Brandt | Wozu noch Universitäten? | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

Brandt Wozu noch Universitäten?

Ein Essay
unverändertes eBook der 1. Auflage von 2011
ISBN: 978-3-7873-3029-4
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Ein Essay

E-Book, Deutsch, 248 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

ISBN: 978-3-7873-3029-4
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Ziel dieses streitbaren Essays ist hoch gesteckt: Es geht um die Verteidigung der Idee und der Institution Universität als Stätte der freien Forschung und Lehre gegen die Anmaßungen einer vermeintlich progressiven Neuordnung der akademischen Ausbildung nach dem Bologna-Reformmodell.

Die heutige Zivilgesellschaft braucht unabhängige Universitäten als Institutionen der kritischen Erkenntnis in den Natur- und Geisteswissenschaften. Diese Erkenntnis strukturiert die Lehre und Forschung der freien Universität, nicht die positive Wissensvermittlung mit praktischer Zielsetzung in der Marktverwertung. 'Wozu noch Universitäten?' verfolgt am Leitfaden der Unterscheidung von akkumulierbarem Wissen und kreativer Erkenntnis die Lehre und Forschung von der Antike bis zur Gegenwart.

Die Antike mit ihren vielen naturwüchsigen Wissenschaften bildete die Grundlage der mittelalterlichen Universitäten, die im 19. Jahrhundert zwar formal in der Vier-Fakultäten-Ordnung weiter bestanden, sich jedoch faktisch in die duale Anlage von Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaften verwandelte. Heute treten an die Stelle fester Fächerordnungen häufig föderative Bündnisse, die sich um die Lösung neuer Probleme bemühen. - Die Zäsur von 1968 führte zur Einebnung der Differenz zwischen den der Erkenntnis gewidmeten Universitäten einerseits und den an der Praxis orientierten Hochschulen andererseits.

Die sog. Bologna-Reformen nach 1999 schließlich waren der Vorwand für eine bürokratische Betonierung des Studiums auf Provinzniveau. Das Versagen von 'Bologna' ist offenkundig, schon das Bezugsfeld Europa ist für die Wissenschaft, die weltweit denkt und vernetzt ist, eine eklatante Fehlleistung. Die Universität sollte sich behutsam befreien von der - pädagogisch zubereiteten - Zwangsordnung und ihr die eigenen Maßstäbe in Forschung und Lehre entgegen stellen. Kritische Erkenntnis und Begründung sind der Kern der weltweiten Universitäten, wie jede Zivilgesellschaft sie braucht und vom Staat einfordern kann.

