Borchers Wohin steuert das sozialpsychiatrische Projekt? (eBook als PDF)
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-88414-744-3
Verlag: Psychiatrie-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Menschenbilder und Werte im Wandel
E-Book, Deutsch, 216 Seiten
Reihe: Forschung fuer die Praxis - Hochschulschriften
ISBN: 978-3-88414-744-3
Verlag: Psychiatrie-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Die Sozialpsychiatrie hat an Faszination, die sie in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts auf viele junge ÄrztInnen, PsychologInnen, SozialpädagogInnen, SoziologInnen und Pflegekräfte ausgeübt hatte, verloren. Doch wo ist das bewegende Element dieser Aufbruchphase geblieben? Was hat sich da verändert und warum hat sich die Entwicklung so vollzogen? Das Buch von Edith Borchers sucht hier nach Antworten.
Seit vielen Jahren selbst in der Psychiatrie tätig, wurde der Autorin zunehmend bewusst, dass in der oft grenzwertigen Arbeitsbelastung immer weniger Ideen erkennbar sind, die dem eigenen Handeln einen sinnstiftenden Rahmen geben könnten. Diese Selbstbeobachtung führte zu den Fragen, ob auch andere Akteure im sozialpsychiatrischen Feld dies ähnlich wahrnehmen und wenn ja, welche Gründe aus ihrer Sicht dafür verantwortlich sind. Auf der Basis intensiver qualitativer Interviews hat Edith Borchers solche Antworten eingeholt und zu einem differenzierten Bild der aktuellen sozialpsychiatrischen Landschaft zusammengeSetzt. Zudem gibt sie einen kurzen historischen Überblick und präsentiert eine Porträtgalerie der wichtigen Persönlichkeiten der internationalen sozialpsychiatrischen Reformerszene (u. a. Laing, Goffman, Ciompi, Dörner, Plog). Empfehlenswert für alle älteren und jüngeren Anhänger des sozialpsychiatrischen Projektes, für Psychiatriegeschichte- und Theorie-Interessierte.
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Weitere Infos & Material
Vorwort von Heiner Keupp 9
Einleitung 12
Kapitel 1
1 Psychiatrie – Einblicke 16
1.1 Standortbestimmung 16
1.1.1 Klinische Psychiatrie 20
1.1.2 Antipsychiatrie 22
1.1.3 Sozialpsychiatrie 23
1.2 Porträtsammlung ausgewählter Repräsentantinnen und Repräsentanten der Psychiatriereform 31
1.2.1 Nationale Porträts 31
1.2.2 Internationale Einflüsse 34
1.3 Sozialpsychiatrisch-historisches Streiflicht 50
1.3.1 Die Zeit nach der Kapitulation bis Ende der 70er-Jahre 51
1.3.2 Positionierung der deutschen Reformbewegung 52
1.3.3 Psychiatrie-Enquête 56
1.3.4 Die 80er-Jahre, die Wende 57
1.3.5 Die 90er-Jahre 58
1.3.6 Ein Blick zurück 63
1.4 Annäherung an ein Menschenbild 65
Kapitel 2
2 Methodischer Bezugsrahmen 68
2.1 Qualitative Forschung – eine Begründung 68
2.2 Erste Texte entstehen: die Datendokumentation 77
2.3 Die Auswertung im Prozess – weiteres Datenmaterial entsteht 79
2.4 Anonymisierung und Datenschutz 83
2.5 Beziehungsdynamik und Forschungsposition 84
2.6 Datenreduktion – das gezielte Sampling 88
2.7 Auswertungstechnische Stellenwerte zur Forschungspräsentation 91
6
Kapitel 3
3 2003 – Streiflichter und Gesprächsskizzen 94
3.1 Porträtsammlung der Interviewpartnerinnen und -partner 94
3.1.1 Herr N. – Der Grenzgänger 94
3.1.2 Herr W. – Vom linken Sozialromantiker oder Ein 'Großvater' der Antipsychiatrie erzählt 95
3.1.3 Frau H. – Eine zerrissene Einzelkämpferin 97
3.1.4 Herr T. – Die Geschichte vom Schatzkästchen 99
3.1.5 Herr S. – Ein Mann in den besten Jahren 101
3.1.6 Frau O. – In die psychiatrische Szene hineingewachsen 102
3.1.7 Frau B. – Eine Pioniersfrau und Überlebenskünstlerin 103
3.1.8 Herr F. – Flüchten oder Standhalten 104
3.1.9 Herr M. – Ein Schreiner, alternativ und sozialpolitisch engagiert 106
3.2 Psychiatrie – eine 'querbeet'-Sammlung 107
Kapitel 4
4 Werte und Menschenbilder 110
4.1 Spurensicherung 110
4.2. Menschenbilder 111
