Brühl Henningstadt
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-86787-409-0
Verlag: Bruno Books, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, Band 8, 208 Seiten
Reihe: Die Besten
ISBN: 978-3-86787-409-0
Verlag: Bruno Books, Salzgeber Buchverlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Das Leben ist manchmal ein ziemliches Miststück: Henning ist siebzehn Jahre alt und lebt in der Provinz. Als wäre das nicht schon ärgerlich genug, muss er sich seit Neuestem mit der Tatsache herumschlagen, schwul zu sein. Die beste Freundin ist beleidigt, die Eltern sind verunsichert. Zum Glück ist da Steffen, der sich auf eine Affäre mit dem deutlich jüngeren Henning einlässt - bis er nervös wird und nach Berlin abhaut. Kurz entschlossen reist Henning ihm hinterher. In der Hauptstadt begegnet er Tete, einer waschechten Tunte, die dafür sorgt, dass Henning die Dinge wieder klarer sieht. Jetzt muss nur noch Steffen zur Vernunft kommen, der in den Darkrooms und Saunas der Stadt nach Ablenkung sucht ...
Der Lyriker und Autor Marcus Brühl, geboren 1975 in Siegen, lebt in Berlin. Hier studierte er Anglistik, Soziologie, Literatur- und Theaterwissenschaften. Seine Erzählungen und Gedichte sind in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht und im Hörfunk ausgestrahlt worden. Henningstadt war sein erster Roman, mit dem er sich über die Grenzen der schwulen Szene hinaus einen Namen gemacht hat.
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22 Irgendwann ist es tatsächlich Sonntag geworden, obwohl Henning die Hoffnung darauf schon fast aufgegeben hatte. Er hat den Stadtplan von Henningstadt rausgesucht und sondiert, wo sich diese Burgstraße befindet, in der die Schwulengruppe sich trifft. Und siehe da, es ist eine der kleinen Gassen mitten in der Altstadt. Nummer vierundzwanzig ist sogar verzeichnet: das Haus der evangelischen Studentengemeinde. Zum Glück ist das ein unauffälliger und neutraler Ort, an dem auch ein Konzert oder irgendwas stattfinden könnte. Henning ist beruhigt. Insgeheim hatte er wohl befürchtet, eine lange, hell angestrahlte Rampe hochgehen zu müssen, von der es eine Live-Videoübertragung in alle Kneipen und Cafés der Stadt gibt. Er macht sich auf den Weg. Als er in die Katzgasse biegt, kommt ihm Isa entgegen. Mit Andrea, Gerrit, Meike und Guido. Lauter schöne Menschen, denkt er spöttelnd, denn seine Stufenkameraden sind nach Mode der Zeit für den Sonntagnachmittag zurechtgemacht und strahlen fleißig die Würde ihrer Kleidung aus. Aber Henning ist bloß neidisch. Isa kommt näher und näher. Ein paar Dutzend Meter vor Henning bleiben sie unvermittelt stehen, und Isa biegt in eine Seitengasse ein. Die anderen gehen hinterher. Henning kneift die Lippen zusammen. Er ärgert sich über Isabell, die ihn erkannt haben muss. Er unterdrückt seine Traurigkeit und ist aus Gründen des Selbstschutzes lieber wütend auf die blöde Sumpfkuh. Fünf Minuten später kommt er in die Burgstraße. Nummer Vierundzwanzig muss sich auf der linken Seite befinden, stellt Henning fest, als er in die Burgstraße einbiegt. Er wechselt auf die rechte Straßenseite, um erst mal an dem Haus vorbeizulaufen und einen Eindruck zu gewinnen. Ein großes, aber in keiner Weise auffälliges Gebäude aus Grauwacke scheint die Vierundzwanzig zu sein und ist es. Henning läuft daran vorbei und geht die Straße weiter bis zur nächsten Querstraße. Er schämt sich. Die Scham sitzt in allen Gelenken und macht sie steif. Die Scham sitzt im Hals und drückt die Kehle zusammen. Sie knetet das Herz, hart schlägt es gegen den Brustkorb. Er dreht um. Auf dem Rückweg ist das Gebäude keine unbekannte Größe mehr. Henning