E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches
Demand / Knörer MERKUR 1/2024, Jg.78
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-608-12301-2
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nr. 896, Heft 01, Januar 2024
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches
ISBN: 978-3-608-12301-2
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nils Güttler schreibt über die von Flughäfen produzierten Risse im Raum. Helmut Draxler denkt über die psychoanalytische Sicht auf das Ressentiment nach. Vom Beginn des Straßenverkehrs bis in die Gegenwart rollt Leon Birck die Geschichte von deutschen Geschwindigkeitsbegrenzungen auf. Über die Fährnisse der "Melodie" in der Neuen Musik schreibt Andreas Dorschel.
In Jens-Christian Rabes Popkolumne geht es um die "Künstlichen Intelligenzen" gegenwärtiger Musik. Martin Höpner sucht in seiner Europa-Kolumne nach Optionen für die Beseitigung des von ihm diagnostizierten Demokratiedefizits. Daniel Immerwahr bespricht Quinn Slobodians Buch über eine Welt nicht der Nationen, sondern der aus dem Recht herausgeschnittenen Zonen.
In Jasper Westhaus' Erzählung "Mein vielgespaltener $chatten" sind wir in der Welt der zeitgenössischen Finanzen, Wirtschaft und Sprachmodellierungen unterwegs. Die Insolvenz des Anbieters VanMoof, der das Rad neu erfinden wollte, nimmt Jan Wetzel zum Anlass für einen Blick auf die Geschichte des Fahrrads. Jonathan Schilling beschreibt und geißelt die Unsitte (nicht nur) der Biografen, Frauen anders als Männer beim Vornamen zu nennen. Susanne Neuffer fährt zum Auftakt einer Reihe von Kurzerzählungen mit Wilhelm Genazino eine Rolltreppe hinauf und wieder hinunter.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikwissenschaft Allgemein Musiktheorie, Musikästhetik, Kompositionslehre
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft: Prosa, Erzählung, Roman, Prosaautoren
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Gruppen/Soziale Themen Gender Studies, Geschlechtersoziologie
- Mathematik | Informatik EDV | Informatik Informatik Künstliche Intelligenz
- Sozialwissenschaften Sport | Tourismus | Freizeit Sport Fitness, Freizeitsport, Gesundheitssport Radfahren: Allgemein und Touring
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Geschichtswissenschaft Allgemein Biographien & Autobiographien: Historisch, Politisch, Militärisch
- Technische Wissenschaften Verkehrstechnik | Transportgewerbe Luft- und Raumfahrttechnik, Luftverkehr
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Internationale Beziehungen Europäische Union, Europapolitik
- Wirtschaftswissenschaften Wirtschaftssektoren & Branchen Transport- und Verkehrswirtschaft
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikgattungen Rock & Pop, Blues, Soul
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein
- Technische Wissenschaften Verkehrstechnik | Transportgewerbe Verkehrstechnologie: Allgemeines
Weitere Infos & Material
ESSAY
Nils Güttler
Risse im Raum
Helmut Draxler
Polarisierung und Ressentiment.
Ein Nachtrag zur Debatte
Leon Birck
Freie Fahrt für freie Volksgenossen
Andreas Dorschel
Melodien
KRITIK
Martin Höpner
Europa-Kolumne
Lässt sich das europäische Demokratiedefizit beheben?
Jens-Christian Rabe
Popkolumne.
Illusorischer Realismus
Daniel Immerwahr
Zonenbildung
MARGINALIEN
Jasper Westhaus
Ein vielgespaltener $chatten
Jan Wetzel
Fahrrad ohne Disruption
Jonathan Schilling
Alte Frauen duzt man nicht.
