E-Book, Deutsch, 179 Seiten
Bolten / Equit / Schanz Bindungsstörungen
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-8409-2732-4
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
E-Book, Deutsch, 179 Seiten
Reihe: Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie
ISBN: 978-3-8409-2732-4
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Das Konstrukt der Bindungsstörungen umfasst laut den gängigen Klassifikationssystemen eine heterogene Gruppe von Auffälligkeiten der sozialen Funktionen und des Beziehungsverhaltens bei Kindern. Diese entwickeln sich als Folge länger anhaltender vernachlässigender Umgebungsbedingungen, zu denen u.a. Vernachlässigung, Misshandlung oder auch ein häufiger Wechsel der Bezugspersonen gehört. Damit unterscheiden sich die Bindungsstörungen insofern von anderen Störungen, dass bereits in der klassifikatorischen Definition ein ätiologischer Faktor enthalten ist.
Der Leitfaden stellt praxisorientiert das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Bindungsstörungen im Kindesalter dar. Aufbauend auf dem aktuellen Stand der Forschung werden Leitlinien zur Diagnostik, Verlaufskontrolle, Behandlungsindikation und Therapie dieser Störungen formuliert und ihre Umsetzung in die klinische Praxis dargestellt. Durch die Bereitstellung zahlreicher Materialien für den diagnostischen und therapeutischen Prozess, inkl. der Arbeit mit Eltern, sowie unterschiedlicher Fallbeispiele soll die Umsetzung der Leitlinien im klinischen Alltag erleichtert werden.
Zielgruppe
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut_innen, Kinder- und Jugendpsychiater_innen, Kinder- und Jugendmediziner_innen, Ärztliche und Psychologische Psychotherapeut_innen, Psychiater_innen, (Sozial-) Pädagog_innen, Erzieher_innen, Sozialarbeiter_innen sowie Mitarbeiter_innen in Familienberatungsstellen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Verhaltenstherapie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Kinder- & Jugendpsychiatrie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Familientherapie, Paartherapie, Gruppentherapie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Psychopathologie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Weitere Infos & Material
1;Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches;7
2;Inhaltsverzeichnis;9
3;1Stand der Forschung;11
3.1;1.1 Klinische Bindungsforschung: Von den Anfängen bis zur Gegenwart;11
3.2;1.2Bindungsverhalten über die Lebensspanne;12
3.3;1.3 Abgrenzung des Störungsbegriffs der Bindungsstörung;16
3.4;1.4Definition und Klassifikation;17
3.5;1.5Epidemiologie und Komorbiditäten;24
3.6;1.6 Differenzialdiagnostik und Probleme der Diagnosestellung;25
3.7;1.7Pathogenese;25
3.8;1.8Verlauf und Prognose;38
3.9;1.9Therapie;42
3.10;1.10Zusammenfassung;54
4;2Leitlinien;55
4.1;2.1 Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle;55
4.2;2.2Leitlinien zur Behandlungsindikation;88
4.3;2.3Leitlinien zur Therapie;94
5;3Verfahren zu Diagnostik und Therapie;114
5.1;3.1 Verfahren zur Diagnostik und Verlaufskontrolle;114
5.2;3.2Verfahren zur Therapie;122
6;4Materialien;125
7;5Fallbeispiele;147
7.1;5.1Daniel (2;6 Jahre);147
7.2;5.2Franziska (6 Jahre);152
7.3;5.3Tom (4 Jahre);160
8;6Literatur;166
1 Stand der Forschung
1.1 Klinische Bindungsforschung: Von den Anfängen bis zur Gegenwart
In diesem ersten Kapitel werden die Meilensteine der Klinischen Bindungsforschung ab den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts skizziert, die wesentlich zum heutigen Wissensstand beigetragen haben, welcher in den nachfolgenden Kapiteln detailliert dargestellt wird. Säuglinge kommen mit einem angeborenen Bedürfnis nach Schutz durch soziale und emotionale Nähe zur Welt. Eine fürsorgliche und liebevolle Beziehung ist zentral für die gesunde Entwicklung von Kindern, denn im Rahmen der Interaktionen mit den Hauptbezugspersonen entwickeln sich emotionale und soziale Kompetenzen. Die Folgen einer gestörten Mutter- Kind-Beziehung bzw. eines Aufwachsens in Betreuungssystemen, die durch ein hohes Maß an Diskontinuität und einen Mangel an emotionaler Zuwendung geprägt waren, wurden erstmals von Spitz (1945) untersucht. Spitz beschrieb die resultierenden Verhaltensauffälligkeiten anhand dreier Phasen, von denen die erste durch anhaltendes Weinen und Schreien, die zweite durch Rückzug und die dritte durch Aufgabe mit Verlust der Lebensfreude gekennzeichnet sei. Er bezeichnete die Verhaltensauffälligkeiten als „anaklitische“ (von altgriechisch anaklinein – sich anlehnen) Depression bzw. bei sehr langer andauernder Deprivation als „psychogenen Hospitalismus“. Der Begriff der „Bindung“ geht auf die Arbeiten des britischen Arztes, Kinderpsychiaters und Psychoanalytikers Bowlby zurück. Bowlby legte in den 1950er Jahren den Grundstein für die Entwicklung der Bindungstheorie, als er im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die psychische Gesundheit von obdachlosen Kindern im Nachkriegseuropa und die Zustände in Kinderheimen und Erziehungsanstalten untersuchte (Bowlby, 1951). Da vorangegangene psychoanalytische und behavioristische Ansätze in ihrem Erklärungsgehalt nicht ausreichend waren, um die heterogenen Verhaltensreaktionen der untersuchten Kinder zu erklären, formulierte Bowlby in seinem WHO-Bericht erstmals wesentliche Grundannahmen seiner Theorie über die Bindung zwischen Bezugspersonen und ihren Kindern.
