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E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Cassel Aufstiegskampf
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-608-12383-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom Seitenrand in die Primetime
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-608-12383-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lena Cassel, geboren 1994 in Köln, war Stürmerin für den SV Allner-Bödingen, den SC Fortuna Köln und Türkiyemspor Berlin. Sie arbeitete bei der Sportschau und als Reporterin, u.a für stern TV. Sie moderierte HerthaTV, war Teil des ZDF »Fußball-Talk « im Mainzer Keller. Seit 2022/23 präsentiert Cassel für Prime Video die Highlightshow der UEFA Champions League. Derzeit moderiert sie außerdem die Bundesliga-Übertragungen bei DAZN und ist zusammen mit Maik Nöcker seit 2022 Moderatorin des Podcasts Fussball MML Daily und des Podcats Playing Dirty - Sport und Verbrechen. Cassel lebt in Berlin.
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Paulchen Panther in der Champions League
Da stand ich also: in einem rosafarbenen Anzug, in einem extra für die Champions League mit Sternen dekorierten Fernsehstudio. Aber nicht nur mein Outfit erinnerte an den rosaroten Panther. Paulchen Panther reißt Wände ein, setzt Häuser unter Wasser oder zwingt Muskelpakete in die Knie – Hauptsache Chaos und Hauptsache außergewöhnlich: Das ist sein Markenzeichen.
Die Situation, in der ich mich befand, war mindestens ebenso außergewöhnlich und ebenso chaotisch. Fünf Kameras, sieben Monitore, grelles Licht und ein Knopf im Ohr.
Ich fühlte mich wie eine NASA-Pilotin auf ihrem ersten Flug ins Weltall. Nur dass mein Anzug nicht weiß, sondern eben rosa war. Und ich nicht auf einer Rakete am Cape Canaveral an den Start ging, sondern aus einem viel zu groß wirkenden quadratischen Raum in Köln-Hürth abheben sollte.
»Noch zehn«, zählte die Männerstimme in meinem Ohr. Mein Herz pochte so schnell, dass ich es deutlich an meiner Halsschlagader spürte. »Noch fünf!« Plötzlich wurde mein Atem flacher. Bekam ich gerade einen Herzinfarkt? »Noch drei«. Ich spürte, wie sich rote Flecken an meinem Hals ausbreiteten. Stressausschlag. Zum Glück hatte ich mich Stunden zuvor nicht für den V-Ausschnitt, sondern für die hochgeschlossene Rundhals-Variante entschieden. Zumindest die roten Flecken waren also kaschiert. »Zwei, eins«. Ich war mir sicher, gleich ohnmächtig zu werden. »Und sprechen.« Ich hob ab. Ein Kamerakran fuhr auf mich zu, und meine allererste Live-Moderation im Fernsehen begann. Es wurden die nervösesten vierzig Sekunden meines bisherigen Lebens.
Auf einmal war ich die neue Moderatorin der Champions League Highlights-Show auf Amazon Prime Video. Die folgende Stunde verbrachte ich damit, roten Kameralichtern zu folgen, die durch meinen Ohrknopf durchgegebene Schrittkombination zu beachten, möglichst lässig auf den ungewohnt hohen Schuhen zu stehen und ganz wichtig (!) rechtzeitig in die Werbung abzugeben. Zeit ist Geld – eine billige Phrase, die nirgendwo so wahr ist wie im Fernsehen. Es war ein Multitasking-Marathon, der mit maximaler Geschwindigkeit an mir vorbeizog oder um es mit Paulchen Panther zu sagen: »Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon so spät? Schade, dass es sein muss. Ist für heute wirklich Schluss? Heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage.«
Dann erlosch das rote Licht über der Kamera. Vorbei. Sechzig Minuten, die sich anfühlten wie sechzig Sekunden. Die gesamte erste Sendung verlief zwar ohne einen einzigen Versprecher, glich aber dem Versuch einer Dreijährigen, die zum ersten Mal ohne Stützräder Fahrrad fuhr: unsicher, angespannt und wahnsinnig hektisch. Das einzig Positive war, dass ich doch keinen Herzinfarkt bekommen hatte. Der Aufregung folgte die Erleichterung. Als hätte jemand die schwere Bleidecke, die seit Tagen drückend über meinem Körper lag, weggezogen. Diesen Moment konnte mir niemand mehr nehmen. Ein rosaroter Panther in der Primetime. Und dieser Panther war ich.
