Clément Theos Reise
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-446-26088-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman über die Religionen der Welt
E-Book, Deutsch, 720 Seiten
ISBN: 978-3-446-26088-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Theo ist vierzehn Jahre alt. Seine größte Leidenschaft sind Bücher über alte Mythologien und Computerspiele. Als Theo erfährt, dass er schwer krank ist, nimmt ihn seine Tante Marthe mit auf eine große Reise. Er soll die Weltreligionen und ihre heiligen Stätten kennen lernen: Jerusalem, Ägypten, Rom, Istanbul, Moskau – Theo ist fasziniert und beeindruckt. Und überall trifft er auf kundige Religionsführer, die ihm die verschiedensten Glaubensrichtungen – vom Judentum über den Islam bis hin zum Buddhismus anschaulich nahe bringen.
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Der Zorn der Götter
»Theo! Weißt du, wie spät es ist? THEO!« Theo schlief nicht wirklich. Er hatte den Kopf unter der Decke und überließ sich dem süßen Dämmerzustand des Erwachens. Genau in dem Augenblick, als seine Mutter das Zimmer betrat, wollte sich die Haut von seinen Füßen lösen. Gleich würde er sich ohne seinen Körper in die Lüfte erheben … Was für ein unglaublicher Traum! Und den sollte er unterbrechen? Wo er so schön zwischen Schlaf und Tag herumspazierte? Warum? »Jetzt reicht’s aber!«, rief Melina Fournay. »Du stehst jetzt auf, sonst …« »Nein!«, stöhnte eine erstickte Stimme. »Nicht das Kopfkissen schütteln!« »Immer dasselbe mit dir«, protestierte seine Mutter. »Du liest abends so lange, dass du morgens nicht aus dem Bett kommst!« Theo richtete sich mühsam auf. Das Schlimmste war immer, sich aufzusetzen und den leichten morgendlichen Schwindel auszuhalten. Erst kam ein Fuß unter der Decke hervor, dann ein Bein, dann, in seinen Locken wühlend, der ganze Theo. Er stand auf … und schwankte. Seine Mutter fing ihn gerade noch auf und setzte sich mit ihm auf die Bettkante. Seufzend sah sie sich die auf der Decke liegenden Bücher an. »›Lexikon des alten Ägypten‹, ›Griechische Mythologie‹, ›Tibetisches Totenbuch‹ … Was sind das denn für seltsame Sachen? Das ist doch keine Lektüre für jemand in deinem Alter, Theo! Wie lange hast du gestern Abend gelesen?«, schimpfte sie. »Hmmm … weiß nicht mehr«, brummte Theo verschlafen. »Du liest einfach zu viel«, murmelte sie und zog ihre dichten schwarzen Augenbrauen hoch. »Du wirst noch krank davon, weißt du das?« »Ach wo«, sagte Theo gähnend. »Ich hab bloß ein bisschen Hunger.« »Frühstück steht auf dem Tisch, und deine Vitamintabletten hab ich dir auch hingelegt«, sagte sie und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Fatou kommt gleich, beeil dich. Zieh dich warm an, es ist furchtbar kalt. Und vergiss nicht, bei der Apotheke vorbeizugehen und deine Medikamente abzuholen. Das Rezept liegt im Flur auf der Anrichte … Theo!« Aber Theo tappte, sich an der Wand festhaltend, ins Bad. Nachdenklich kehrte Melina in die Küche zurück, wo ihr Mann Jérôme die Zeitung las. »Dem Kind geht es nicht gut«, sagte sie halblaut. »Gar nicht gut.« »Theo?«, fragte Jérôme, ohne den Kopf zu heben. »Erstens ist man mit vierzehn kein Kind mehr. Und zweitens, was findest du denn so Besorgnis erregend an ihm?« »Ach, du merkst ja nie was. Er sieht sterbenskrank aus, und er kann nur mit Mühe aufstehen …« »Descartes hasste es auch, morgens aufzustehen. Das hat ihn jedoch nicht davon abgehalten, Philosoph zu werden.« »Aber er scheint Schwindelanfälle zu haben und …« »Du weißt doch genau, dass er abends lange liest«, unterbrach Jérôme sie seelenruhig. »Hast du gesehen, was er liest?«, rief Melina. »›Griechische Mythologie‹, ›Tibetisches Totenbuch‹ … Das Totenbuch!« »Hör mal, Liebling, Theo ist nicht religiös erzogen worden. Darüber waren wir uns doch einig. Kein Wunder, dass er sich da selbst was beibringt. Lass ihn. Es steht ihm frei, sich eine Religion auszusuchen. Und außerdem ist er sehr gewachsen. Die jährliche Untersuchung hat doch, soviel ich weiß, nichts ergeben?« »Das soll wohl ein Witz sein, Jérôme! Die ärztliche Untersuchung in der Schule? Abhorchen, Reflexe, Röntgen, und auch das nicht immer, fertig. Nein, wirklich, ich gehe mit ihm zu Doktor Delattre.« »Jetzt mach aber mal ’n Punkt, Melina! Du stopfst ihn mit Stärkungsmitteln voll und bemutterst ihn wie ein Baby! Er liest abends lange, schön. Ich finde das eher gut.« »Er hat irgendwas«, murmelte sie. »Ich bin mir sicher.« »Wie du meinst«, sagte er seufzend und faltete die Zeitung zusammen. »Geh zu Doktor Delattre. Er soll ihm Blut abnehmen. Und ich verschwinde jetzt, wenn du erlaubst, ins Labor. Bekomm ich noch einen Kuss?« Melina hielt ihm, ohne zu antworten, die Wange hin. »Und ich will nichts mehr von den Schwindelanfällen deines Lieblingskükens hören!« Allein vor ihrem Kaffee sitzend, wartete Melina gedankenverloren auf Theo. Theos Familie
