Connolly | Exit Brexit | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

Connolly Exit Brexit

Wie ich Deutsche wurde
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-446-26355-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Wie ich Deutsche wurde

E-Book, Deutsch, 304 Seiten

ISBN: 978-3-446-26355-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Neuer Pass, neue Identität, neue Heimat? Kate Connolly, Deutschland-Korrespondentin des „Guardian“, hat es gewagt – als Reaktion auf den Brexit. Seit Jahren lebt sie mit ihrer Familie in Potsdam. Aber Deutsche werden? Kaffee statt Tee, preußische Tugenden statt britischer Höflichkeit? Connolly lässt uns an der Identitätskrise teilhaben, die viele Briten seit dem Referendum erleben, und schildert ihren skurrilen Weg zum deutschen Pass. Zugleich erläutert sie die Beziehungen Großbritanniens zu Europa und Deutschland, vom eigenen Großvater, der „Mein Kampf“ aus dem Krieg mitbrachte, bis zu Margaret Thatchers Pro-EU-Wahlkampfpullover. „Exit Brexit“ zeigt uns Deutschland von einer neuen Seite – und ist die persönlichste Antwort auf den Brexit, die man geben kann.

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1
Brexit means Brexit
Mein Entschluss, Deutsche zu werden
Aus den kleinen Lautsprechern eines CD-Players, den ein Beamter mit einem deutlich hörbaren Klacken angestellt hat, tönt die blechern klingende Orchesterbegleitung zur deutschen Nationalhymne. Es gibt kein musikalisches Vorspiel, sodass wir alle ein wenig überrumpelt sind und zu spät zu singen beginnen, was einige nervös in ihre Notenblätter kichern lässt. Als wir bei »Blüh« von »Blüh im Glanze dieses Glückes« ankommen, treffe ich das hohe E nicht, obwohl ich eigentlich ein ganz annehmbarer Sopran bin. Vermutlich auch bei mir: die Nerven. Oder die trockene Luft in dem voll besetzten Raum. »Also bitte«, sage ich mir, »jetzt zeig dich der Situation gewachsen!« Zu meiner Erleichterung schaffe ich das E beim zweiten Mal – aber auch da nur mit Hängen und Würgen. Trotzdem erscheint mir diese musikalische Hürde nach allen, die ich und die circa 20 im Rathaus versammelten Menschen schon gemeistert haben, noch als die niedrigste. Der Weg zur deutschen Staatsangehörigkeit war lang. Dennoch bin ich sicherlich nicht die Einzige im Raum, die an diesem Tag im Mai 2017 dankbar dafür ist, dass niemand von uns erwartet, den Text auswendig zu können – als einen weiteren Test, um zu beweisen, wie ernst es uns damit ist, treue deutsche Staatsbürger zu werden. Als wir zum Ende kommen – nach zwei Strophen werden wir von unserer Qual erlöst – und man uns ein Glas Sekt in die Hand drückt, macht sich im Raum spürbare Erleichterung breit. Ich kann mich nicht genau erinnern, an welchem Tag ich beschlossen habe, Deutsche zu werden. Nur so viel: Die elf Monate, die meiner Einbürgerungsfeier vorausgingen, waren eine emotionale Achterbahnfahrt. Der Schock darüber, dass eine hauchdünne Mehrheit der Wähler für den Austritt meines Geburtslands Großbritannien aus der Europäischen Union gestimmt hatte, sitzt auch fast drei Jahre nach dem Brexit-Referendum am 23. Juni 2016 noch tief. Und trotzdem war meine Entscheidung definitiv ein schleichender Prozess und kein Heureka-Moment. Auf jeden Fall war es für mich mit ambivalenten Gefühlen verbunden, etwas zu tun, was ich mir nie hätte träumen lassen und wozu ich nie Anlass gehabt hätte, wären da nicht eine Handvoll Politiker gewesen, die ein Referendum für angezeigt hielten, um – so formulierte es der damalige Premierminister David Cameron – einen Strich unter ein Thema zu ziehen, das seit Jahrzehnten wie ein Damoklesschwert über der britischen Politik hing. Ich will damit nicht sagen, ich sei gezwungen worden, Deutsche