Ich ließ mich in den Stuhl meiner Umkleide fallen, streifte erst mit dem linken Fuß den rechten Schuh und dann mit dem rechten Fuß den linken Schuh ab. Vielleicht weinte ich dann ein bisschen. Ich hing meinen rosafarbenen Blazer über die Lehne und blickte erschöpft auf das Bild an der Wand. Zu sehen war eine Straße in London in Schwarz-Weiß auf der ein roter Doppeldeckerbus fuhr, dessen Farbe aus der schwarz-weißen Umgebung natürlich bewusst herausstechen sollte. Ein Bild wie ein peinliches Wandtattoo, das exakt so in acht von zehn TV-Umkleiden zwischen Köln-Hürth und Berlin-Adlershof hängt. Ein deutliches Kontrastprogramm zu dem, was gerade in meinem Innern vorging: Ausnahmezustand. In meinen Anfängen bei der Sportschau attestierte mir der damalige Sportchef, nachdem ich ihm eins meiner ersten Tapes vor der Kamera gezeigt hatte, ich sei »zu laut und zu bunt« für die Arbeit vor der Kamera. In einem TV-Studio mit einem Experten könne das niemals funktionieren, weil ja der Gast strahlen müsse und nicht die Moderatorin.
Ich bin mir sicher, dass er das so niemals zu einem männlichen Kollegen gesagt hätte. Selbstbewusstsein und Schlagfertigkeit gelten da als unabdingbare Eigenschaften für den Erfolg. Tja, was bei Männern genau richtig ist, ist bei Frauen meistens zu viel. Damals war mein 21-jähriges Ich leicht bedröppelt und verwirrt aus dem Büro gestolpert.
Bin ich zu viel? Zu laut? Und zu bunt? Nach diesem Gespräch setzte mich der Sportchef exakt einmal vor der Kamera ein. Als Field Reporterin bei einem Drittligaspiel. VfL Osnabrück gegen Preußen Münster an der Bremer Brücke. Als hätte ich beim Dosenwerfen auf dem Rummel den Trostpreis erhalten, und zwar nur, damit ich nicht anfangen würde, wie ein trotziges Kleinkind herumzuquengeln.
Zu laut und zu bunt. Fünf Wörter und fünf Silben, die mir genau in diesem Moment, als ich das belanglose Bild in der Umkleide ein bisschen zu lange anstarrte, wieder in den Sinn kamen. Sieben Jahre später hatte ich also in einem großen TV-Studio zusammen mit einem Experten in einem rosafarbenen Anzug die Champions League moderiert. Ich spürte eine mir bisher unbekannte Form tiefer Genugtuung. Gern hätte ich dem Sportchef ein Bild aus dem Studio geschickt. Aber das wäre vielleicht etwas zu viel des Guten gewesen.
Nicht ihm hatte ich es schließlich beweisen wollen, sondern vor allem mir selbst. Und dabei war es nie mein Plan gewesen, in einem TV-Studio zu landen. Nie mein Traum gewesen, einmal Millionen von Zuschauern ein Fußballspiel näher zu bringen. Zuerst war da einfach diese große Liebe für den Sport. Für den Fußball.
Ich habe das nie vom Ende her gedacht. Ich will später mal dies oder das werden. Eigentlich habe ich gar nicht gedacht. Ich habe mich mit dem Fußball einfach immer am wohlsten gefühlt. Die logische Konsequenz war, diesem Wohlfühlort, dieser mir bekannten und vertrauten Umgebung, so lange es geht, treu zu bleiben.
