E-Book, Deutsch, 180 Seiten
Cissoko Ma
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-88423-573-7
Verlag: Das Wunderhorn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 180 Seiten
ISBN: 978-3-88423-573-7
Verlag: Das Wunderhorn
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ma ist die berührende Geschichte von Mutter und Tochter, die, hin- und hergerissen zwischen Tradition und Modernität, Afrika und Europa, nach dem Eigenen suchen. Die Mutter, Massiré Dansira, kam im Alter von 15 Jahren aus Mali nach Frankreich. Nach dem Tod ihres Mannes kämpft sie als Alleinerziehende mit den Widrigkeiten des Lebens und vor allem der von Männern beherrschten Welt ihrer Stammesherkunft. Sie will aus ihren Kindern anständige und aufrechte Menschen machen: auf Bambara »danbé': Kampfgeist, Würde, Charakterstärke, Respekt vor Traditionen. Die Tochter lebt im ständigen Kampf mit ihrer Mutter. Sie wächst in Paris als modernes Mädchen auf und muss den Widerspruch zwischen den traditionellen Werten und Anforderungen ihrer familiären Herkunft und denen der französischen Gesellschaft bewältigen. Aus ihrem Kampf macht sie eine Profession: sie wird eine erfolgreiche Boxerin. Der Roman vermittelt einen Einblick in das Schicksal von Migranten aus Afrika, zeigt die alltäglichen Vorurteile und rassistischen Überheblichkeiten, mit denen sie konfrontiert sind.
Aya Cissoko wurde 1978 in Frankreich geboren. Ihre Eltern kamen Anfang der 1970er Jahre aus Afrika (Mali) nach Frankreich. 1986 kommen ihr Vater und ihre Schwester bei einem Brandanschlag in Paris ums Leben. Sie entdeckt das Boxen fu?r sich als Ru?ckzugsort und wird 2006 Box-Weltmeisterin. Ein Bruch der Wirbelsäule beendet 2010 abrupt ihre Boxkarriere. 2011 veröffentlicht sie (zusammen mit Marie Desplechin) ihr erstes Buch, ihre Autobiografie danbé, die unter dem Titel Wohin ich gehe verfilmt wird. Sie studierte Politikwissenschaften am Institut d'études politiques in Paris. 2016 erschien ihr zweites Buch n'ba (Ma). Cissoko lebt in Paris.
Weitere Infos & Material
Woloba saya
Der Tod meiner Mutter
Meine Mutter ist tot. Heute wird sie auf dem Pariser Friedhof von Thiais begraben. Sehr viele Leute sind zum Begräbnis einer Frau gekommen, die sich oft über ihre Einsamkeit beklagt hat: »Zu wem, meinst du, soll ich gehn? N kelen de be n ka so k?n?, n ni n ka tele d?r?n. Ich sitz zu Hause mit meinem Fernseher.« Zwei Touristenbusse wurden für diesen Anlass gemietet. Sie sind fast ausschließlich mit den Männern der Familie gefüllt, denn sie spielen die Hauptrolle. Ein Begräbnis ist keine Weibersache. Die Männer stolzieren wie auf einer Parade, geordnet und diszipliniert, obwohl sie in ihren bunt gemixten Kleidungsstücken nicht unterschiedlicher sein könnten. Die meisten kenne ich nicht, aber sie stammen wie Ma aus dem Dorf Kakoro Mountan in Mali und dies genügt, dass sie als Verwandte gelten. Unter den wenigen vertrauten Gesichtern sind auch einige ihrer früheren Feinde. In dem Trauerzug verhalten sie sich unauffällig, gehen langsam, mit ernster, betretener Miene. Ma hat ihren aufrechten Gang teuer bezahlt. Sie pflegte uns von den vielen Gemeinheiten zu erzählen, unter denen sie leiden musste, denn es war niemand außer uns Kindern greifbar und wir waren gezwungen, ihr zuzuhören. Um sich selbst zu trösten und ihren Durchhaltewillen zu stärken, sagte sie immer: »Nafa te tinef? la bilen. Nka saya te j?n to. An bee be don mak?n? de la. Anstand zählt nicht mehr. Aber der Tod verweigert sich keinem. Jeder kommt dran.