Bossong 36,9°
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-446-24996-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-446-24996-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Anton Stövers Ehe ist zerbrochen, seine Affären sind vorbei, als Wissenschaftler ist er in der Sackgasse. Er will in Rom über Antonio Gramsci, die prägende Gestalt des italienischen Kommunismus, forschen. Dort begegnet er einer jungen Frau, in die er sich obsessiv verliebt. Währenddessen beschäftigt er sich weiter mit der Vergangenheit: Der gebrechliche, fieberkranke Gramsci erholt sich in einem sowjetischen Sanatorium. Er soll Italien vor der Machtübernahme durch Mussolini bewahren, doch stattdessen verliebt er sich in eine russische Genossin. Nora Bossong erzählt mit feinem Sinn für das Absurde vom Konflikt zwischen den großen Gefühlen für einen Menschen und dem Kampf für eine große Sache.
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I EIN PONCHO Der Alte öffnete mir im Bademantel die Tür. Seine Füße steckten in Pantoffeln mit pompösen Quasten, ein scharlachroter Schal lag wie eine Stola um seine Schultern und sein Lächeln war elegant und schüchtern und irr. »Der Dottore aus Deutschland! Piacere piacere piacere –« Gebetsartig wiederholte Professor Brevi die Bekundung seiner Freude und schlurfte mit majestätischer Langsamkeit vor mir her einen langen Flur entlang, von dem diverse Zimmer abgingen, alle mit Antiquitäten und Nippes vollgestellt. Die Wohnung machte einen herrschaftlichen Eindruck, von einer Herrschaft allerdings, die mindestens hundert Jahre zurücklag. Ich roch Naphthalin und Lavendel. Hinter einer der Glastüren huschte ein Schatten vorbei, der Alte blieb stehen, »il Dottor Stöver è venuto, cara!«, und zu mir gewandt erklärte er: »Meine Haushälterin Gabriella.« Er lächelte und errötete leicht. Die Tür öffnete sich und ich sah auf eine winzige, in ein rotes Abendkleid gehüllte alte Dame. Das Kleid mochte ihr einmal gepasst haben, vor zwanzig, dreißig Jahren vielleicht, nun hing es weit und schwer auf ihrem Rosinenkörper. »Oh, es ist Besuch gekommen?«, fragte die Dame in einem sardischen Tonfall und sah Brevi hilfesuchend an. »Aber Pippo, ich habe mir noch gar nicht die Haare gemacht.« Und schon war sie wieder hinter ihrer Glastür verschwunden, wir hörten sie unruhig auf und ab gehen. Der Alte nickte bedächtig, dann entschied er: »Wir müssen weiter!«, als brächen wir zu einer Expedition in ein entlegenes Land auf. An den Wänden des Zimmers hing eine Tapete mit vergilbtem Blumenmuster, Gerümpel war als Mobiliar in den Raum gestellt. Ich hörte zwei erregte Frauenstimmen streiten und etwas schepperte zu Boden. Die Häuser hier waren so gebaut, dass sie das Klackern der Schuhe und das Gezeter der Nachbarn von Wohnung zu Wohnung, von Haus zu Haus leiteten, über Höfe hinweg, wodurch ein grässliches Surren entstand, das einem in der Nacht den Schlaf raubte. Der Alte blickte sich in dem Zimmer um, prüfend, ob er mir etwas zeigen, ein Möbelstück hervorheben, mit einer Seltenheit prahlen könnte. Doch er fand nichts. »Ihnen gefällt das Zimmer?«, fragte er schließlich. »Und wie!«, beteuerte ich. Brevi wiegte zufrieden den Kopf. »Also dann. Und zum Istituto Gramsci sind es von hier aus nur ein paar Minuten.