Boyle | Grün ist die Hoffnung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

Boyle Grün ist die Hoffnung

Roman
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25196-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 384 Seiten

ISBN: 978-3-446-25196-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Felix Nasmyth hat alles hingeschmissen: Er ist raus aus Kinderchor und Schulorchester, hat der Kirche den Rücken gekehrt, das Studium abgebrochen, geheiratet und sich scheiden lassen. Jetzt mühen er und seine Freunde sich in den abgelegenen Bergen von Kalifornien einen ganzen Sommer lang mit dem Anbau von Hanf ab. Danach wollen sie ernten und eine halbe Million Dollar einsacken. Doch sie haben nicht mit schnüffelnden Nachbarn, sintflutartigen Regenfällen, Felix‘ neuer Liebe und einem lästigen Drogenfahnder gerechnet … Dreist, witzig und spannend: Die Neuübersetzung dieses Romans über drei schräge Typen und ihren Traum vom leichten Geld hat alles, was einen echten Boyle ausmacht.
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Kapitel 1
Ich hab nie was zu Ende gebracht. Ich bin aus der Pfadfindergruppe, dem Chor und der Marschkapelle ausgetreten. Hab aufgehört, Zeitungen auszutragen und in die Kirche oder zum Basketballtraining zu gehen. Ich hab das College abgebrochen, bin mit einem 4-F aufgrund mangelnder mentaler Belastbarkeit dem Militär entgangen, hab das Studium wieder aufgenommen, einen Promotionsstudiengang (Englische Literatur des 19. Jahrhunderts) belegt, in der ersten Reihe gesessen, eifrig mitgeschrieben, mir eine Hornbrille angeschafft und am Vorabend der entscheidenden Prüfung beschlossen, nicht hinzugehen. Ich hab geheiratet, mich bald getrennt und wenig später scheiden lassen. Ich hab das Rauchen, das Joggen und den Verzehr von dunklem Fleisch aufgegeben und jede Menge Jobs hingeschmissen: Totengräber, Tankwart, Versicherungsvertreter, Filmvorführer in einem Pornokino in Boston. Als ich neunzehn war, vögelte ich wie verrückt mit einem spitznasigen, hängebusigen Mädchen, das ich noch von der Highschool kannte. Das Mädchen wurde schwanger. Ich verließ die Stadt. So ziemlich das Einzige, bei dem ich durchgehalten hab, war das Sommerlager. Und davon will ich Ihnen jetzt erzählen. Vor zwei Jahren lebte ich allein. Ich wachte allein auf, putzte mir allein die Zähne, machte irgendwelche Aushilfsjobs, aß Burritos aus einer Pappschachtel, las die Zeitung, zog mich aus und ging zu Bett, alles allein. Das Universum hatte sich für eine Weile zusammengezogen, und ich lernte, mich darauf einzustellen. Ich war einunddreißig. Ich saß mit Männern, die einundfünfzig, einundsechzig, einundachtzig waren, an der Theke eines Diners, schlürfte Tomatensuppe mit Reis und sah der Bedienung zu. Manchmal aß ich mit Freunden zu Abend, spielte Billard, tanzte in überfüllten dunklen Clubs zu flotten Latino-Rhythmen; manchmal kam ich mir vor wie ein bärtiger, in die Betrachtung einer Steinwüste versunkener Asket. An diesem besonderen Abend – es war Ende Februar – blieb ich zu Hause und las. Eine japanische Seilschaft wagte den Aufstieg zum Gipfel des K2, meine Lungen brannten in der dünnen Luft, der tödlich kalte Wind jagte mir Eiskristalle ins Gesicht, als die Nadel des Plattenspielers hängen blieb und Le Sacre du Printemps mit knirschendem Kreischen auf der Stelle trat, als wäre die ganze Truppe aus Najaden und Dryaden und Satyrn in Elastananzügen unvermittelt erlahmt. Ich sah auf. Regen klopfte an die Fenster wie ein schmierig grinsender Voyeur, das Haus gab kleine Geräusche von sich – das Ächzen des Kühlschrankmotors, das Seufzen der Heizung –, das Feuer knisterte ominös um einen Nagel im brennenden Scheit. In diesem Augenblick, wie auf ein Stichwort, läutete es an der Tür. Es war nach zwölf. Ich warf einen reumütigen Blick auf den