E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Conradi Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-95614-307-6
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
ISBN: 978-3-95614-307-6
Verlag: Kunstmann
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Augenblick, in dem man den Vogel sieht, hat etwas Einmaliges und zugleich etwas Meditatives – davon erzählt Zen und die Kunst der Vogelbeobachtung. Das Buch beginnt in der Antarktis und wendet sich dann den Landschaften zu, die bei uns für den Vogelbeobachter interessant sind: der Nordsee mit ihrem Watt, der Insel Helgoland, den Wildbächen in den Alpen und der Stadt, die immer mehr zur Zuflucht der Vögel wird.
Vögel sind etwas Magisches. Die meisten von ihnen sind schön oder sehen zumindest interessant aus, viele singen hinreißend, sie besitzen ein erstaunliches und noch immer nicht enträtseltes Orientierungsvermögen und – sie können fliegen, etwas, wovon der Mensch immer geträumt hat. Die Beobachtung dieser wunderbaren Wesen ist faszinierend, das Fernglas bringt sie dem Birdwatcher so nahe, dass er sie fast berühren zu können glaubt. Aber in diesem Augenblick, in dem man den Vogel sieht, wirklich sieht, liegt noch mehr: Er hat etwas Einmaliges, etwas Erregendes und zugleich etwas Meditatives. Der Beobachter ist ganz und gar konzentriert auf diesen Moment der Wahrnehmung, der alles Alltägliche beiseiteschiebt und das Geplapper der Gedanken in seinem Kopf zum Schweigen bringt. Es geht dem Autor um das Erleben des Augenblicks, nicht um die Seltenheit eines Vogels. Auch der Anblick eines Graureihers, der mit langsamem Flügelschlag durch Licht und Schatten eines Waldrandes gleitet und dessen unvergleichliches Grau von Hell zu Dunkel changiert, ist unvergesslich.
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I
DIE ANTARKTIS
South Georgia versank langsam hinter uns, während ich im Heck des Schiffes stand und auf den ersten Albatros dieser Reise wartete. Der Albatros ist halb Vogel, halb Mythos, in vielen Gedichten besungen, dem Menschen nahe wie sonst vielleicht nur der Schwan. Die Berge der Insel, die Shackleton einst auf seiner verzweifelten Wanderung überquert hatte, lagerten nun als flacher, rauchfarbener Schatten über dem Horizont. Das Wasser war ein dunkles Grün mit einigen weißen Schaumkronen, die gleißend auftauchten und gleich wieder versanken, und am Himmel zogen dicke, vom Wind getriebene Kumuluswolken mit dunkelgrauen, regenerfüllten Rändern über uns hinweg. Zwischen ihnen zeigten sich hier und da blaue Flecken am Himmel, und ab und zu trat die Sonne aus den Wolken und hellte das Grün der langen Wogen auf, ließ die Gischt auf ihnen erstrahlen. Der kraftlose Sonnenschein war ein blasses Gelb, das die Kälte der Luft eher betonte als milderte. Zwei riesige, fast rechteckig geformte, kastenartige Eisberge lagen schimmernd in ein paar Meilen Entfernung an Steuerbord, strahlend weiß, wo die Sonne sie traf, und mit grünlicher und blauvioletter Schattierung der zerklüfteten Kanten, wenn Wolken über ihnen standen. Ihre enorme Oberfläche war schneebedeckt, und sie erstreckten sich bis zum Horizont, flach und weit wie tausend Fußballfelder. Da, wo blauer Himmel über den Eisbergen stand, schien der Schnee einen Stich ins Blaue zu haben, als spiegelte er schüchtern den Himmel. Sie waren vom Schelf abgebrochen und würden nun als kleine, eisige Kontinente Jahrzehnte im kalten Wasser dahintreiben, bis sie in wärmere Breiten gerieten und abschmolzen. Einer von ihnen schien eine lange Nase vor sich herzuschieben, denn grünes Wasser brach sich schäumend weit vor seiner narbigen Stirn. Die