E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
Brandt Die Macht des Vierten
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2013
ISBN: 978-3-7873-2515-3
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Über eine Ordnung der europäischen Kultur
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Blaue Reihe
ISBN: 978-3-7873-2515-3
Verlag: Felix Meiner
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
1, 2, 3 / 4: Drei Dinge werden aufgeführt, aber ihr Grund oder Zweck, ihre dirigierende Einheit liegt im abschließenden Vierten.
Diese von Homer bis Platon, von den Heiligen Königen bis zum Vierten Stand des Proletariats wirksame Gestaltung einer Vielheit als Einheit ist weder logisch noch mathematisch begründet und ist so der Selbstreflexion der europäischen Kultur fast gänzlich entgangen. Dennoch ist sie eine immer wiederkehrende Konstellation, die in der Dichtung, den Institutionen und der Bildkunst als schlüssige Komposition dient; sie formt den Inhalt und gehört zu ihm.
In dem vorliegenden Band werden exemplarische Texte und Institutionen genannt und analysiert: Homer, besonders die Odyssee, und die Tragiker, Platon, Cusanus, Kant, Goethe, Hölderlin, Schelling, Schopenhauer; die Universität und andere Institutionen des Staats. Der Band soll die Aufmerksamkeit auf diese und verwandte Kompositionsformen richten. Sein Nutzen liegt außer in derjenigen für die historische Forschung in der Heuristik, und er macht durch die vielen Fälle auf neue, auch triviale Kompositionen z. B. in der Reklame bis hin zu den ›Golden Girls‹ aufmerksam.
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Die Beiträge Andree Hahmann Es ist auffallend, dass Platon den bestmöglichen Staat aus drei Ständen zusammensetzt. Jeder Stand hat seine besondere Tugend. Der Nährstand muss sich in der Selbstbeherrschung üben, der Wehrstand steht für Tapferkeit und die herrschenden Philosophen für die Weisheit. Neben den drei Tugenden widmet sich der platonische Staat einer vierten Tugend: der Gerechtigkeit. Ihr entspricht kein eigener Stand, sie stiftet dadurch, dass jeder das seine tut und erhält, die harmonische Ordnung der drei Stände. Diese Untersuchung fragt mit Thrasymachus, ob die Gerechtigkeit als vierte Tugend notwendig zum guten Leben ist oder, ob nicht auch der Ungerechte als vernünftig und wahrhaft gut gelten könne. Denn Platon selbst antizipiert zum Teil die kantische Beobachtung, dass die drei anderen Kardinaltugenden für sich genommen moralisch indifferent zu sein scheinen, sodass »Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung« (Kant, AA04: 394) den Verbrecher nur noch widerwärtiger machen. Zuerst wird betrachtet, was wahre Einheit für Platon bedeutet. Dann wird die Differenzierung der einzelnen Seelenteile erläutert und gezeigt, wie die drei Seelenteile zu dieser Einheit gelangen können, die als das Vierte oder eben die Gerechtigkeit aus ihnen erwächst. Schließlich wird angedeutet, dass die Vierheit auch den harmonischen Aufbau des Kosmos stiftet. Rebecca Lämmle An den Tragikerwettbewerben am bedeutendsten Dionysos-Fest in Athen, den sogenannten Großen Dionysien, führten die Tragiker im 5. vorchristlichen Jahrhundert und einige Jahrzehnte darüber hinaus ihre Stücke in Tetralogien von 3 Tragödien und einem Satyrspiel auf. Aufgrund ihrer Forschungen zum Satyrspiel, die den Befund erbracht haben, dass es sich dabei um ein Reflexionsinstrument handelt, mit dem die Tragiker ihr tragisches Schaffen der komischen und der ›dionysischen‹ Reflexion unterziehen, deutet Lämmle die tragische Tetralogie als eine