zu werden, so, als wäre das etwas Unerquickliches oder etwas, das ich per se nur widerwillig tat. Sicher nicht. Ich habe Deutschland über die Jahre immer mehr schätzen gelernt. Erst war es die Sprache, die ich mit 13 zu lernen begann. Dann kamen die politischen Ereignisse der späten 1980er-Jahre in Deutschland und in Zentral- und Osteuropa hinzu, die im Fall der Berliner Mauer gipfelten und meine Weltsicht im großen Maßstab neu justierten. Schließlich, in den frühen 1990er-Jahren, meine Zeit als Studentin im frisch wiedervereinigten Berlin, wohin ich dann später als Auslandskorrespondentin zurückkehren sollte – eine Aufgabe, die sich bis heute wie ein großes Privileg anfühlt. In den vergangenen Jahren waren es meine Familie, meine beiden Kinder und mein Mann (die alle hier geboren sind und damit viel tiefer in Deutschland verwurzelt sind als ich), die mich eng und nachhaltig an dieses Land, seine Sprache, seine Kultur und sein Erbe gebunden haben. Aber an jenem kühlen Maitag im Rathaus plötzlich zu realisieren, dass ich und all die Menschen, mit denen ich hier zusammenstand – Menschen aus Vietnam, aus der Mongolei, aus Armenien, aus dem Irak und aus Syrien, um nur einige der anwesenden Nationalitäten zu nennen –, jetzt Deutsche waren, fühlte sich, nun ja, mehr als nur ein kleines bisschen absurd an. Das Referendum hat sich an die meisten von uns herangeschlichen wie ein hinterhältiges Biest. Als es zum Angriff überging und zuschlug, waren ich und die meisten meiner Freunde und Kollegen komplett überrascht. Am Tag der Abstimmung war eine tschechisch-britische Freundin bei mir zu Besuch und wir hatten uns eine Flasche Champagner besorgt, um das erwartete Scheitern des Referendums zu feiern, die endgültige – oder hoffentlich zumindest für eine Generation Bestand habende – Beerdigung einer wahnwitzigen Idee. Am 23. Juni gingen wir zu einer sehr vernünftigen Uhrzeit ins Bett. Und weil die Zahlen nur langsam eintröpfelten, das Endergebnis noch lange nicht feststand und zudem eine Hitzewelle drohend anrollte, stand die Flasche noch im Kühlschrank. Nach einer unruhigen Nacht wachte ich am nächsten Morgen um Viertel vor sechs auf und hörte in den Nachrichten, dass das Leave-Lager die Mehrheit und damit das Brexit-Referendum gewonnen hatte. Es fühlte sich an wie ein Schlag in die Magengrube, und meine Freundin Lenka und ich verbrachten den Tag damit, den Schock zu verarbeiten. Es fühlte sich an, als müssten wir die Nachricht von einem schweren Unfall verdauen. Wie nach 9/11 oder beim Tod von Prinzessin Diana werde ich nie vergessen, wo ich war, als ich es erfuhr. Der 24. Juni war über 30 Grad warm, und die Kita meiner Kinder gab hitzefrei. Also ging ich mit ihnen und meiner Freundin in den nahe gelegenen Park ins Strandbad. Doch auf Lenka und mir lastete an jenem Tag weniger die drückende Hitze als das bleierne Gewicht der Nachricht, dass Großbritannien tatsächlich für den EU-Austritt gestimmt hatte. Am Morgen hatten wir gemeinsam geweint, Camerons Rücktrittsrede im Fernsehen gesehen und dann den Kinderanhänger bepackt, um in Richtung Park aufzubrechen. Meine Kinder waren fasziniert von unseren Gefühlsausbrüchen – gut möglich, dass sie mich vorher noch nie hatten weinen sehen. »Mama, hast du ein Aua?«, fragte mein zweieinhalbjähriger Sohn. »Wohin geht England denn, wenn es jetzt Europa verlässt?«, wollte meine fünfjährige Tochter wissen. »Können wir Oma und Opa immer noch besuchen?