Wider die allzu vertrauliche Nennung historischer weiblicher Persönlichkeiten beim Vornamen
Susanne Neuffer
Die Genazino-Treppe
Beiträge DOI 10.21706/mr-78-1-5 Nils Güttler Risse im Raum
Durch die fensterlosen Gänge des Terminals. Die meisten Läden sind geschlossen, nur die Autovermietungen haben geöffnet. Im Hintergrund läuft Fahrstuhlmusik, gelegentlich von Ansagen unterbrochen. Bitte lassen Sie kein Gepäck unbeobachtet stehen. Ab und zu begegnet einem eine einsame Gestalt mit Atemschutzmaske, doch die Blicke treffen sich nur kurz, während man mit ausreichend Sicherheitsabstand aneinander vorbeihuscht. Mit dem Aufzug geht es in den 14. Stock auf ein mäßig gefülltes Parkdeck. Niemand zu sehen. Wieder zurück im Untergeschoss führt eine versteckte Tür ins Freie. Hier ist die Welt zwar ähnlich monoton wie im Inneren, aber immerhin gibt es zwischen den menschenleeren Verbindungsstraßen auch mal ein Blumenbeet, und in der Ferne ist ein Waldstück zu sehen. Immer wieder kommen mir Bilder vor Augen. Sie stammen aus Terminals und der Umgebung anderer Flughäfen, die Tausende Kilometer weit entfernt sind, aber nahezu identisch aussehen: Yaoundé (Kamerun), Porto Alegre (Brasilien), Verna (Rumänien), JFK (New York) und Kansai (Japan). Dazu gesellen sich Stimmen. Sie berichten von alten Kolonialplantagen, auf denen das Kautschuk für Flugzeugreifen hergestellt wurde; von der Favela Vila Nazaré, die auf den Druck von Fraport einer neuen Landebahn weichen musste; von Erdölraffinerien auf den Antillen, auf denen lange Zeit das in Frankfurt verwendete Kerosin hergestellt wurde. Die Karibikinseln sind heute ein Brennpunkt der globalen Klimakrise. Ein Satz hallt in meinem Kopf nach. Es war ein Auftrag: »Ich muss mich mit den anderen verbinden, denn die Räume, die wir durchqueren, sind nicht aus sich selbst heraus zu verstehen. Wir können uns alleine in ihnen nicht zurechtfinden. Zerstreut, aber parallel, versuchen wir den Weg zu finden.« Es ist Juli 2021. Auf dem Frankfurter Flughafen kann man an The Passengers teilnehmen, einem Video-Walk, den das Künstlerkollektiv LIGNA gestaltet hat. Bei der Tour folgt man einer festgelegten Route, die auf dem Smartphone-Display eingespielt wird und mit Parallelrundgängen durch andere Flughäfen überlagert ist. Es handelt sich um ein Experiment im »Synchronisieren«. Performativ, in der Mischung aus Gehen, Sehen und Hören, sollen die Teilnehmenden in ein »Netz von Ähnlichkeiten« und »Verbindungen« einsinken, in dem die »zerstreuten Jetzt-Zeiten« dieser Orte als gleichzeitig erfahrbar werden sollen. In die globale Gegenwart mischt sich aber auch jede Menge Geschichte, etwa die deutsche koloniale Umweltgeschichte, die Firmengeschichte von Fraport und nicht zuletzt eine der wichtigsten Episoden aus der jüngeren Geschichte des Frankfurter Flughafens: der Widerstand gegen den Bau der Startbahn West in den frühen 1980er Jahren. »Legen Sie meinen Blick und Ihren übereinander.« Dass der Video-Walk für viele Teilnehmende zu einer ganz besonderen und teils verstörenden Erfahrung wurde, lag nicht nur an der oft irritierenden Überlagerung von Orten, Bildern, Stimmen und Geschichten. Es hatte maßgeblich mit dem Moment der Aufführung zu tun. Lange vor der Pandemie geplant, geriet das Projekt in die Mühlen der Covid-Jahre. Die Veranstaltung musste mehrfach verschoben werden und fand schließlich zwischen dem zweiten und dritten Lockdown statt, kurz nach dem Ende der »Bundesnotbremse«. Die Fahrgastzahlen stiegen damals auch in Frankfurt langsam wieder – die Ferienflieger standen schon wieder startbereit –, aber der Flughafen befand sich noch im Notfallmodus. Gerade mal ein Jahr war es her gewesen, dass »die Welt stillstand und ihre Räume scheinbar einte«, wie es am Beginn des Rundgangs heißt. Dieser Moment, der erste Lockdown, bildet dessen Leitmotiv. Denn plötzlich schien sich mit den Flughäfen etwas zu verändern, und es wurde etwas sichtbar: »Ein Riss im Raum, in dem etwas auftauchen konnte. Eine andere Realität, eine andere Möglichkeit zu leben, eine Welt ohne Warentausch. Aber das war nur ein kurzer Moment. Die Waren sind wieder an ihrem Ort, die Geschäftigkeit ist zurückgekehrt, aber die Hoffnung bleibt, dass wir uns in diesem kurzen, globalen Moment einen Weg durch das Labyrinth der Globalisierung bahnen können, einen Weg durch die globalen Räume wie den Flughafen.« Der pandemische Flughafen