Anverwandlung der Struktur 1, 2, 3 / 4. Zugleich argumentiert sie dafür, dass dieses Ordnungsmuster auch andere Elemente des attischen Theaterwesens strukturiere: das tragische Bühnenpersonal (getragen von drei Schauspielern und einem Chor) ebenso wie die Anlage der Festtage mit dramatischen Wettbewerben an den Großen Dionysien, bei denen ein Tag dem Agon der Komödiendichter, drei Tage dem Agon der Tragiker zugedacht waren. Hans Gerhard Senger Triadische Strukturen haben das griechische und lateinisch-christliche Denken in der Antike, im Mittelalter und darüber hinaus weithin bestimmt. Das trifft auch auf die Philosophie und Theologie des Nikolaus von Kues (1401–1464) zu. Im Rückgriff auf antike und patristische Anschauungen verbindet er in ihnen in spezieller Weise die christliche Trinitätslehre mit platonisch-neuplatonischen Philosophemen derart, daß die Welt als Abbild ihres trinitarisch gedeuteten Schöpfers selbst als durchgehend trinitarisch strukturiert gedeutet wird. – Mit seiner zweiten philosophischen Schrift De coniecturis durchbricht Cusanus einmal das in De docta ignorantia grundgelegte triadische Schema. Auf der Grundlage symbolischer Zahlenspekulationen entwickelt er, sich selbst korrigierend, mit einer quaternarisch bestimmten Erkenntnistheorie eine originelle, weitgehend quaternarisch bestimmte Kosmologie. Harald Schwaetzer In seinem Beitrag zeigt Harald Schwaetzer, wie die flämische Malerei, insbesondere diejenige Jan van Eycks, malerisch eine Idee von »Seele« ins Bild setzt, die auf der einen Seite historisch von einem Pythagoreismus, auf der anderen Seite aber vor allem von der Rheinischen Mystik her verstanden werden kann. Dabei geht es um die Wandlung von Seelenkräften, und zwar einer niederen und einer höheren Trias. In der Mitte dieser beiden Dreiheiten steht aber die Seele selbst als je vierte Position bzw. als Mitte zwischen zwei Dreiheiten. So ergibt sich eine Siebengliedrigkeit der menschlichen Seele und ihrer Kräfte, die durch das Verhältnis 1, 2, 3 / 4 bestimmt ist. Reinhard Brandt Kants Urteilstafel (stabil ab 1781) ist nach dem Vorbild der »Technik der Logiker« gemäß der Konstellation 1, 2, 3 / 4 aufgebaut, ihr folgen viele Teile der Kritiken. Auch andere Bereiche nehmen das Ordnungsprinzp auf, so die Vertragslehre, in der nach dem Vorbild der Pythagoreer der Eid an vierter Stelle steht. Kant spricht nicht über die Rolle des Vierten und damit nicht über die logische Ordnung, nach der er entscheidende Teile seiner Philosophie arrangiert. Ulrike Santozki Die Macht des Vierten bei Goethe ist auf alle Bereiche des Werkes verteilt. Vier Ausprägungen lassen sich unterscheiden, deren Anfänge chronologisch in etwa aufeinander folgen: 1. traditionell im 1, 2, 3 / 4-Schema seit der Antike Überliefertes, 2. Ausprägungen, die Goethe infolge seiner Bekanntschaft mit hermetischem und freimaurerischem Gedankengut entwickelte, 3. solche, die im Zusammenhang der Entwicklung einer Idee von »Klassik« durch die Zusammenarbeit mit Schiller entstanden und 4. solche, die typisch für Goethes spezifisch eigene, im Alter ab 1800 voll entwickelte Vorstellung von Naturwissenschaft und Goethes symbolische Weltsicht sind und sich auch auf seine Stilisierung wichtiger Punkte der eigenen Biographie im Rückblick auswirken. Sie greifen vielfältig ineinander, wie sich besonders gut an der Interpretation des Gedichts »Mächtiges Überraschen« zeigen lässt. Wichtig ist, dass Goethe zwar wie Schiller oft zwei Extreme ihre Einheit in einem Dritten finden lässt, die Trias nun jedoch – im Unterschied zu Schiller – noch einmal