« Im Park legte ich meinen Sohn, von der Hitze derart erschöpft, dass er eingeschlafen war, in einen Strandkorb, setzte mich neben ihn und schrieb eine Kolumne über den Brexit, die eine Berliner Tageszeitung am Vormittag bei mir in Auftrag gegeben hatte. Schon immer war der Strandkorb für mich der beste Ausdruck des unübersetzbaren deutschen Begriffs »Gemütlichkeit«: eine sichere Kapsel, die dich vor den Elementen und jedweder ungewollten Störung schützt. Nichts kommt dem Gefühl, wieder im Kinderwagen zu liegen, näher, und an jenem Tag fühlte es sich besonders passend an, sich an einen solchen Ort zurückzuziehen. Ich saß also dort und schrieb, als nicht lange nach unserer Ankunft ein lautes Knarzen, ähnlich einer alten verrosteten Türangel, die friedliche Ruhe zerriss. Als ich aufblickte, sah ich gerade noch, wie eine 15 Meter hohe Trauerweide wenige Meter von uns entfernt in den Sand stürzte. Ich war mehr als erleichtert, als ich meine Tochter und Lenka ein Stück entfernt fröhlich spielen sah. Sie hatten das dramatische Ereignis kaum wahrgenommen und schauten nun verdutzt auf. Wie durch ein Wunder war niemand verletzt worden – nur eine Britin hatte ein paar leichte Kratzer im Gesicht von einem Ast abbekommen, der auf ihre Plastik-Strandliege gefallen war. Die Frau gehörte zu einer Gruppe aus Lincolnshire in Ostengland, die für ein langes Frauenwochenende in Berlin war. »Alles in Ordnung?«, rief der Bademeister nervös und lief herbei, um den Schaden in Augenschein zu nehmen. »Das war die Strafe dafür, dass wir aus der EU austreten!«, meinte eine der Frauen lakonisch, mit der Schnelligkeit einer Stand-up-Komikerin, wobei sie allerdings, halb lachend, halb weinend, vor Schreck am ganzen Körper zitterte. »God bless you!«, war der einzige englische Satz, den der braun gebrannte Bademeister aufzubieten hatte, bevor er die Frau onkelhaft in die Arme schloss, eine Umarmung, die keiner weiteren Worte bedurfte. Dennoch beeilte sich die Frau zu erklären, sie sei keine von denen, die für den Austritt gestimmt hatten. Und erneut traten mir die Tränen in die Augen. Dass der Baum genau in dem Moment zu Boden stürzte, in dem Lenka, die Frauen und ich ohnehin längst ein Gefühl banger Vorahnung hatten, schien mir eine passende Fügung zu sein, geradezu armageddonhaft, betont noch durch den halb ernst gemeinten Witz der Frau, mit dem sie die Schuld an der Beinahe-Katastrophe von sich wies. Ich mochte ihren Humor und dachte: Das ist es tatsächlich, was Briten in ausweglosen Situationen am besten können – sie versuchen, sich gegenseitig zum Lachen zu bringen, um die Spannung zu lösen. Die Ungläubigkeit, die uns nach dem Referendum mit offenen Mündern zurückgelassen hatte, und der umstürzende Baum waren einander in ihrer Intensität ebenbürtig in diesem Moment. Den Referendumsschock allerdings habe ich bis heute nicht verdaut. Während ich mich noch mit den Frauen aus Lincolnshire unterhielt, kamen schon die Mitarbeiter des Grünflächenamts, und wie sie die Überreste des Baums in ihre Einzelteile zersägten und abtransportierten, waren wir alle gleichzeitig erleichtert und amüsiert darüber, dass sie dem Ruf der deutschen Effizienz und Verlässlichkeit so schön und vor aller Augen gerecht wurden. Heute ist von der Weide nur noch ein Stumpf übrig, der mahnend aus der Wiese ragt und mich jedes Mal, wenn ich das Strandbad besuche, an die surreale Atmosphäre jenes Tages erinnert. Ich möchte die Bedeutsamkeit dieses skurrilen Erlebnisses nicht überstrapazieren. Doch rückblickend steht der Bademeister für...


Connolly, Kate
Kate Connolly, geboren 1971 in Reading, arbeitet seit 1996 als Journalistin. Die längste Zeit ihrer Karriere hat sie im Ausland verbracht und dabei aus über 20 Ländern berichtet. Heute ist sie die Berlin-Korrespondentin für den Guardian und den Observer. Sie ist eine der wichtigsten Expertinnen für den Brexit. Kate Connolly lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern in Potsdam.



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