Fernseher – bleich geschminkte Zombies schlurften über den Bildschirm und kauten dabei bratwurstartige Eingeweide –, legte das Buch beiseite, verknotete den Gürtel meines Bademantels und ging zum Kopf der Treppe. Es läutete erneut, insistierend. Ich wohnte in der Fair Oaks Street, drei Blocks westlich der Mission, in einer Wohnung mit eigenem Aufgang. Es war ein in sechs Farben gestrichenes viktorianisches Haus. Ich hatte vier Zimmer, eine Dachterrasse, einen Flur und eine schöne Aussicht. Bevor die Sprechanlage ihren Geist aufgegeben hatte, war das Signal so leise und verrauscht gewesen, dass ich nicht mal die Stimme meiner Mutter erkannt hätte – ebenso wenig übrigens wie Screamin’ Jay Hawkins’ »I Put a Spell On You«. Ich stand am Kopf der Treppe, drückte, eher neugierig als besorgt, auf den Knopf für den Öffner und sah drei Schatten aus der Nässe dort draußen hereinschlüpfen. Ein Blitz zuckte, Hörner und Geigen kreischten wie eine Alarmsirene ein ums andere Mal denselben gequälten slawischen Ton, und die drei Gestalten polterten bumm-bumm-bumm die Treppe herauf. Für einen bösen Augenblick wich ich zurück und verfluchte mich, weil ich sie so vertrauensselig reingelassen hatte – schattenhafte Gestalten, Fremde, Junkies, mexikanische Betrüger –, doch dann sah ich zu meiner Erleichterung, dass es Vogelsang war. »Felix«, sagte er. »Hey«, antwortete ich. Er hatte eine junge Frau dabei, ihr Haar war so kurz wie das einer ostdeutschen Schwimmerin und weißblond gebleicht. Drei Stufen hinter ihr ging ein Typ Ende zwanzig in Gummistiefeln und einem gelben Regenmantel, von dem im trüben Licht des Treppenhauses ein eigenartig phosphoreszierendes Leuchten ausging. Alle drei sahen aus, als wären sie vier-, fünfmal von der Bay Bridge gesprungen: Die Nasen trieften, das Haar klebte am Schädel, Kragen und Schuhe waren klatschnass. Vogelsang grinste sein Psychopathengrinsen. »Lange her«, sagte er und klopfte mir auf die Schulter. Genauer gesagt: zwei Monate. Vogelsang lebte in herrlicher Abgeschiedenheit in den Bergen oberhalb von Bolinas, wo er ruchlose Geschäfte machte, diverse Perversionen pflegte und Elektrowerkzeug, Holzschnitzereien, gestreifte Barberhop-Stangen sowie kistenweise trockenen Rotwein von obskuren kleinen Weingütern mit Namen wie Ziegenknie oder Sangre de Cristo sammelte. Desgleichen sammelte er antike Motorräder, Kupfertöpfe, Espressomaschinen, so groß wie Kirchenorgeln, geschlechtslose Schaufensterpuppen aus den Fünfzigern (die er bemalte, lackierte und in verblüffenden, obszönen Posen im Haus in Szene setzte), Messer mit Horngriff, tahitische Fischernetze und eine Reihe düster-verkrampfter Ölgemälde mit religiösen Sujets wie der Enthauptung Johannes des Täufers oder den masochistischen Ekstasen von Flagellanten. Alle paar Wochen kam er nach San Francisco, um in Trödelläden zu stöbern, am North Beach herumzuhängen und sich in wilde Partnertauschpartys in Berkeley zu stürzen. Norman Mailer hätte ihn geliebt. In diesem Augenblick schob er die Frau in den Vordergrund. Ich bemerkte, dass in ihrem rechten Nasenflügel ein dünner Silberring steckte und ihre Zehennägel schwarz lackiert waren. »Das ist Aorta«, sagte Vogelsang. Ich hatte sie gleich eingeordnet: College-Punk-Studentin. Vermutlich stammte sie aus Pacific Heights und hieß in Wirklichkeit Jennifer Harris oder Heather Mashberg. Sie gab mir den harten Blick und streckte die Hand aus, die nass und kalt war wie etwas, das man aus einem Teich gezogen hat. Ich neigte den Kopf und verzog die Mundwinkel. »Und das«, sagte Vogelsang und wies auf die Gestalt mit Regenmantel drei Stufen unter ihm, »ist Boyd Dowst, ein Freund von mir aus Santa Rosa.