« Er schloss die Tür und ließ mich im Halbdunkel allein. Licht fiel spärlich zwischen den Lamellen des Fensterladens in den Raum. Eine Sprungfeder stöhnte, als ich mich aufs Bett setzte. Es stank nach Schimmel und Rost, ich stand wieder auf, tappte über den kalten Boden. Mit den Zehen stieß ich gegen den Schreibtischstuhl und fluchte leise. Der Fensterladen ließ sich mit etwas Gewalt aufstoßen. Unter mir drehte ein Mann auf einer Vespa Kreise, am Bordstein zersplitterte eine Flasche, jemand fluchte. Kurz sehnte ich mich nach Göttingen zurück, nach unserer sanierten Wohnung im Inneren eines Fachwerkhauses. Die geräuschlosen Straßen vermisste ich, den geputzten Stadtkern mit Gänseliesel und Lichtenberg, Reformhäusern und Dekoläden, die Studenten auf den Holzbänken vor dem Thanner’s. Den Palazzo als anheimelnd zu beschreiben wäre übertrieben gewesen. Ein windschief durch die Jahrhunderte geschippertes Gebäude, in dem es überall leckte und bröckelte, und mir wurde klar, dass Errungenschaften wie Fensterisolation und Kaltschaummatratzen vergleichsweise jungen Datums waren. In meinem Koffer suchte ich nach einem weißen Oberhemd, das die Fahrt unzerknittert überstanden hatte. Als ich es übergezogen hatte, fühlte ich mich ein wenig besser. Geordneter. Vor dem Spiegel, der an der Wand mehr schwankte als hing, band ich mir die Krawatte, betrachtete mein Gesicht, die Krähenfüße an den Augen, die geplatzten Äderchen am Nasenrand und registrierte eine Bewegung in der linken Spiegelecke. Ich zog das Krawattenende durch die Schlaufe, und schon kroch er näher, rückte heran, war da. Gramsci. Er stand dicht neben mir, keine anderthalb Meter groß, schaute durch seine kreisrunden Brillengläser auf den blindfleckigen Spiegel, als blicke er durch eine Fensterscheibe. Er sah weder sich noch mich, aber ich sah uns beide, wie wir fast brüderlich nebeneinanderstanden. Ich überragte ihn, aber ich überragte ihn nur um ein kleines Stück, eine Handbreit etwa. Eine große Hand, aber nur eine Hand. In all den Jahren, die wir schon zusammen arbeiteten, in denen vielmehr ich über ihn arbeitete, waren wir zum vertraulichen Du übergegangen, oder um genau zu sein, hatte ich ihm das Du aufgedrängt und er hatte keine Gelegenheit gehabt, es abzuweisen. Gramsci, mit vollem Namen Antonio Gramsci, war seit nunmehr über siebzig Jahren tot. Man muss ihn sich ein wenig untersetzt vorstellen, eben nicht groß geraten, aber die großen Gedanken entstehen nicht in der Höhe, sondern in der Tiefe oder – so könnte man sagen – in der Breite und die hatte er. Eine ungewöhnliche Breite, die sich nicht um die Hüften herum ansetzt, über den Gürtel oder den Hosenbund hinauslappt und rund um den Nabel herum anschwillt. Ihm wuchs sie unterhalb des Nackens, zwischen den Schulterblättern und unter dem Brustbein. Es mag sein, dass ein Sturz der Grund für all das war. Das Hausmädchen stritt es ab, stritt es ab, stritt es vehement ab, und gab es am Ende doch zu: Sie hatte ihn fallen gelassen, den dreijährigen Gramsci, und sein Wachstum missachtete seither jede Regel. Während die anderen in die Höhe schossen, manche mehr, manche weniger, hatte er es bald aufgegeben und richtete sein Interesse auf Entfernteres. Auch in seinen Gedanken begab er sich nun auf Abwege und kehrte bis zuletzt nicht zurück. Der Kleine. Nino. Wenn jemand klein war und ausgerechnet als Mann, wenn er so wenig maß, dass es den anderen wie eine Verwachsenheit, ja wie eine Verzwergung erschien, dann sollte er sich entweder an einem bestimmten Punkt des Lebens von der Sinnlichkeit verabschieden, und je früher, desto besser, desto weniger Quälerei, dann sollte er sich ein Gehäuse aus Gedanken bauen oder vielmehr wachsen lassen, wie es die Schnecken tun und sich dorthinein zurückziehen. Das war die