E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
Burseg Liebe ist ein Haus mit vielen Zimmern
15001. Auflage 2015
ISBN: 978-3-8437-1162-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-1162-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
EINS
Die Gänse waren im Morgengrauen zurückgekehrt. Als Carla die Vorhänge zurückzog, entdeckte sie die vertrauten Silhouetten, dunkle Körper, die sich gegen das Licht der schräg einfallenden Morgensonne abzeichneten. Sie zählte sieben Vögel, die auf der taufeuchten Rasenfläche am Fleet weideten. Es waren Graugänse. »Anser anser«, so hatte der große Carl von Linné sie 1758 in seiner Systema Naturae bezeichnet. Das Werk des Schweden hatte den Beginn der modernen Zoologie markiert. Schon in der Nacht hatte Carla von den Gänsen geträumt. Von ihren Gänsen. Nein, vielmehr hatte sie beim Aufwachen gedacht zu träumen. Im Schlaf hatte sie den Flügelschlag der Vögel gehört, jenes charakteristische Surren und Pfeifen, ihr Kreisen über den kupferfarbenen Dächern der Stadt. Und dann das Schnattern und Rufen der Graugänse, ihr rauer, rostiger Gesang. Sie war mit einem Lächeln aufgewacht. Ungeduldig war sie aus dem Bett gesprungen. Die Vögel dann tatsächlich zu sehen war ein Geschenk gewesen. Die Freude trieb ihr fast die Tränen in die Augen. Carla übersprang die morgendliche Routine des Sonnengrußes und griff nach dem Fernglas. Sie öffnete die Balkontür und trat hinaus. Wie ein stürmischer Liebhaber umfing sie die kalte, klare Morgenluft. Sie atmete tief ein und aus, die Kälte biss in ihre Zehenspitzen und tastete sich die nackten Beine empor. Und doch war dieser Moment ein Augenblick puren Glücks. Woher waren die Gänse so plötzlich gekommen? Zitternd hielt sie sich das Fernglas vor die Augen. Ausgehungert nach ihrem langen Flug von der afrikanischen Nordküste über das Mittelmeer und die Alpen widmeten sich die Vögel dem ersten zarten Grün der Alsterwiesen. Einige Tiere waren beringt, Carla sah die farbigen Aluminiumstreifen. Hatte sie ihrem geselligen Geplauder bereits im vergangenen Sommer gelauscht? Jahr für Jahr kehrten die Gänse in die Gärten am Fleet zurück, beharrlich hielten sie an ihren angestammten Weideflächen fest. Sie waren ausdauernd und treu – sowohl untereinander als auch in der Wahl ihrer Rast- und Brutplätze. Carla hatte es immer als Auszeichnung empfunden, dass die Vögel sich auch ihren Garten erwählt hatten. Sie versuchte, die einzelnen Stimmen voneinander zu unterscheiden. Dann schüttelte sie den Kopf. Als sie wieder in ihr Schlafzimmer trat, begegnete ihr das eigene Spiegelbild im Fenster. War es nicht eigentlich andersherum? Wahrscheinlich hatte es die Gänse schon immer an diesen Ort gezogen. Auf alten Aufnahmen und Stichen sah man Gänse und Schwäne auf der Alster dümpeln. Sie waren vor den beiden Kriegen und zu Kaisers Zeiten dort gewesen. Und sie hatten die Alsterwiesen bereits besiedelt, bevor man die weiß verputzte Stadtvilla anno 1872 in den feuchten Grund gesetzt hatte. Es war also Carla gewesen, die sich das Haus an der Fleetbrücke ausgewählt hatte. Die Nächte getrennt, das Frühstück zu zweit – das dritte Jahr nun schon. Und trotzdem eine stille Freude, Willem jeden Morgen zu begegnen. Lächelnd gab Carla ihm einen Kuss auf die Wange und strich über sein dichtes Haar. »Die Gänse sind zurück.