Bis zu diesem Winter hatte in der Familie Fournay eitel Sonnenschein geherrscht. Theos Vater arbeitete als Forschungsleiter am Institut Pasteur, spielte Klavier und war ein vorbildlicher Ehemann. Und auch Melina hatte viel Glück: Sie war Lehrerin für Naturwissenschaften am Gymnasium George Sand, das auch Theo besuchte, und hatte nette Kollegen und umgängliche Schüler. Theos Schwestern vergötterten ihren Bruder: Irene, die ältere, begann gerade ihr Studium der Volkswirtschaft, und Athena, das Nesthäkchen, kam demnächst in die fünfte Klasse. Außer kleineren Reibereien wegen vertauschter Socken und verhaltenen Scharmützeln darüber, wer den Tisch abräumen sollte, hatte Theo keinerlei Probleme mit seinen Schwestern. Bevor Melina Jérôme heiratete, hatte es schwierige Zeiten in ihrem Leben gegeben. 1967, als sie noch ein Kind war, hatten ihr Vater, der Journalist Georges Chakros, und ihre Mutter Theano, die Geigerin, vor der Militärdiktatur in Griechenland nach Paris fliehen müssen, eine Stadt ohne Olivenbäume und ohne Sonne. Melina war dort aufgewachsen, hatte die Schule und ihr Studium abgeschlossen, Jérôme kennen gelernt, geheiratet und dann die Kinder bekommen. In Griechenland war die Diktatur der Obristen von der Demokratie abgelöst worden, und ihre Eltern waren nach Athen zurückgekehrt. Zur Erinnerung an die wieder gefundene Heimat trugen die Kinder griechische Vornamen. Deshalb hieß die Älteste Irene, das bedeutet »Frieden«, und die Jüngste Athena, was so viel wie »Weisheit« heißt. Theos vollständiger Name lautete Theodor, »Geschenk Gottes«. Natürlich war es für Theodor und Athena mit ihren Namen in der Schule nicht leicht, aber ihre Freunde hatten sich schnell angewöhnt, sie Theo und Attie zu nennen. Alles war bestens, bis auf Theos Gesundheit. Theos Geburt war schwer gewesen. Melina hatte Zwillinge erwartet. Sie waren einen guten Monat zu früh geboren worden, doch nur Theo hatte überlebt. Aber er hatte Schlafstörungen und war sehr anfällig. Um ihn nicht noch mehr zu belasten, hatte Melina beschlossen, ihm nichts von seinem totgeborenen Zwilling zu sagen. Theo war ein schönes, etwas zartes Kind gewesen, mit schwarzen Locken und grünen Augen, um die seine Schwestern ihn beneideten. »Die Schönheit des Teufels«, hatte Theos französische Großmutter Marie gesagt, die inzwischen gestorben war. Sie hatte sich mit Feen und Waldkobolden ausgekannt. »Die Schönheit der Götter!«, hatte Oma Theano entgegnet, die ihren Enkel mit antiker Mythologie und griechisch-orthodoxer Religion voll stopfte. Theo war so hübsch, aber auch so empfindlich, dass sich Melina, wenn die beiden Großmütter von ihm schwärmten, unauffällig bekreuzigte und heimlich auf Holz klopfte, um Unglück abzuwenden. Theos Mama glaubte zwar nicht an Gott, war aber schrecklich abergläubisch. In der Familie wusste man, dass Theo anders war als die andern. Er war immer Klassenbester und las unentwegt, schon als kleines Kind hatte er seine Nase ständig in Bücher gesteckt. Und wenn er nicht las, saß er vor dem Computer und erkundete seine CD-Roms. In letzter Zeit beschäftigte sich Theo unablässig mit einem Spiel auf Englisch, das seine Mutter ihm geschenkt hatte, Wrath of the Gods — Der Zorn der Götter —, in dem ein junger Held allem begegnete, was die griechische Mythologie an Sirenen, Riesen und Ungeheuern zu bieten hat, während eine rothaarige Pythia abwegige Ratschläge gab, um den Spieler irrezuführen. Trotz ihrer Vorbehalte gegen Videospiele hatte Melina nichts gegen den Zorn der Götter gehabt, weil es dabei um Griechenland ging. So wanderte Theo auf dem Bildschirm unter Olivenbäumen durch die Heimat seiner Mutter und spielte stundenlang, um die Identität des Helden herauszufinden, der ihm wie ein Bruder glich. Der sehr pfiffige und schöne Held aus Der Zorn der Götter musste es mehrmals mit der Unterwelt aufnehmen, um seinen wirklichen Vater, Zeus, den König der griechischen Götter, zu finden. Als Jérôme Fournay einmal versuchte, sich mit seinem Sohn...