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Einleitung
Universitäten sind Institutionen, die in ihrem Kern der Erkenntnis und Lehre gewidmet sind. Sie dienen traditionell auch anderen Zwecken wie der Wissensvermittlung, der Ausbildung für praktische Berufszwecke, der Forschung mit externer Zwecksetzung; umgekehrt werden Erkenntnis und Lehre durch einzelne Individuen oder in organisierter Form seit der Antike auch ohne Universitäten praktiziert. Die Universitäten haben also kein Monopol; heute entwickeln sich wesentliche Teile der Erkenntnis in Bereichen, die den Universitäten aus finanziellen Gründen nicht mehr zugänglich sind, man denke an globale Zentren wie das CERN bei Genf und verwandte hochdotierte Spitzeninstitute und Raumstationen. Am 30. März 2010 simulierten Physiker aus aller Welt den Urknall im CERN beim größten zivilen Experiment aller Zeiten. Einer der anwesenden Wissenschaftler erklärte: »Jetzt beginnt die Physik!« An diesem Beginn nahmen die Universitäten nur noch peripher und nicht mehr federführend teil. In der Antike wurde geforscht und gelehrt, ohne daß es Universitäten gab. Sie wurden in der Hochscholastik gegründet und fanden meistens die Form einer Institution mit vier Fakultäten: Theologie, Medizin, Jurisprudenz und Philosophie. Diese Struktur und Aufgabenteilung verlor sich de facto im 19. Jahrhundert zugunsten einer Zweiteilung von Geistes- oder Kulturwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften und Medizin andererseits, die sich in seriell angeordneten Fächern gliederten. Die heutigen Universitäten folgen diesem Muster, wenn die Fächerstruktur auch auf keine exakten Trennungen zielt, sondern wechselnde Föderationen ermöglicht. Es gehört zu den Fortschritten der universitären Wissenschaften, dass sie sich neu verbünden und trennen, je nach Ursprung und anstehenden Aufgaben. Die Problemzone liegt damit in der wissenschaftlichen Grundausbildung, die in einzelnen stabilen Fächern von Beginn an erfolgen muß. Hochschulen sind entweder Fachhochschulen oder Universitäten, für beide Zweige ist zuständig die Hochschulrektorenkonferenz. Die Fachhochschulen verstanden und verstehen sich primär als Orte der praktischen, berufsbezogenen Ausbildung, die Universitäten waren dagegen stärker Orte der Erkenntnis oder Wissenschaft . Aber die Fachhochschulen sind auf Theorie angewiesen, und umgekehrt ist die Theorie mit der Praxis verflochten, so daß es zunehmend schwer fällt, eine harte Zäsur zwischen beiden Richtungen zu ziehen. Die Universitäten werden durch den sog. Bologna-Prozeß und dessen deutsche eigenwillige Formierung eines Bachelor- und Master-Studiengangs besonders im ersteren zu Fachhochschulen umgewandelt, ohne dass dies klar als Ziel deklariert wird. Damit verliert die Universität im Eingangsbereich ihr Kennzeichen, eine Institution der Erkenntnis und des freien Studiums bestimmter Wissenschaften als solcher zu sein. Zugleich gibt es einen inflationären Gebrauch des Titels der Universität innerhalb und außerhalb des Hochschulbereichs. Kein Papst und kein Kaiser erheben noch ihren Einspruch, wenn eine Ausbildungsstätte für Gärtner und Friseure sich »University« oder »Universität« nennen. Die Universität sollte ein Ort akademischer Erkenntnis sein. Sie war dies nie ausschließlich, sondern widmete sich seit Beginn auch der Ausbildung für die Praxis, besonders der Theologen, Mediziner und Juristen. Und umgekehrt wurde Erkenntnis, wie wir sahen, auch in der Antike ohne Universitäten kultiviert, und später gab und gibt es in vielen privaten und öffentlichen Institutionen mit vielfachen Interessen eine Kultur der Erkenntnis und eine ihr gewidmete Lehre und Forschung mit entsprechenden Publikationsorganen. Welche spezielle Funktionen haben in dieser unübersichtlichen Erzeugung und Vermittlung von Wissen und Erkenntnis die überkommenen Universitäten, auf deren Nennung die Städte auf ihren Ortsschildern und Bahnhöfen Wert legen und damit ihr Ansehen steigern möchten? Der vorliegende Essay will die Schnittfläche der existierenden Universitäten und der wissenschaftlichen Erkenntnis ausmachen und versuchen, beides in ihrer Funktion für die moderne Zivilgesellschaft heraus zu präparieren. Einige Andeutungen vorweg. Erkenntnis unterscheidet sich vom Wissen. Im Gegensatz zum Wissen dringt Erkenntnis auf die Begründung einer Behauptung und wehrt sich mit einem »weil« oder »denn« gegen eine mögliche Widerlegung. Der Erkennende stellt sich unter eine sittliche Norm; er ist zur Rechenschaft verpflichtet gegenüber den anderen Personen, die eine Begründung der Behauptungen verlangen können. Erkenntnis entspringt der Auseinandersetzung und stellt sich der Kritik. Das Wissen dagegen wird im Alltag oder in besonderen Institutionen erworben und kann weitergegeben oder angewendet werden. Es bedarf keiner Begründung, sondern bewährt sich. Wissen kann akkumuliert und notfalls quantifiziert und vermessen