« Carla setzte sich zu ihm an den gedeckten Tisch im Gartenzimmer und wies durch das hohe Sprossenfenster hinaus. Inzwischen hatte sie geduscht und sich angezogen. Zu engen dunklen Jeans und halbhohen Stiefeln trug sie einen hellen Kaschmirrolli. Die schulterlangen blonden Haare hatte sie zurückgenommen und mit wenigen Nadeln am Hinterkopf aufgesteckt. Einige Strähnen fielen ihr ins Gesicht, die sie sich den Tag über wohl hundertmal hinter die Ohren strich. Den taillierten Blazer, ebenfalls dunkel, jedoch mit matten, silbernen Knöpfen besetzt, würde sie später überziehen, wenn sie das Haus verließ und ins Museum fuhr. Ein dezenter Look, klassisch und solider, als sie sich eigentlich fühlte. »Meine Uniform«, verteidigte sie sich immer, wenn ihre Mutter ihr bei einem ihrer seltenen Besuche einen Stapel Modemagazine in den Arm drückte. »Die Bilder sollen leuchten, nicht ich.« Willem blickte auf, doch er antwortete nicht. Stumm sah er sie an, seine Augen suchten einen Punkt, an dem sie sich festhalten konnten. Schließlich griff er mit beiden Händen nach seiner Tasse und trank in kleinen, vorsichtigen Schlucken den noch heißen Tee. »Gänse«, wiederholte er stockend. Doch dann zog sich plötzlich ein Lächeln über sein Gesicht und hellte seine Züge auf. Als er den Blick wieder hob, sah er sie wach und verständig an. »Anser anser …« Im nächsten Moment hielt er ihr strahlend seinen Teller entgegen, und Carla reichte ihm den Toast mit Honig. Sie hatte ihn mit dem Messer in vier Stücke zerteilt. Wie oft hatte sie das schon getan? Das kleingeschnittene Stück Brot war inzwischen morgendliche Routine, ein Ritual, so wie das Kerzenlicht, die klassische Musik und die bedeutsam knisternden Zeitungen, die immer noch neben Willems Teller lagen. Ein Stapel Gegenwart, der doch Vergangenheit war. Solange Carla Willem kannte, war sein Kopf am Morgen hinter der Zeitungswand verschwunden. Ab und an waren Nachrichten, Kommentare und Gedanken wie Rauchwölkchen dahinter aufgestiegen. Er hatte sie mit Zitaten und Anekdoten gefüttert, gemeinsam hatten sie über den Spott der Feuilletonisten gelacht, die filigrane Sprache eines Rezensenten bewundert. Doch irgendwann hatte er aufgehört, die Zeitungen aufzuschlagen. Sie hatten ihren unwiderstehlichen Reiz verloren, ihr Wissen von der Welt war nur noch monotones Rauschen. Nur die Musik, die hörte Willem immer noch gern. Mozart … Carla sah, wie Willems Finger den Takt der Klaviersonate auf das Tischtuch klopften. C-Dur für vier Hände. Morbus Alzheimer. Die Krankheit hatte sich zunächst auf Zehenspitzen und dann mit immer deutlicheren Misstönen in ihr Leben geschlichen. Symptome, die sie aus der Presse, von Erzählungen und aus den abendlichen Talkshow-Runden im Fernsehen kannte, waren ihre Begleiter geworden. In der Neurologie des Universitätsklinikums hatte sich Carlas Verdacht bestätigt. Einige Tests und die verstörend direkten Kernspinaufnahmen von Willems Gehirn zeigten das Ausmaß der Verwüstung. Sieben bis zehn Jahre, so lautete die Prognose, die Carla sich von dem behandelnden Arzt erbetteln musste. Sieben bis zehn Jahre … Inzwischen wusste sie genug über den gnadenlosen