betritt den Seitenhof und sieht schon aus der Entfernung, dass man nicht einfach durch die Eingangstür gehen kann, sondern sich vorher entscheiden muss, wohin man will. Ein großes Rechteck mit Klingeln. Henning will zur Sih, aber da die sich nur einmal in der Woche trifft, scheint es nicht sehr wahrscheinlich, dass der Verein eine eigene Klingel hat. Die Klingelschilder sind nicht alle beschriftet. Zwei tragen evangelische Abkürzungen, vier scheinen zu Privatwohnungen zu gehören und zwei sind unbeschriftet. Die Schwulen wollen vielleicht anonym bleiben. Möglicherweise ist es also eine unbeschriftete Klingel, die er betätigen möchte. Wir werden es nie erfahren! Denn der Retter aus dieser schwierigen Situation naht. Es ist Mark. Er trägt ein rot-rosanes, ins Blasslilane hineinspielendes Batiktuch nach Art der Palästinenser um den Hals geschlungen, Blue Jeans, T-Shirt, Jesuslatschen. Es ist zehn nach acht, und derjenige, der die laufende Woche den Schlüssel hat, ist in der Regel nicht mehr als eine viertel Stunde zu spät. Die anderen trudeln so gegen halb neun ein. »Kann ich dir helfen?«, fragt Mark freundlich, während er die Tür aufschließt. Sie war also in der Tat verschlossen, ganz wie Henning ja schon befürchtet hatte. Alter und Aussehen prädestinieren Mark dazu, ein Student zu sein, ein evangelisch-engagierter Student. Das kombiniert Henning. So einer wird aber zumindest eine informative Auskunft geben, egal, was er ansonsten von Schwulen hält. »Ich will zur Schwulen Initiative Henningstadt.« Den Schutz der Abkürzung fahren lassend, sagt Henning tapfer den Namen auf. »Schön. Ich bin Mark, und du?«, fragt Mark. Henning würde denken, das war das Willkommen in der Schwulengruppe, wenn er sich nur sicher wäre, dass nicht auch der Pfarrer der Gemeinde jeden, mit dem er direkt auf dem Gemeindegelände spricht, nach seinem Namen fragt. Vielleicht ist der Typ der Gemeindepfarrer. Dass auch der Pfarrer schwul sein könnte, fällt Henning ein. Mark führt Henning nämlich in eine Art kleinen Gemeindesaal und setzt sich. Der Pfarrer, oder ein studentischer Gemeindemitarbeiter würde nicht hierher kommen, um sich mal auf die Couch zu setzen. Als Mark von Henning wissen will, ob der zum ersten Mal hier ist, entscheidet sich Henning, dass er in der richtigen Veranstaltung sitzt, und da liegt er ganz richtig. Der Aufregung über die Schwierigkeit hierher zu gelangen folgt die Aufregung darüber, dass gleich ganz viele Schwule kommen und er wahrscheinlich vor vielen Menschen sagen muss, dass er schwul ist. Aber vielleicht fragen sie ja auch nicht. Eigentlich ist es selbstverständlich, dass er schwul ist, weil er zur Schwulengruppe geht. Allerdings hätte er ja auch hier sein können, weil er einen Artikel für die Schülerzeitung machen will, wie Frau Scheinschlag vorgeschlagen hat. So sitzt er also in einem Sessel der Schwuleninitiative, der nur einmal die Woche zwei Stunden so genannt werden kann, und hängt seinen Gedanken nach. Lieber wäre ihm gewesen, er wäre durch eine Tür mit der klaren Aufschrift Hier trifft sich die Schwule Initiative Henningstadt sonntags von zwanzig bis zweiundzwanzig Uhr getreten. Durch diese Tür wäre er dann in ein Zimmer gelangt. Durch die gegenüberliegende Tür wäre der schönste Mann der Welt eingetreten, vielleicht ein Boxer, und hätte sich mit Ich bin die Sih vorgestellt. Dann hätte er ausgesprochen, was beide wollen: Du willst wissen, was Sex ist. Du bist hier, weil du geil bist, leg dich aufs Sofa. Ich mach’s dir. Was dann allerdings die unterscheidenden Merkmale zu heterosexuellem Sex sind, hätte Henning nicht gewusst, aber von schwulem Sex hätte er sich eine konkrete