen den Übergang von einem Zustand der Anpassung an vorgegebene Regeln und Verhaltensmuster hin zu einem Zustand der Auflehnung, des Protestes und des Widerstandes. Einen derartigen "Aufstand" vollzog die französische Richterschaft im Zeitraum von 1946 bis 1981. Mit der Wahl von François Mitterrand zum Staatspräsidenten 1981 und mit dem Wahlsieg der linken Parteien in der Nationalversammlung fand der "Aufstand der Richter" ein Ende. Ab da folgte das Verhältnis der französischen Justiz zum Staat anderen Vorzeichen, nicht unbedingt konfliktfreier auf längere Sicht, aber doch in anderer Weise auf Augenhöhe.