4.2.1 Philosophische Dimension 111
4.2.2 Subjektive Relevanz des Menschseins 114
4.2.3 Gesundheit und soziale Verantwortung 121
4.2.4 Verlust von Selbstbestimmung beruflichen Handelns 124
4.2.5 Autonomie und Partizipation kontra Wertewandel 128
4.3 Wertewandel 136
4.3.1 Sozialpsychologische Reflexion gesellschaftlicher Veränderungen 136
4.3.2 Flexibilität als Baustein für eine berufliche Identität 140
4.3.3 Identitätskompetenz als Bedingung für Zukunftsfähigkeit 149
4.3.4 Normalität 154
4.3.5 Anpassung und Widerstandsformen im beruflichen Handeln 154
4.3.6 Identitätskonstruktion aus Anpassung und Widerstand 155
4.3.7 Nützlichkeit und Anerkennung beruflichen Handelns 160
4.4 Menschenbild – Klientenbild 162
4.4.1 Helfen als Beruf 162
4.4.2 Berufliche Identität mit Empowerment-Profil 168
4.4.3 Helfen in heißen Kulturen 173
4.4.4 Narrative Identität beruflichen Handelns 174
4.4.5 Berufliche Identität mit Kohärenz-Profil 180
4.4.6 Identität aus transkultureller Perspektive 186
4.4.7 Souveränität 189
4.5 Zusammenfassung 192
4.5.1 Werte und Menschenbilder 192
4.5.2 Ergebnissammlung der Interviewporträts 193
Kapitel 5
5 Resümee 198
Literatur 202
Danksagung 209
Anhang 210
Die Autorin 216
4 Werte und Menschenbilder – Deutungen – (S. 110-111)
4.1 Spurensicherung
Die Frage nach ihrem Menschenbild löste bei den meisten meiner Gesprächspartnerinnen und -partner zunächst Sprachlosigkeit und Nachdenklichkeit aus. Dazu passte meine eigene Position, weil auch ich mehr Fragen als Antworten hatte: Wer und was ist der Mensch an sich, philosophisch und religiös betrachtet? Im Kontrast zum Allgemeinwesen Mensch steht das Einzelwesen Mensch.
Die Wesenheiten des ganzheitlichen Menschseins umfassen das körperliche, das weibliche, das männliche, das soziale, das denkend-fühlende, das Sinn suchende und das spirituelle Wesen. Nur in der Unterscheidung zu den anderen Menschen kann sich der Einzelne als »Eigenartiger«, als Besonderer erkennen. So betrachtet, suchen wir vor allem in unserer westlich denkenden Kultur die Einzigartigkeit des Menschseins. Dies erklärt vielleicht, warum die Suche nach dem, was das Individuum, das Persönliche oder Subjektive ausmacht, in der Psychologie und in der Pädagogik einen besonderen Stellenwert hat.
Worin unterscheiden sich Begriffe wie Individuum, Subjekt und Identität? Diese Begrif?ichkeiten deutet Daniel64 in seiner Einführung zu Theorien der Subjektivität. Unter Identität versteht er das »Sich-Selbstgleichsein« als Einheit eines individuellen Lebens (Daniel 1981, S. 9). Das Individuum – als einzelnes Exemplar der Gattung Mensch – kennt seine seelisch-geistigen und körperlichen Zustände und kann sich von anderen Menschen und Lebewesen abgrenzen. Von einem anderen von außen betrachtet, kann das Individuum als eine besondere Einheit von äußerer Erscheinung, mit seinem Tun und seinem vermuteten Innenleben gesehen werden (ebd., S. 10).
Das Subjekt dagegen versteht Daniel als Sammelbegriff. Im dialektischen Denken beziehen sich Subjekt und Objekt aufeinander, ihre Beziehung zueinander stellt eine Distanz her, die ermöglicht, etwas zu re?ektieren, etwas zurückzuwerfen. Diese Re?exion wiederum vermag zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden und insofern ist der Wandel darin bereits mit bedacht. Der Mensch ist auch Teil der Gesellschaft, einem Gemeinschaftsgefüge.
So entsteht ein vielfaches, wechselseitiges Sich-Aufeinander-Beziehen. Am Beispiel einzelner Interviews werde ich deren Werte und Menschenbilder verschiedenen Bereichen zuordnen, um den Facettenreichtum der Thematik und auch darin enthaltene Widersprüchlichkeiten zu erörtern. Eingebettet in einen re?exiv-sozialpsychologischen Diskurs kommen meine Interviewpartnerinnen und -partner mit ihren Werten und Menschenbildern zu Wort.