Vorstellung machen können. Leider ist Mark nicht ganz der schönste Mann. Funktionieren würde es mit Mark aber durchaus. »Du bist also schwul«, teilt Mark ihm mit und fragt ihn, warum er hergekommen sei. Henning ist hergekommen, weil er schwul ist. Er weiß nicht, was er antworten soll. Dass er Leute kennen lernen will, könnte er sagen, aber das klingt ihm ein bisschen zu direkt. Dass er ein Problem haben soll, schwant ihm. Mark ist aber auch damit zufrieden, dass Henning nichts zu sagen weiß. Der Raum füllt sich langsam mit Leuten, die sich auf unterschiedliche Art begrüßen. Viele mit Küsschen links, Küsschen rechts. Wie die Mitglieder eines Vereins oder wie die Leute aus dem Familienkreis von Hennings Eltern. Eine Art Familienkreis also. Henning hat eine passende Schublade gefunden und fühlt sich gleich viel sicherer, was seine Interaktionsprinzipien in der folgenden Unterhaltung angeht. Die Leute begrüßen ihn freundlich, aber niemand spricht ihn an, um mit ihm zu plaudern. Etwa fünfzehn Leute kommen mit der Zeit. Hennings Unwohlsein geht langsam in die Begeisterung über, unter so vielen Schwulen zu sein, wo er noch vor einer Stunde der einzige auf der Welt war. Die Leute sehen größtenteils nach Studenten aus. Einige sind wohl zu alt, um Studenten zu sein. Die sehen aus, als hätten sie mal studiert. Jedenfalls lauter anständige Leute, wie seine Mutter das nennen würde. Vor allem reden sie ganz normal. Einige sprechen ein bisschen affektiert, wenn man sich reinhört, aber nicht schlimmer als jeder Pfarrer. Auf der Straße hätte Henning bei den wenigsten gedacht, dass sie schwul sind. Das beruhigt ihn, weil es heißt, dass er sich nicht anders und seltsam wird benehmen müssen, wenn er zu dieser Gruppe gehören will. Insgesamt ist der Ton eher zurückhaltend. Später wird er einige Eigenschaften insgeheim für schwul halten, weil er sie selbst hat. Allem voran sein Interesse für steinverätzende Schlager und seine häufige Geilheit. Aber das wird sich wieder geben. »Solln wir mal langsam?«, fragt Peter. Und tatsächlich legt sich das Gemurmel ein bisschen und die Teilnehmer richten ihre Blicke auf den Tisch oder ihre Hände. »Gibt es was zu besprechen, hat jemand ein Thema?«, fragt er. Peter ist in gewisser Weise der Dienstälteste und erfüllt die Funktion mit Charme. Sein Vollbart und seine Rubensfigur geben ihm die Ausstrahlung des Felsens, auf den jeder Christus mit Leichtigkeit selbst in der Brandung des Gemurmels und Gekichers seine Kirche bauen könnte. »Unsere Flyer sind aus der Bücherei verschwunden! Ich hatte eine Nachricht von Frau Scheinschlag, der Bibliothekarin, auf dem AB. Es ist von Oben verfügt worden, dass die Flyer da nicht ausliegen dürfen. Sie hat gesagt, sie hat gekämpft wie eine Löwin, aber es hat nichts genützt. Sie empfiehlt uns ihren Rechtsanwalt. Gut. Vielmehr schlecht. Wir sollten uns überlegen, was wir da konkret machen können.« Halblaut tauschen die Männer Meinungen aus zu dem Skandal, von dem sie gerade in Kenntnis gesetzt worden sind. Als nach einer Weile niemand laut was sagt, stellt Peter fest: »Wir haben heute auch einen Neuen«, und sieht Henning an. Henning, der nun doch ganz froh ist, dass er beachtet wird, nickt und lächelt ein bisschen und sieht die Gruppe von unten nach oben mit treuem Blick an, was gar nicht so einfach ist, weil alle sitzen. »Und ich schlage vor, wir machen erst mal eine Vorstellungsrunde, damit er wenigstens alle Namen mal gehört hat.« Henning ist dankbar. »Ich fang mal an«, sagt Peter. »Ich bin Peter, vierunddreißig. Ich komme seit« – er überlegt kurz –»ungefähr zwölf Jahren zur Sih. Damals hieß sie noch Schwuler Stammtisch.« Dann geht es im...