durch ein abschließendes Viertes überhöht, wohingegen bei Schiller das Dritte wiederum zum Ausgangspunkt für neues Vorwärtsstreben werden kann. Ebenfalls auffällig ist, dass Goethe sowohl im Märchen als auch in Wilhelm Meister Wanderjahre Traditionen aufgreift, aber zugleich originell umgestaltet, indem er die vierte Stelle als Position auszeichnet, die im Gegensatz zu den ersten drei Elementen etwas Selbständiges ermöglicht, sei es durch die Liebe, sei es durch die Ehrfurcht vor sich selbst. Johann Kreuzer Der Beitrag setzt sich mit einem zentralen Aspekt jener Logik auseinander, aus der sich für Hölderlin der Anspruch wie die philosophische Signifikanz poetischer Sprache ergeben. Der ›Verfahrungsweise des poetischen Geistes‹ liegt eine logische Notwendigkeit zugrunde. Sie folgt aus der Einsicht in die restriktive bzw. regressive Natur triadischer Denkformen, die Vermittlung als Rückführung verstehen. Ausgangspunkt ist die Kritik, die Hölderlin gegen vereinigungsphilosophische Prämissen anmeldet, die sich beim frühen Schelling formuliert finden. Diese Kritik weist auf bewußtseinsgeschichtliche Voraussetzungen zurück. Unter Heranziehung der Fortentwicklung neuplatonischer Vorgaben in der christlichen Trinitätsspekulation (gebündelt in der Deutung von Ex. 13.14 bei Eckhart von Hochheim) läßt sich zeigen, daß es die logische Eigenständigkeit des Dritten und mit ihr der Gedanke der Vermittlung selbst ist, aus dem die ›Notwendigkeit des Vierten‹ folgt. Hölderlin hat diese Notwendigkeit in die Forderung zusammengefaßt, ›eine Erinnerung zu haben‹. Dies ist nur in Formen der Äußerung möglich. Sie kommen als ›Viertes‹ der Selbstbeziehung des Denkens hinzu und erfüllen sie, indem sie sie reproduzierbar machen. Paul Ziche Friedrich Wilhelm Joseph Schelling widmet der Struktur der Vierfachheit mehrfach Aufmerksamkeit. In einem kleinen Text von 1802 über »Die vier edlen Metalle« entwickelt er ein Strukturmodell, das aus seiner Natur- und zugleich aus seiner Identitätsphilosophie hervorgeht und in einer Form von dynamischer Prozessualität die Verbindung von Anfänglichkeit und Beständigkeit ermöglichen soll. Grundlage ist eine Konstruktion, die aus sich durchkreuzenden und überlagernden Polaritäten einen Konfigurationsraum aufspannt, innerhalb dessen sich alle einzeln bestehenden Formen begreifen lassen. Diese Viererstruktur ist ursprünglich in dem Sinne, dass sie sich nicht der Vervollständigung einer triadischen Struktur verdankt. Im Hintergrund von Schellings Modell werden wichtige Traditionslinien eines Denkens in Viererstrukturen sichtbar; mit Franz von Baader und Friedrich Christoph Oetinger werden zwei Vermittlungsstationen dabei eingehender behandelt. Margit Ruffing Ergänzend zu Reinhard Brandts Schopenhauer-Deutung im Sinne der 1, 2, 3 / 4-Konstellation in D’Artagnan und die Urteilstafel wird im vorliegenden Beitrag eine Auslegung durchgeführt, die die drei ersten Bücher als Weltverständnis in der Bejahung, das vierte als Selbstverständnis aus der Verneinung vorstellt, im Ausgang von drei Beziehungsarten einer aporetischen Duplizität und einer vierten, die diese aufhebt. Einen weiteren Ansatz bietet eine Selbstauskunft Schopenhauers, durch die er sich in der geistesgeschichtlichen europäischen Tradition positioniert: Er betrachtet nämlich seine eigene Philosophie als Verbindung und Vollendung von drei grundlegenden Einsichten, die die Welt den Veden, Platon und Kant verdanke. Eine Analyse der Welt als Wille und Vorstellung unter diesem Aspekt ermöglicht es, das Gesamtsystem der Willensmetaphysik als das vierte...