kalte, klare Luft ließ alles näher erscheinen, als es war. Die Antarktis ist der trockenste, windigste und kälteste Kontinent der Erde – und fast menschenleer. Ich stand hinten am Heck und beobachtete die schwarzweiß getüpfelten Kapsturmvögel, die sich dem Schiff seit South Georgia angeschlossen hatten. Es waren etwa ein Dutzend, die über unserem Heckwasser schnell hin und her schossen, kreisten und sich immer wieder kurz auf dem Wasser niederließen. Die weißen Flecken auf ihren schwarzen Flügeln bildeten ein scheckig durcheinandergehendes Muster aus kräftigen Schwarz-Weiß-Gegensätzen. Kopf und Nacken der Kapsturmvögel sind ganz schwarz, der Rücken aber und der Bürzel weiß, und auf diesem reinen Weiß zeichnen sich bis in den Flügel hinein tiefschwarze, hier und da hingesetzte Tupfer in ganz verschiedenen Formen ab. Wie auf einem japanischen Gemälde standen da feine ebenmäßige Striche nebeneinander, kleinere und größere Flecken, einige zusammenhängend, andere wie Inseln. Zwei schwarze Balken dort, wo die unteren Flügelkanten an den Körper stoßen, trennten den Rücken vom Bürzel. Der Schwanz war ein breiter tiefschwarzer Streifen. Von der Kehle an war der Bauch strahlend weiß. Ein auffallender und ein auffallend schöner Vogel. Die Kapsturmvögel treiben sich auf dem ganzen südlichen Ozean herum, im antarktischen Winter weichen sie bis hinauf zum Äquator aus – selbst im Mittelmeer sind sie schon beobachtet worden – und kehren dann in der Zeit von September bis Oktober zu ihren Kolonien zurück. Sie machen mit steifen Schwingen ein paar schnelle Flügelschläge und segeln dann knapp über den Wogen dahin, ganz ähnlich wie unser Eissturmvogel im Norden. Auch ein paar Taubensturmvögel mit ihrer blauschwarzen Zeichnung waren dabei, die geschwungene schwarze Linie wie ein umgedrehtes »W« auf dem Rücken. Ein Schneesturmvogel, ganz weiß mit dunklem Auge und dunklem Schnabel, strich vorbei, interessierte sich aber offenbar nicht für das Schiff. Das alles war schon faszinierend genug, um einen Vogelbeobachter auf dem kalten Heck festzuhalten. Das Schiff lief mit der gleichmäßigen, endlosen Dünung des Südatlantiks nach Südosten, auf die South-Sandwich-Inseln zu. Wir befanden uns in den Breiten der »Roaring Forties«, die für ihre furchterregenden Stürme bekannt sind. In der Zeit des Segels wurden hier viele Schiffe, die immer wieder versuchten, gegen den vorherrschenden Westwind um das Kap Hoorn herumzukommen, nach Osten verschlagen. Wochenlang kreuzten sie, bis der Wind umschlug, oder sie wurden zurückgetrieben und scheiterten im Sturm. Ein »Kap Hoorner« zu sein galt als Ehrenzeichen unter den Seeleuten der damaligen Zeit. Diese kalten Gewässer mit ihren gewaltigen, stets nach Südosten laufenden Wogen müssen viele Schiffer, die in den Weiten des Südatlantiks herumirrten, zur Verzweiflung gebracht haben. Der Albatros glitt aus der Himmelsrichtung, in der wir South Georgia hinter uns gelassen hatten, aus Nordwesten, auf das Schiff zu – die langen, schmalen Schwingen regungslos, in etwa fünf Metern Höhe über dem Meer. Auf diesen Augenblick hatte ich gewartet. Durch das Glas konnte ich erkennen, dass es ein junger Wanderalbatros war, das Gefieder noch nicht makellos weiß wie beim ausgewachsenen Wanderalbatros, sondern gefleckt, mit dunkelbraunen Streifen an den Armflügeln, mit dichtem Schwarz an den Flügelspitzen, das, zunehmend weiß gesprenkelt, bis zur Hälfte der Flügellänge reichte. Die helle Tüpfelung der Schwingen nahm mit der Nähe zum Körper deutlich zu und ging dann in ein strahlendes Weiß über, das nur von einem einzigen dunkelbraunen Streifen unterbrochen