« Daraufhin geriet der Regenmantel in Bewegung, und eine große, knochige Hand wurde über das Treppengeländer gestreckt und ergriff meine. Ich starrte in das Gesicht eines Yankee-Bauern: eckig, mit großen Ohren und Augen, deren Farbe an Stromisolatoren denken ließ. »Ich wohne jetzt in Sausolito«, sagte er und strich sich mit der freien Hand das tropfende Haar aus dem Gesicht. Die andere, freundliche Hand vollführte noch immer pumpende Bewegungen, als erwartete er, dass aus meinen Fingerspitzen Milch oder so spritzte. Ich war barfuß, mein Bademantel war schmuddelig, die hängende Nadel des Plattenspielers bearbeitete meine Nerven wie eine Baumsäge. Ich bat sie herein. Vogelsang trat ins Wohnzimmer, zog die nasse Jacke aus und hängte sie über die Lehne eines Stuhls. Seine Bewegungen waren wie immer rasch und nervös wie die einer Wildkatze, die auf die kleinste Regung, das leiseste Knistern reagiert. Er roch nach Regen, aber da war noch ein anderes Aroma, eine dunkle, urtümliche Ausdünstung. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff: Er roch nach Sex. Als er die Jacke zu seiner Befriedigung arrangiert hatte, wandte er sich mir zu, um dieses und jenes zu erläutern, wobei er kurz innehielt, ein Mundspray aus der Tasche zog, zweimal auf den Knopf drückte und dann mit seinem Monolog fortfuhr, in dem er seine neuesten Erwerbungen beschrieb, die baulichen Veränderungen auf seinem Besitz in Bolinas erwähnte, kurz auf die Fortschritte seiner Investitionen in den Rohstoffmarkt einging und schließlich eine ebenso saftige wie detaillierte Schilderung der urbanen Orgie zum Besten gab, an der er und Aorta früher am Abend teilgenommen hatten. Und wie immer sprach er mit einer eigentümlich mechanischen Diktion, jedes Wort deutlich abgesetzt und unverschliffen, als wäre er ein Professor für Linguistik, der eine Podiumsdiskussion über die Zukunft der Sprache leitete. Ich machte mich in der Wohnung zu schaffen, hörte mit halbem Ohr zu, legte eine andere Platte auf, stellte den Fernseher leiser und kramte einen Aschenbecher, vier Flaschen Bier und ein Plastiktütchen mit Gras hervor. Vogelsang folgte mir auf Schritt und Tritt und hielt seinen Vortrag. Dowst und die Frau setzten sich auf das Sofa. Das Tütchen lag kaum auf dem Tisch, da griff Dowst danach, öffnete es und roch daran – oder vielmehr: Er sog den Geruch ein wie einer, der nach einem langen Tauchgang an die Oberfläche kommt –, woraufhin er verächtlich das Gesicht verzog und das Tütchen auf den Tisch warf, als enthielte es etwas unaussprechlich Widerwärtiges, Hundescheiße vielleicht, oder verfaulende Spatzeneier. Ich sah es aus dem Augenwinkel, als ich die Strawinsky-Platte in ihre Hülle schob. »Boyd hat in Yale gerade seinen Master gemacht«, sagte Vogelsang, ließ sich auf der Armlehne des Sofas nieder und trank zur dramatischen Unterstreichung des Gesagten einen Schluck Bier. »In Botanik.« Ich zog einen Sessel heran. »Gratuliere«, murmelte ich, warf Dowst einen Blick zu und wechselte abrupt das Thema – wer interessierte sich schon für irgendein Riesenbaby, das an einer Elite-Uni akademische Lorbeeren gesammelt hatte? Solche Geschichten kannte ich zur Genüge. Ich sagte was...


Boyle, T.C.
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, ist der Autor von insgesamt 27 Romanen und Erzählungen, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurden. Bis 2012 lehrte er Creative Writing an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017), Good Home (Erzählungen, 2018), sowie Das Licht (Roman, 2019).

Gunsteren, Dirk van
Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, studierte Amerikanistik und lebt in München. Er übersetzte u.a. T.C. Boyle, Peter Carey, Jonathan Safran Foer, Patricia Highsmith, John Irving, Colum McCann, V.S. Naipaul, Thomas Pynchon, Philip Roth, Richard Stark, Oliver Sacks und Castle Freeman. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis.



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