Gast an ihrem Frühstückstisch, sie kannte seine Verbündeten: die Plaques und Neurofibrillen, die sich wie Wollknäuel um Willems graue Zellen legten und seinen einst so brillanten Geist in einen desolaten Flickenteppich verwandelten. Und die Zeit. Drei Jahre waren seit der Diagnose vergangen, inzwischen blieb Willem nicht mehr allein, wenn sie aus dem Haus ging. Willems Vermögen ließ ihm seine Würde und ermöglichte ihr einen Alltag im Museum für Stadtgeschichte. »Ich bringe dir das Fernglas, wenn ich gehe.« Carla zeigte noch einmal hinaus in den Garten, dann stand sie auf und gab Willem einen Abschiedskuss. Er roch frisch und vertraut, die Lavendel- und Rosmarinnoten seines Eau de Toilettes stiegen ihr in die Nase. Der Duft erinnerte sie an eine Fahrt durch die Provence. Damals hatte Willem ihr sein Frankreich gezeigt, Champagner in Reims, Fruits des Mer in Deauville, das Centre Pompidou in Paris. Malewitsch und Matisse, Léger und Gontscharowa: Die Namen der ausgestellten Künstler waren ihr wie ein verheißungsvolles Versprechen erschienen. Ein Versprechen auf etwas unverrückbar Schönes. Und auf eine wunderbare Zukunft. Beim Hinausgehen fiel ihr Blick auf das Foto, das in einem schlichten Rahmen auf dem Sekretär stand. Ein Schnappschuss aus einer anderen Zeit. Wie jung war sie damals gewesen – und so glücklich! Auf dem Bild trug sie ein weißes Sommerkleid und silberne Sandalen, sie warf ihr Haar nach hinten, das Kinn himmelwärts gereckt. Willems Hemd war aufgeknöpft, im Knopfloch seines Jacketts blitzte eine Margerite. Sie lachten wie Kinder, ausgelassen und frei. Kurz nachdem das Foto entstanden war, hatten sie sich geküsst. Der Kuss hatte ihren Bund besiegelt. Damals war Carla vierundzwanzig gewesen und er lässig und erfahren. Jetzt war der legendäre Willem van Velden dreiundsiebzig Jahre alt – und immer noch ihr Mann. In der Küche schwelgte das Radio, irgendetwas aus den Sechzigern. Aufbruch und Fernweh, goldenes Licht und freie Liebe. Die Hymnen der Hippies waren inzwischen kaum mehr als sentimentale Erinnerungen, eine sorgenfreie Geräuschkulisse, Kochmusik. Carla steckte den Kopf durch die Tür. »Ich komme gegen halb acht wieder, Frau Woldsen.« Die Haushälterin drehte sich um und nickte. Das dichte igelgraue Haar, das ihr Gesicht rahmte, wippte dabei auf den Schultern. Über Rock und Bluse trug sie eine makellos weiße Schürze, die um die Hüften etwas spannte. Sie verkörperte das Idealbild einer Perle – war verlässlich, zupackend und Willem treu ergeben. Für einen Moment versuchte Carla, sie sich als Zwanzigjährige mit bauchfreiem Top und Schlaghose im Summer of Love vorzustellen. Als junges Mädchen musste sie sehr hübsch gewesen sein, eine Augenweide, wie Willem zu sagen pflegte. Sie hatte ein rastloses Leben an der Seite eines Schiffskochs geführt, war viel gereist – Shanghai, Rio, San Francisco. Ihre Küche kannte Düfte und Geschmäcker aus aller Welt: fruchtiges Curry, Dim Sum im Bambuskörbchen, Coq au Vin auf burgundische Art mit schwerem Rotwein. Doch ihr Mann war schon lange tot, und so hatte sie sich vor mehr als zwanzig Jahren des Junggesellenhaushalts am Fleet angenommen. Als Carla in Willems Leben getreten war, hatte Agnes Woldsen kurz und heftig mit ihr um die...