wurde. Der rundliche, kräftige Körper selbst war ganz weiß, nur der Schwanz trug eine schwarze Endbinde, die von schmalen weißen Längsstreifen durchbrochen war. Die Endbinde ist das letzte Merkmal, das der junge Wanderalbatros verliert, ehe er als erwachsener Vogel ganz weiß wird. Nur ein schmaler dunkelbrauner Rand, der sich zur Flügelspitze hin verbreitert, zieht sich dann noch auf der Unterseite an der hinteren Kante des Flügels entlang. Das Auge war ein dunkler Punkt mit einem kleinen schwarzen Dreieck am hinteren Augenwinkel, die hellgrauen Kopffedern bildeten über ihm eine schräg nach oben gerichtete Strichelung. Von vorne gesehen trug dieser junge Wanderalbatros noch eine braune Binde um den kräftigen Hals, die bis in die Brust hineinreichte. Der große Schnabel war ein blasses Pink, die beigefarbenen Beine ragten im Flug hinter dem kurzen Schwanz heraus. Er hatte keine Mühe, das Schiff einzuholen, obwohl er seinen Flug mit keinem Flügelschlag unterstützte. Er schwebte ruhig herein, wie von einer unsichtbaren Hand geschoben. Die Schnelligkeit, mit der er das Schiff, das ja nicht langsam war, erreichte, war erstaunlich. Und ihn herangleiten zu sehen war ein unvergesslicher Augenblick. Ich kannte das Dahinschweben der Möwen an der Ostseeküste, wo ich aufgewachsen bin. Schon als Kind habe ich bewundert, wie sie – oft auch gegen den Wind – ohne einen Flügelschlag über mir dahinzogen. Ich kannte das Kreisen der Seeadler am hohen blauen Himmel über der Uckermark. Auch das Schweben des Mäusebussards über den Kiefernwipfeln von Brandenburg zusammen mit seinem wilden Schrei ist eindrucksvoll. Ich habe in Afrika Adler und Geier beobachtet, und in den Bergen Feuerlands habe ich den Kondor dahingleiten sehen. Der Albatros aber kam auf mich zugeschwebt, als trüge er eine Botschaft aus dem Herzen der Natur. Dieses schwerelose Schweben ist Teil des evolutionären Wunders des Vogelflugs, der schon immer das Staunen und die Sehnsucht des Menschen geweckt hat. Ob es nun die kleinen Finken sind, die zwischen schnellen Flügelschlägen mit angelegten Schwingen dahinschießen, oder die unfassbar schnellen Schwalben und Mauersegler, die eleganten Raubvögel wie Milane oder Weihen oder die großen Segler wie die Geier und Adler in Afrika, der Kondor in Südamerika und der Albatros in den südlichen Breiten des Atlantik und Pazifik – der Vogelflug ist etwas, was die Dichter und Erzähler, aber auch die bloßen Beobachter immer schon inspiriert hat. Zu fliegen wie ein Vogel ist ein Menschheitstraum, der sich nie erfüllt hat. Wenn man an der Nordsee im dünner werdenden Abendlicht auf einem Deich im Gras liegt und die Möwen und Limikolen über sich hinwegstreichen sieht und ihre Rufe hört, das Gefieder hell vor dem sich verdunkelnden Blau des Abendhimmels, dann spürt man etwas von dieser Sehnsucht. So möchte man auch dahintreiben, frei und leicht, nicht gekettet an die Erdenschwere. Vielleicht hat sogar der Impuls, Vögel zu beobachten, seinen tiefsten Grund in diesem Traum, diesem Wunsch, sie nachzuahmen und irgendwohin zu fliegen. Was für ein Gefühl muss es sein, die Erde unter sich zu sehen, die Wälder, die Seen, die Flüsse. Und wie grenzenlos ist die Freiheit der Vögel, sich zu bewegen, neue Routen zu fliegen und in fremden Landschaften zu landen. Denn die Vögel fliegen überallhin. Wenn man ihre Flugrouten betrachtet, ergeben sich ganz neue geografische Verbindungen, nicht nur große Entfernungen, die sie mit immer noch rätselhaftem Orientierungssinn überwinden, sondern auch seltsame, fast spielerische Umwege – Schleifen und Ausflüge, die der Logik und der Ökonomie der Kräfte zu...