Wegweisende empirische Befunde zum Bindungsverhalten stammten in den Sechzigern von dem Primatenforscher Harlow und in den Siebzigern von Ainsworth, welche nach ihrer Promotion in Bowlbys Arbeitsgruppe mitwirkte. In einer Reihe von Experimenten wies Harlow nach, dass ein isoliertes Aufwachsen bei jungen Rhesusaffen zu schwerwiegenden Verhaltensauffälligkeiten sowie einem verringerten Explorations- und Spielverhalten führt (Harlow, Dodsworth & Harlow, 1965a). Ainsworth untersuchte das Verhalten von Kleinkindern mittels des von ihr entwickelten Fremde-Situations-Tests (FST), welcher als standardisiertes Laborparadigma die Reaktionen von Kleinkindern auf Trennungen und Wiedervereinigungen mit ihrer primären Bezugsperson untersucht (Ainsworth, Blehar, Waters & Wall, 1978; Ainsworth & Witting, 1969). Aufbauend auf diesen Befunden konnte das Explorationsverhalten als wesentlicher Bestandteil in die Bindungstheorie integriert werden.
Das Wechselspiel aus Bindungs- und Explorationsverhalten ist entscheidend von einer feinfühligen und sensitiven Interaktion zwischen Bezugsperson und Kind abhängig. Die Bedeutsamkeit dieser feinfühligen Reziprozität wurde seit dem Ende der siebziger Jahre mit dem sogenannten „Still-face“-Paradigma nachgewiesen (Tronick, Als, Adamson, Wise & Brazelton, 1978). Mithilfe dieses Paradigmas konnte eindrücklich gezeigt werden, dass das elterliche Ignorieren des kindlichen Interaktionsangebots zu Unlust, Protest und deutlichen Anzeichen von Stress beim Kind führt (Mesman, van Ijzendoorn & Bakermans-Kranenburg, 2009). Papousek und Papousek (1986) führten elterliche Defizite in dieser eigentlich biologisch angelegten elterlichen Verhaltensdisposition insbesondere auf psychische Störungen, unzureichende eigene Bindungserfahrungen in der Kindheit, gegenwärtige negative Beziehungserfahrungen, psychosoziale Stressfaktoren oder genetische Prädispositionen und damit assoziierte neurobiologische Veränderungen auf Seiten der Bezugspersonen zurück.
Ab dem Anfang der Zweitausender Jahre wurde die klinische Bindungsforschung entscheidend durch das „Bucharest Early Intervention Project“ geprägt (Zeanah, Fox & Nelson, 2012; Zeanah et al., 2003). Durch eine randomisierte Gruppenzuteilung und ein längsschnittliches Design konnte mit diesem Projekt erstmals auf hohem methodischem Niveau nachgewiesen werden, dass frühkindliche Deprivationserfahrungen durch die Verfügbarkeit eines adäquaten Beziehungsangebots in Teilen kompensiert werden können.
1.2 Bindungsverhalten über die Lebensspanne
Sowohl eine sichere Bindungsbeziehung als auch Explorationsverhalten und Selbstständigkeit sind wesentliche Voraussetzungen für die sozial-interaktive Entwicklung eines Kindes. Einerseits brauchen Kinder Schutz und Sicherheit, andererseits sind sie neugierig und wollen die Welt entdecken. Dabei stellen die Bezugspersonen für das Kind den Ort des Rückzugs und Schutzes, also die sichere Basis, dar. Entsprechend wirkt sich eine sichere Bindungsbeziehung positiv auf die Autonomieentwicklung und das Explorationsverhalten aus, da diese Kinder sich sicher sind, dass sie im Falle einer Bedrohung Schutz von ihren Bezugspersonen erwarten können und diese zuverlässig verfügbar sind (Bowlby, 1997).