E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Bolten / In-Albon / Christiansen Psychische Störungen bei Säuglingen und Kleinkindern
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-036292-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-17-036292-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Even very young children may show behavioural problems & especially those that are known as ?regulation disorders=, i.e. crying, sleeping and feeding disorders. Parents and caregivers are often pushed to their limits, endangering the relationship with the child during this vulnerable phase of development. This can result in long-term negative developmental courses, so that early treatment of behavioural problems in infancy and early childhood has a high preventive value. This book presents the most common psychological disorders in early childhood. In addition to the typical symptoms, the conditions that give rise to these and specific therapeutic approaches are also discussed.
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2 Epidemiologie, Verlauf und Folgen
Fallbeispiel
Jan (26 Monate) ist das dritte Kind von Frau K. (24 Jahre). Frau K. ist alleinerziehend und bezieht Sozialhilfe. Die Kinder haben unterschiedliche Väter, zu denen kein Kontakt besteht. Im Erstgespräch berichtet Frau K., dass Jan aus einer Vergewaltigung entstanden sei und sie ihn eigentlich abtreiben wollte. Jedoch habe sie die Schwangerschaft zu spät bemerkt, so dass es für eine Abtreibung zu spät war. Die Schwangerschaft sei insgesamt sehr belastend gewesen, da der Abstand zu den anderen Kindern sehr klein ist. Jan habe von Beginn an sehr viel geschrien und kaum geschlafen. Auch habe er nicht richtig trinken wollen bzw. die Milch gleich wieder erbrochen. Somit sei sie den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, ihren Sohn entweder zu tragen oder zu ernähren. Zunehmend sei die Situation zu Hause für sie immer schwieriger geworden, denn die Versorgung der Kinder habe sie kaum noch zur Ruhe kommen lassen. Das habe dann auch öfter dazu geführt, dass sie ihre Kinder angeschrien habe. Irgendwann habe sich dann das Jugendamt gemeldet. Wenn Jan weine, versuche sie ihn immer auf dem Arm oder mit Hilfe einer Flasche Milch zu trösten. Jedoch schlafe er einfach nicht in der Nacht, so dass sie begonnen habe, ihn einfach vor den Fernseher oder den Tablett-Computer zu setzen, damit sie wenigstens einige Stunden Schlaf in der Nacht bekommen würde. Allerdings funktioniere das auch nicht immer. Manchmal schlage er wie wild um sich, mit dem Kopf auf den Boden oder gegen die Wand. Nachts sei er zwischen 22:00 und 4:00 Uhr eigentlich immer wach. Seinen Schlafbedarf decke er am Tag und schlafe dann auf ihr oder im Kinderwagen. Auf Nachfrage hin berichtet Frau K., dass ihr Sohn aufgrund der Tag-Nacht-Umkehr nicht wirklich an Familienaktivitäten bzw. täglichen Routinen teilnehme. Jan spreche noch nicht und sei motorisch eher unsicher. So könne er beispielsweise nur an der Hand laufen. Die anderen zwei Kinder sind am Vormittag zwar im Kindergarten, sie selbst komme jedoch kaum zur Ruhe. Das Schreien und Quengeln löse bei ihr häufig Gefühle von Panik aus. Auch fühle sie sich innerlich häufig leer und sehr traurig. Gleichzeitig erlebe sie jedoch auch Phasen mit einer unkontrollierbaren Wut. Auf ihre eigene Gesundheit angesprochen, berichtet Frau K. von ständigen Schmerzen. Lernziele
• Sie kennen die Prävalenzzahlen für das exzessive Schreien, Schlaf- und Fütterstörungen. • Ihnen sind typische Verläufe von Schrei-, Schlaf- und Fütterstörungen vertraut. • Sie können den Begriff Schütteltrauma definieren und kennen dessen Ursachen. 2.1 Epidemiologie des exzessiven Schreiens
Vermehrtes Schreien des Säuglings ist einer der häufigsten Vorstellungsgründe in Kinderarztpraxen. Gemäß Papousek (2004) ist etwa in Deutschland jeder 4. bis 5. in den ersten drei Lebensmonaten ein exzessiv schreiender Säugling. Die Prävalenzzahlen schwanken dabei je nach Studie erheblich. Diese Differenzen lassen sich primär auf abweichende Definitionen, die verwendeten Diagnoseinstrumente bzw. die Altersspanne der untersuchten Kinder zurückführen. Reijneveld et al. (2001) verglichen Prävalenzraten in einer niederländischen Population für zehn verschiedene Operationalisierungen des exzessiven Schreiens und fanden Werte von 1,5–11,9 %. Wird die 3er-Regel von Wessel ( Kap. 1) zur Definition herangezogen, liegen aktuelle Prävalenzzahlen in europäischen Ländern zwischen 1,5 % (Niederlande; Reijneveld et al., 2001), 9,2 % (Dänemark; Alvarez, 2004) und 16,3 % (Deutschland; von Kries, Kalies, & Papousek, 2006). Fazil (2011) fand in einer populationsbasierten Beobachtungsstudie in Pakistan Prävalenzzahlen