« … und dann wird er sich für seine Taten verantworten müssen. Ma starb schon vor drei Tagen. Kaum war ihr Tod bekanntgegeben, strömte diese weitläufige Verwandtschaft in unsere Wohnung und machte es sich dort bequem. Sie nahmen alle vier Zimmer in Beschlag, außer dem, wo die Tote lag. Damit nichts von ihren Sachen gestohlen wurde, blieb die Tür zu diesem Raum die ganze Zeit abgeschlossen. Die Erwachsenen, Männer und Frauen reifen Alters, kümmerten sich um solche Dinge. »Faransi jig? de b’an denw na yan. U te foyi d?n an ka laadaw la! Unsere Kinder sind wie Franzosen. Sie haben keine Ahnung von unserer Tradition!« Die Männer blieben streng von den Frauen getrennt. Für sie wurde eigens ein Zimmer ausgeräumt. Darin blieb nichts übrig außer einem Sofa, ein paar orangefarbenen Stühlen und einigen von der Nachbarin aus dem zweiten Stock geborgten Teppichen. Die Jüngeren standen zumeist mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Dennoch war nicht genug Platz und manche mussten sich im Flur aufhalten. Die Frauen hingegen waren in die Küche und ins Wohnzimmer verbannt. Wir Kinder der Toten flüchteten uns in das letzte verbliebene Zimmer, mit anderen inzwischen erwachsenen Kindern, die wie wir in Frankreich geboren sind. Die Rollen waren klar verteilt, das ging ohne Absprache. Das Zeremoniell ist seit Urzeiten immer das gleiche. Es wird von den Männern organisiert und sie entscheiden über den Gang der Ereignisse. Sie zogen bei ihren Beratungen manchmal meinen älteren Bruder hinzu, der schon länger erwachsen ist, nämlich seit er wie sie alle das Ritual durchlaufen hat, mit dem man am Ende der Pubertät zum Mann wird. Es heißt kulusita. Meine Mutter hatte unbedingt darauf bestanden, dass es bei uns gefeiert wurde, ihr Sohn war schließlich nicht weniger wert als die gleichaltrigen Jungs, auch wenn er keinen Vater mehr hatte. Die Frauen putzten und kümmerten sich um das Essen. Mir blieb nur die Rolle der Beobachterin. Schweigend schaute ich zu, wie sie alles erledigten. »I da mine! Muso da man kan ka don nin kuma in na. Sei still, Frauen haben in diesen Dingen nicht mitzureden.« Dabei hat Ma vielen der Männer in dieser Trauergemeinde geholfen, dem einen mit ein wenig Geld, dem anderen, dass er nicht draußen schlafen musste, wieder einem anderen, dass er seine Papiere bekam. Keiner hat je ihre Hilfe abgelehnt, nur weil sie eine Frau war. Ma hat unablässig die Familienbande gepriesen: Balimaya. Trotz der Undankbarkeit ihrer Angehörigen, der Verleumdungen. »N ye seko bee ken som?g?w ye, nka u m’a d?n n ye. Ala b’a d?n. N ye n tat o Ala ma. Ich habe immerzu die Familie verteidigt. Keiner hat sich bedankt. Aber Gott weiß, wie er es vergilt. Ich halte mich deshalb an ihn.« »Belekilitigiya k?r? te ceya ye. I ye teme sira. Eine Beule zwischen den Schenkeln macht aus dir noch keinen Mann. Welchen Weg du nimmst, nur das zählt.« Am Morgen der Beerdigung hatte ich eine Auseinandersetzung mit Kurze Beine. Sein Gedächtnis ist genau so kurz wie seine unteren Gliedmaßen. Kurze Beine legt sehr großen Wert auf eine Tradition, die vor allem ihm nützt. Er tut sich ungeheuer wichtig bei seinen Geschlechtsgenossen, die von den beiden Touristenbussen zunächst vor dem Krankenhaus abgesetzt wurden, wo die Leiche aufgebahrt werden soll. Er spricht und schreibt ein besseres Französisch als sie, und außerdem haben sie es hier mit Weißen zu tun. Kurze Beine will mich daran hindern, Mas Leichnam selbst zu waschen. Er hat dazu zwei fremde Frauen aus einer Pariser Moschee bestellt, und zwar früher als am Vorabend vereinbart. Aber ich bin ebenfalls eher gekommen, als wir abgesprochen hatten. Kurze Beine gerät bei seiner Verteidigung ins Stottern: »Es ist für alle das gleiche.