werden, Erkenntnis dagegen beruht auf einer eigenen Tätigkeit und ist gegen jede Vermessung immun. Wissensmanagement ja, Erkenntnis stemmt sich dagegen. »Ich denke, also bin ich« ist falsch formuliert, denn hier ist nichts zu erkennen, und damit ist das »also« falsch platziert; ich weiß ohne jeden möglichen Zweifel, daß ich bin, wenn ich denke. Aber das ist eine Ausnahme; im übrigen kann ich vieles wissen, was meine Erkenntnisfähigkeit überschreitet; wir sind umflutet von Wissen in unserer Wissensgesellschaft, und sogar für Tiere gilt: Um in ihrer Risikowelt überleben zu können, müssen sie Tausenderlei wissen; ohne ihr Wissen sind sie mit dem nächsten Atemzug tot. Erkenntnis ist den Tieren nicht zugänglich, weil sie über keine Sprache verfügen und nichts begründen können. Wagner im Faust weiß viel und möchte alles wissen; Faust selbst dringt dagegen nicht auf das bloße angehäufte, abrufb are Wissen, sondern auf Erkenntnis. Schon die Vorsokratiker wurden nervös, wenn beides nicht voneinander getrennt wurde. »Vielwisserei lehrt nicht Verstand haben.«1 »Viel Denken, nicht viel Wissen soll man pflegen.«2 Wissen kann passiv absorbiert werden, die Didaktik erleichtert den Wissenszufluß im Bachelorstudium. Erkenntnis ist dagegen eine eigene Tätigkeit. Daher kann man das Wissen quantitativ verwalten, es gibt ein ra? niertes Wissensmanagement, und Pädagogen lehren, wie man es geschickt dosiert und in die Ohren der Hörer im Hörsaal einträufelt und im bildgebenden Verfahren noch rascher in die Gehirne von allen eingibt. Das so vermittelte und für Prüfungen registrierte Wissen dringt auf Anwendung, um nicht nutzlos und kostspielig gelagert zu werden. Die Erkenntnis stellt dagegen Behauptungen über etwas auf und sucht sie zu begründen, sie ist damit eine Tätigkeit und dadurch immer schon ihre eigene Praxis, die sich nicht durch externe Praxis und Profit rechtfertigen muß. Die folgenden Ausführungen sind ein Plädoyer dafür, die Universität als ausgezeichneten Ort der Erkenntnis stark zu machen. Die Zivilgesellschaft hat, so versuchen wir am Schluß zu zeigen, ein vitales Interesse und ein Recht auf Universitäten als Orten einer durch keine andere Praxis gelenkten eigenständigen kritischen Erkenntnis, und ein Recht darauf, über die Ergebnisse der Erkenntnis informiert zu werden. Eine der vielen Klagen über den Abbau der Universitäten: »Die deutsche Universität hat […] ohne Not eine geschichtlich überragende und kulturell einmalige Position preisgegeben, als sie die Humboldtsche Idee der lebensverbindlichen und kunstgerechten Allgemeinbildung als Ballast über Bord warf, statt sie als einzigartige Triebkraft eines qualitativen Wachstums zu erkennen und zu fördern.«3 Hat die Universität die Position preisgegeben? Oder war es eine extern steuernde und gesteuerte Bürokratie? Gibt es Personen, die man noch inhaft ieren könnte wie bei den Vorständen von Banken? Unter dem Vorwand einer Europäisierung der deutschen Universitäten zerstörte die Bürokratie nach den Bologna-Beschlüssen in Wirklichkeit weitere Grundlagen der universitären Bildung. Europa soll der abgesteckte Hochschulraum sein – aber warum in aller Welt nur Europa? Warum nicht die norddeutsche Tiefebene? wissenschaftliche Erkenntnis ist planetarisch, und die akademischen Migrationen ebenfalls, sie beschränken sich nicht auf den Platzwechsel innerhalb Europas, denn die Japanologen gehen vorwiegend nach Japan und die meisten Jugendlichen nach wie vor in die USA, viele nach Australien und Südamerika, nur gebürtige Bulgaren zieht es nach Bulgarien und Fennugrier nach Finnland. Europa ist also ein zu enger, nur politisch ausgedachter Rahmen; das Etikett, dem jedermann Reverenz erweist, sollte eine...


Brandt, Reinhard
Reinhard Brandt, geboren 1937, Studium Latein, Griechisch und Philosophie (Staatsexamen) in Marburg, München und Paris. 1972 bis 2002 Professor für Philosophie in Marburg, viele Gastprofessuren. 2004 Christian-Wolff-Professor in Halle. Leiter der Marburger Arbeitsstelle zur Weiterführung der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften. Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft der Universität Frankfurt und korr. Mitglied der Akademie zu Göttingen, im Sommer 2005 Gast im Wissenschaftskolleg zu Berlin. Bücher: Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte (2000, 2002); Die Bestimmung des Menschen bei Kant (2007, 2009); Können Tiere denken? (2009); Immanuel Kant – Was bleibt? (2010); Wozu noch Universitäten? (2011).

Reinhard Brandt, geb. 1937. Bis 2002 Prof. für Philosophie an der Universität Marburg. Zahlreiche Gastprofessuren, u. a. in Canberra, Caracas, Padua, Rom, München; Christian Wolff Prof. in Halle; Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Universität Frankfurt, korr. Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen; Wissenschaftskolleg Berlin 2005.



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