Als im März 2020 viele Teile der Welt dichtmachten, wurden die Flughäfen schnell zu einem Sinnbild der Pandemie. Sie waren der Ort, der die schnelle Ausbreitung der verschiedenen Virusvarianten möglich machte, hier musste sie eingedämmt werden. Während die mobilen Teile der Bevölkerung zuhause bleiben mussten und die Flughafengesellschaften den größten Teil ihrer Belegschaft in Kurzarbeit schickten, wurden andere in spektakulären Aktionen in ihre Heimatländer zurückgebracht. In den Medien zirkulierten Bilder menschenleerer Terminals, gestrandeter Passagiere und aufwändiger Rückholaktionen. Wer Mitte März 2020 noch mit dem Flugzeug unterwegs war, fühlte sich zwischen zwei Welten: Die Routinen liefen weiterhin verstörend normal – an vielen Flughäfen gab es trotz scharfer Rhetorik aus den Innenministerien nicht einmal Passkontrollen –, aber über allem schwebte die Gewissheit, am Ende von etwas angekommen zu sein und in eine ungewisse Zukunft zu steuern. Bei näherem Hinsehen war man auf diese Zukunft gut vorbereitet. Aufbauend auf den Erfahrungen während der SARS-Pandemie 2002 waren Flughäfen längst als epidemiologische Knotenpunkte erkannt, an denen der Strom der Menschen frühzeitig gestoppt werden musste. »Am Flughafen Frankfurt werden in enger Abstimmung zwischen dem Flughafenbetreiber Fraport AG und dem Amt für Gesundheit situationsadaptiert Maßnahmen ergriffen, um die Einschleppung und Weiterverbreitung von Keimen zu verringern«, hieß es beispielsweise im Kommunalen Influenzapandemieplan des Amts für Gesundheit Frankfurt am Main aus dem Jahr 2011/12. Die Weltgesundheitsorganisation WHO bot spezielle Kurse an, um das Personal der großen Hub-Flughäfen für den Ernstfall zu schulen. Die Behörden, die Flughafengesellschaften und die Öffentlichkeit hatten fast zwanzig Jahre auf die Pandemie »gewartet«, wie es der Ethnologe Carlo Caduff 2017 formulierte.1 Sein Kollege Andrew Lakoff sprach im gleichen Jahr von einer sich global ausbreitenden Kultur des Vorbereitetseins, der »preparedness«.2 Der Erfahrungsschatz, aus dem sich diese Kultur der Vorbereitung speiste, war freilich älter. Was Frankfurt angeht, reichte er mindestens bis in die 1960er Jahre zurück. Im Juli 1967 wurde das später als »Marburg Virus« bezeichnete, hochinfektiöse und tödliche Filovirus durch einen Tiertransport von rund 600 Affen – es handelte sich um Äthiopische Grünmeerkatzen – nach Zwischenstopp in London-Heathrow über den Flughafen ins Rhein-Main-Gebiet eingeschleppt. Fünf Menschen, die mit den Affen oder anderen Infizierten in Berührung gekommen waren, starben. Im Tier-Terminal des Flughafens, dem »Tierraum«, der mittlerweile in »Animal Lounge« umbenannt worden ist und heute von Lufthansa Cargo betrieben wird, verschärfte man die Hygiene- und Quarantänevorschriften. Eine Tierärztliche Grenzkontrollstelle entstand, in der heute mehrere Dutzend Veterinäre und Veterinärinnen arbeiten. Und apropos Affen: Hat uns nicht Hollywood spätestens seit den 1990er Jahren auf die Rolle von Flughäfen im pandemischen Ernstfall vorbereitet? Man denke nur an 12 Monkeys (1996), den vielleicht schönsten Pandemiefilm der jüngeren Kinogeschichte. In der Schlussszene besteigt der Biowissenschaftler Dr. Peter ein Passagierflugzeug, um ein genetisch manipuliertes Laborvirus, das er im Aktenkoffer bei sich trägt, auf der Welt zu verteilen und die Menschheit zu vernichten. Sein Widersacher, der dem Wahnsinn nahe Zeitreisende James Cole, kommt zu spät und muss zu allem Überfluss noch mitanschauen, wie er als Kind zum Zeugen seines eigenen Todes wird. Er stirbt am Flughafen Philadelphia, in den Armen seiner Psychiaterin. Der Film greift einen Topos auf, der aus dem öffentlichen Diskurs über die Luftfahrt seit Beginn des Jet Age in den frühen 1960er Jahren nicht mehr wegzudenken ist: der Flughafen als Symbol der modernen Entfremdung des Menschen von der Natur. Denn hinter der globalen Pandemie verbirgt sich in 12 Monkeys – wie in vielen Pandemiefilmen – der anthropogene Ökozid. Der...