Im Fußball geht es um Stimmungen, Prägungen und Würde. Essenzen des Lebens, die den Unterschied ausmachen zwischen zufrieden und euphorisch, zwischen traurig und verzweifelt. Der Fußball als Temperaturregler. Er lässt uns Dinge spüren. Zwischen himmelhochjauchzend und zu Tode betrübt ist so ziemlich jeder emotionale Aggregatzustand mit dabei. In einer Welt, die so rasant an einem vorbeizuziehen droht, weil es neben Fast Food, auch noch Fast Fashion, Fast Media und Fast Dating gibt, einem Dinge dadurch egaler werden, weil die fortlaufende Beschleunigung mit einem Gefühl der Entfremdung einhergeht, da tut es gut, wieder etwas zu fühlen.
Zwischen Milliardengeschäft und Business Case findet man im Fußball eben auch viel Gefühl. Der Fußballverein ist ein Ort, der als Währung Herz statt Geld hat. Eine eingeschworene Gemeinschaft, in der arm und reich, links und konservativ, Groß und Klein zusammenkommen und alle gleichermaßen für eine gemeinsame Sache brennen: den Verein.
Statt ständig fortlaufender Beschleunigung wie überall sonst in der Welt, ist hier viel Tradition zu finden. Tradition bedeutet, dass man etwas macht, das die Menschen schon früher gemacht haben. Das Wort kommt aus dem Lateinischen. Man kann es in etwa mit Übergeben oder Überlieferung übersetzen. Man gibt Gedanken, Werte, Bräuche weiter. Traditionen bieten uns Kontinuität und stehen damit diametral zu einer gegenwärtigen Welt in der höher, schneller, weiter als unumstößliche Maxime gilt. Traditionen schaffen aber auch Anlässe für Menschen, zusammenzukommen und zu feiern: das Feuerwerk am Silvesterabend, die Schultüte am ersten Schultag oder eben das Fußballspiel am Sonntagnachmittag. Sie stärken die Bindungen innerhalb von Familien und Gemeinschaften, indem sie ein Gefühl der Verbundenheit fördern. Diese Räume sind wichtiger denn je für uns als Gesellschaft, weil sie etwas zusammenhalten, was immer mehr droht auseinanderzufallen.
Bei meinem Weg aus dem Verein in der Provinz in die glamouröse Welt des Sportfernsehens habe ich das nie vergessen. Gestartet bin ich nämlich keineswegs in der Königs-, sondern in der Kreisklasse. Asche im Schuh statt Sterne auf Bällen. Angefangen hat alles beim TuS Schladern. Irgendwo zwischen schief gezogenen Kreidelinien, betagten Trainingskiebitzen und schlecht sitzenden Trikots habe ich das erste Mal gegen einen weißen Derbystar-Ball getreten. Danach war alles anders.
Mein Leben neben dem Platz blieb aber gleich. Wie Fußball in der Kreisklasse. Unglamourös, einfach, fehleranfällig und ohne Aussicht auf Besserung. Aufgewachsen mit einer alleinerziehenden Mutter, die uns mit zahlreichen Nachtschichten als Krankenschwester durchzubringen versuchte, und einem Vater, der neben einer großen Liebe zu mir und meiner Schwester eine noch größere zum Alkohol pflegte, gab es wenig Platz für Träume und kindliche Naivität. Stattdessen den bitteren Geschmack von einer Realität aus Geldnot, Unsicherheit, Angst und Stress. Statt eines gemeinsamen Mittag- oder Abendessens waren meine Schwester und ich meistens allein. Es gab viel Raum für früh erlernte Selbstständigkeit, wenig Zeit für Liebe und Zuneigung.
Während die anderen Kinder in unserem Dorf sich über ihren anstehenden Sommerurlaub unterhielten, saßen wir mit lauwarmem Essen aus Styroporschalen vor dem Fernseher und träumten uns in ein anderes Leben. Wir hatten wenig, aber wir hatten uns.
In meiner Pubertät entdeckte ich außerdem meine Zuneigung für Mädchen, was meine Außenseiterrolle weiter festigte. Denn das war eine Zeit, in der die einzige bekannte homosexuelle Frau Hella von Sinnen war, die allen mit ihren schrillen Outfits und extravaganten Auftritten zeigte:...