von 21,7 % für das exzessive Schreien, erfasst mit der Wessel-Regel. Außerdem zeigten sich keine statistisch bedeutsamen Unterschiede zwischen exzessiv und normal-schreienden Säuglingen in Hinblick auf das Geschlecht, das Gestationsalter, das Geburtsgewicht, den Geburtsmodus und die Ernährungsform. Lediglich bei Erstgeborenen fanden sich signifikant höhere Prävalenzen für das exzessive Schreien. Auch aufgrund der hohen Entwicklungsabhängigkeit der Symptomatik schwanken die Prävalenzzahlen für das exzessive Schreien sehr stark – je nach Alter der untersuchten Säuglinge. So fanden von Kries et al. (2006), dass von den untersuchten Säuglingen zwar 16,3 % innerhalb der ersten drei Lebensmonate exzessiv schrien, aber nur 5,8 % über den dritten und 2,5 % über den sechsten Lebensmonat hinaus. Olsen et al. (2019) untersuchten in einer dänischen Studie, die Häufigkeit von Komorbiditäten zwischen den drei Störungen Schrei-, Schlaf- und Fütterungstörungen in einer populationsbasierten Stichprobe von 2 598 Säuglingen im Alter von 2–6 Monaten. Sie fanden dabei Prävalenzzahlen von 2.9 % (zwei Symptombereiche) und 8.6 % (drei Symptombereiche). Geringe mütterliche Schulbildung und ein Migrationshintergrund waren dabei die Hauptprädiktoren für das Persistieren der Regulationsproblematik. Wolke, Bilgin und Samara (2017) verglichen in ihrem systematischen Review Daten aus insgesamt 28 Studien und fanden keine statistische Evidenz für einen »universalen« Gipfel der Gesamtschreidauer mit ca. 6 Wochen, obwohl ein leichter Anstieg des Schreiens über die ersten 5–6 Wochen über alle Studien hinweg beobachtet werden konnte. Dagegen war die Abnahme der Schreidauer zum Ende der ersten 3 Lebensmonate in allen untersuchten Studien deutlich erkennbar. Die Autoren berichten von sehr unterschiedlichen Prävalenzen innerhalb der verschiedenen Länder und in den unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Säuglings. Die berichteten Zahlen lagen zwischen 2,1 % (5–6 Wochen, Japan) und 34.1 % (3–4 Wochen, Canada). 2.2 Verlauf und Folgen des Exzessiven Schreiens
Hemmi, Wolke und Schneider (2011) zeigten in einer Metaanalyse, dass Kinder mit persistierenden Schrei-, Schlaf- oder Fütterproblemen in der Kindheit häufiger Verhaltensprobleme haben. Die Metaanalyse stützt sich auf 22 Studien, die zwischen 1987 und 2006 durchgeführt wurden und bezog insgesamt ca. 17 000 Kinder in die Analyse ein. Die Autoren kommen zum Schluss, dass Babys mit Schrei-, Schlaf- oder Essproblemen, welche über die ersten drei Lebensmonate hinweg andauerten, ein deutlich höheres Risiko für spätere Verhaltensstörungen wie aggressives und destruktives Verhalten sowie Aufmerksamkeitsdefizite haben. Das Risiko war umso höher, je mehr Bereiche der Verhaltensregulation (Schreien, Schlafen, Füttern) betroffen waren. In einer prospektiven Studie mit 64 Säuglingen, die an exzessivem Schreien über den dritten Monat hinaus litten, entwickelten in den folgenden 8 Jahren 18,9 % starke und 45,3 % mäßige Hyperaktivitätssymptome mit sozialen Verhaltensstörungen (Wolke, Rizzo, & Woods, 2002). Die Eltern berichteten weiterhin, dass die persistierend schreienden Kinder in ihrer Emotionalität negativer, schwieriger und weniger anpassungsfähig waren. Auffallend sind auch die Parallelen zwischen der Möglichkeit, Kinder mit Regulationsstörungen durch Hyperstimulation zu beruhigen und der klinischen Beobachtung, dass ADHS Kinder oft stundenlang konzentriert am Computer spielen können, ohne dass sie als überstimuliert auffallen. Ob eine Kausalität besteht und wie sie sich entwickelt, bleibt jedoch unklar. Es kann aber angenommen werden, dass die Impuls-, Emotions- und Verhaltenskontrolle, welche eine zentrale Stellung bei den verschiedenen Störungen einnimmt, zu einem erheblichen Anteil durch die selbstregulatorischen Kompetenzen bestimmt wird. (Wolke, Schmid, Schreier, & Meyer, 2009) fanden außerdem, dass vermehrtes Schreien mit leichten kognitiven Entwicklungsdefiziten, erfasst mit der Columbia Mental Maturity Scale (CMMS), im Alter von 56 Monaten assoziiert waren. Diese Zusammenhänge waren besonders ausgeprägt, wenn mehrere regulative Bereiche (Schreien, Schlafen, Essen) betroffen waren. Dabei wurde sowohl das Ausmaß des Schreiens als auch die kognitive Leistungsfähigkeit durch die Gestationslänge, neonatale neurologische Komplikationen, beeinträchtige Eltern-Kind-Beziehungen und psychosoziale Probleme beeinflusst. Dysregulierte kindliche Verhaltenszustände können auf Seiten der Eltern zu Erschöpfung, Schlafdeprivation, Ohnmachtsgefühlen und Versagensängsten führen. Auch Wut, Ablehnung, Selbstvorwürfe oder ängstliche Überfürsorglichkeit können die Folge sein. So fanden Vik et al. (2009) bei Müttern, deren...