« »Wovon redest du?« »Alle Leute aus dem Dorf haben für das gleiche Geld gesammelt, wir machen keine Unterschiede.« »Aber alle sind nicht meine Mutter.« Er müsste es am besten wissen, wir haben unter demselben Dach gelebt, lange Jahre. Er hatte bei mir mehrere Spitznamen: zuerst Bilakoro*, später Herr vom Busch. Aber jetzt ist nicht der richtige Moment, um mit ihm abzurechnen. Ich habe mich erkundigt: »Ba su ye denmuso de ta ye. Die Leiche einer Frau gehört den Frauen.« Und an erster Stelle ihrer Tochter. Nichts und niemand wird mich davon abhalten. Mit einem wütenden Blick und erhobenem Finger will ich ihn zum Schweigen bringen: »I sen b’a la. Nin te ceka baara ye, muso baara do. Sei still! Das ist nicht deine Angelegenheit.« Kurze Beine steckt nicht zurück, wieder einmal lässt das sein Stolz nicht zu. Aber ich werde keine Zeit mit ihm vergeuden. Das muss ihm klargemacht werden. Genau im richtigen Moment unterbricht uns ein Pfleger, um uns mitzuteilen, dass die Leiche freigegeben ist. Mir kann Kurze Beine widersprechen, aber einem Weißen wird er sich nicht widersetzen: »Welcher Name steht als engster Angehöriger in den Papieren der Verstorbenen?« »Ich habe …« »Sie brauchen nicht zu suchen, das bin ich. Von jetzt ab reden Sie nur mit mir.« In einem winzigen Zimmer des Krankenhauses gehe ich mit großer Umsicht gemeinsam mit anderen Frauen aus der Verwandtschaft daran, Ma zu waschen. Eine gibt die Anweisungen, sie ist die Älteste und hat die größte Erfahrung: »Füllt die Eimer mit Wasser. Nehmt den Schwamm! Das üble Wasser darf nicht bis zum Kopf hochsteigen. Beeilt euch! Bringt mir saubere Handtücher! Den Stoff! Wo ist die Schere? Den Weihrauch! Das Parfüm!« Sie sagt, ich soll nicht weinen, ich halte die Tränen zurück. Wir müssen vor allem beten, nicht aufhören zu beten, solange die Totenwaschung dauert. Ich kenne die Gebete nicht, aber das hat mich noch nie davon abgehalten, mit Gott zu sprechen. Ma sagte immer zu mir: »Min ka gelen o y’i k’i k?n? jeya i m?g? µ?g?nw ye! Das Wichtigste ist, dass du dich bemühst, zu den Deinen anständig zu sein.« Ich wasche Ma bereits zum zweiten Mal. Ich hatte sie schon an dem Morgen gewaschen, als sie starb, zusammen mit einer Krankenschwester meines Alters, sie war schwarz und Muslimin wie ich, eine Senegalesin. Da sie gerade aus dem Urlaub kam, hatte ich sie auf der Station noch nie gesehen. Die Schwester schloss die Tür des Krankenzimmers hinter uns und erklärte, wie wir vorgehen mussten. Auch sie sagte, ich solle aufhören zu weinen. »An, An. Du musst ihren Geist in Frieden gehen lassen.« Sie hatte jüngst ihre eigene Mutter verloren und fand Worte, die mir wohltaten, wenn auch nur für kurze Zeit. Schon lange wende ich mich nicht mehr an Männer, um Trost zu finden. Nur das friedliche Gesicht von Ma konnte mir in diesem Moment helfen. Ma sah nicht aus wie eine Tote. Im Leichenschauhaus erweisen die Männer und die Frauen meiner Mutter eine erste Ehrung. Sie ziehen nacheinander an ihr vorbei, zuerst die Männer, dann die Frauen. Sie umkreisen den Sarg einmal, bevor sie hinausgehen. Die Lade ist weit geöffnet. Ma liegt darin, in ein weißes Leichentuch aus Baumwolle gewickelt, das nur das Oval ihres Gesichts und die über der Brust gefalteten Hände frei lässt. Nur einige wenige Bemerkungen brechen das Schweigen: »A b’i...