eine Möglichkeit. Oder aber er trainierte sich ein solches Übermaß an Sinnlichkeit an, dass sie die Umgebung stutzig machte, dass man nicht mehr aus noch ein wusste und niemand mehr sah, wer er war oder was oder wie groß. Der eigene Körper musste unter steter Spannung stehen. Ein Fluoreszieren der Nerven. Ein ansteckendes Zittern. Es war eine übertriebene Wärme, die von diesem in jenen Körper floss, ihn ansteckte, wie ein Feuer, das vom einen aufs andere Haus übersprang, und irgendwann lag die ganze Stadt in Asche. In diesem Sommer war ich sechsundvierzig Jahre alt, und je näher ich an die fünfzig herankam, desto häufiger sah ich meine Kontrahenten um mich herum einknicken. Sie wurden beleibt oder gänzlich mürbe, spröde oder übermütig, ihre Körper verkamen unter schlechtgeschnittenen Jacketts, und ihre Hände, mit denen sie den Arm einer jungen Frau zu berühren trachteten, begannen bereits auf dem Weg dorthin, mitten in der Luft zu schwitzen. Sechsundvierzig also, und Hedda hatte vor zwei Jahren schon behauptet, meine Haut würde weicher, meine Arme gäben auf eine seltsame Art nach, wenn sie sie umfasste, ich glaubte das zwar nicht, ich vermutete, dass Hedda etwas an mir zu erkennen meinte, was ihren eigenen Körper betraf, denn ich spürte es ja, ich spüre es von ihren Schultern abwärts, ich spürte es an ihrer Taille, ihrem Bauch, den Hedda mit Tiefenmuskulaturübungen zu traktieren versuchte, aber es waren nicht die Tiefenmuskeln, es war ja nicht einmal das Fett, von dem Hedda nie viel gehabt hatte, es ist das Alter, Hedda, so einfach ist das. Mein Körper hatte sich bisher den Jahren widersetzt, und ich meinte zu wissen, weshalb. Es war für mich auf tiefere Art notwendig, geschmeidig zu bleiben, denn sollte ich tatsächlich einmal altern, dann würde ich wieder so groß, wie ich es einmal gewesen war, würde zurückschrumpfen in die vorpubertäre Zeit, da die Jungen mich über den Schulhof geschubst und die Mädchen nicht einmal über mich gelacht hatten. Nicht einmal das! Jetzt, nachdem ich ein Leben lang neben Gramsci hergetrottet war, er mich verdeckt hatte, getreten, in die kleine Form gezwungen, jetzt war es an ihm, dass er mir einmal, ein einziges Mal zumindest beistand. Hinter mir lagen Wochen und Monate voller Vorwürfe und Verweigerungen, voller Irrsinn und Getöse, ach was, Jahre waren es am Ende gewesen und es rauschte in meinen Ohren. Ich musste zur Besinnung kommen, und dorthin, das wusste ich, kam ich nicht mehr allein. Das Istituto Gramsci lag in der Via Sebino, tatsächlich nur einige Straßen von Brevis Wohnung entfernt, doch schon in der Villa Torlonia, vor dem Casino Nobile, wurden mein Schritte langsamer. Kurz schloss ich ermüdet meine Augen. Um mich hörte ich warmes Stimmengewirr und ich dachte an den Bibliothekar im Institut, jenes letzte Exemplar sowjetrussischer Volkskunst, das einem nicht von der Seite wich, sobald man eines seiner geliebten Bücher in der Hand hielt. An einer Fliederhecke vorbei bog ich in eine Seitenstraße der Via Sebino. Dort wuchs ein Haus über die Straße, hier wucherten Zweige über eine Mauer, und dahinter tauchte der Verkehrskreisel auf, über den sich die Autos wie besessen jagten. Risse zerfurchten die Fassaden um den Platz und Wasserflecken waren darübergeworfen. Zwischen Bankfiliale und einer Parfümerie lag es, das Institut, das eher an ein Militärgelände als an eine Bibliothek denken ließ. Eine Kamera erwiderte kaltäugig meinen Blick, und am Klingelschild war nur fondazione zu lesen, als wolle man geheimhalten,...