E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches
Demand / Knörer MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken - 2/2022
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-608-11898-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nr. 873, Heft 2, Februar 2022 E-PUB
E-Book, Deutsch, 104 Seiten
Reihe: MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches
ISBN: 978-3-608-11898-8
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Kunst Fotografie
- Geisteswissenschaften Literaturwissenschaft Literaturgeschichte und Literaturkritik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Faschismus, Rechtsextremismus
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikwissenschaft Allgemein Einzelne Komponisten und Musiker
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politikerbiographien
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- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Soziale Ungleichheit, Armut, Rassismus
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikgattungen Andere zeitgenössische Musikrichtungen
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte Deutsche Geschichte: Regional- & Stadtgeschichte
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikgattungen Rock & Pop, Blues, Soul
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Soziologie von Migranten und Minderheiten
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Systeme Demokratie
Weitere Infos & Material
ESSAY
MICHAEL LIPKIN
Ein vielgehasster Mann.
Günter Wallraffs Maskeraden
KARIN HARRASSER
Surazo.
Nachgeschichten des Nationalsozialismus
HANS PETER BULL
Bürokratieabbau
KRITIK
ANDREAS ECKERT
Geschichtskolumne.
Antikolonialismus, Dekolonisation und "Dritte Welt"
JOHANNES FRANZEN
Das liebe Geld.
Literatur und Autonomie-Ideologie
CHRISTIAN WIEBE
Serielle Produktionsexzesse: Verlorengehen mit Haiyti
MARGINALIEN
MORITZ RUDOLPH
Fukuyama City.
Zur Berliner Denkart
IRENEUSZ PAWEL KAROLEWSKI/CLAUS LEGGEWIE
Die Demokraturen Mittelosteuropas
JULIAN MÜLLER/ASTRID SÉVILLE
Ist Dauerreflexion kommunizierbar?
Das Habeck-Paradox
GÜNTER HACK
Körperbilder.
Zur Photogrammetrie
KARL HEINZ GÖTZE
Altaussee
HANNA ENGELMEIER
Ich hab' da so eine Stelle
Beiträge DOI 10.21706/mr-76-2-5 Michael Lipkin Ein vielgehasster Mann
Günter Wallraffs Maskeraden Im Herbst 2009 geriet der Enthüllungsjournalist Günter Wallraff, lange schon berühmt für seine investigativen Undercover-Recherchen in Firmen wie Ford, Siemens und Melitta, wieder einmal in die Schlagzeilen. Anlass für die mediale Aufregung war der Kinostart des Films Schwarz auf weiß – Eine Reise durch Deutschland, in dem Wallraff den Rassismus gegenüber afrikanischen Geflüchteten in Deutschland dokumentierte. Wieder war Wallraff undercover unterwegs, diesmal als somalischer Flüchtling Kwami Ogonno. Mithilfe von mehreren somalischen Mitarbeitern schminkte Wallraff sein Gesicht braun, setzte sich eine Afro-Perücke auf und zeichnete mit einer wackeligen versteckten Kamera die spontanen, größtenteils negativen Reaktionen auf, die seine Anwesenheit quer durch Deutschland auslöste. Konnte sich Wallraff bis dahin immer auf die Sympathie oder zumindest das Interesse der Presse verlassen, wurde er dieses Mal regelrecht gegrillt. Vorhersehbar war die Kritik schwarzer Autorinnen und Autoren wie der Schriftstellerin und Schauspielerin Noah Sow, die in der Tagesschau erklärte: »Er kann als angemalter Weißer schwarze Erfahrungen nicht machen und auch nicht in einen Zusammenhang stellen, auch wenn er das glaubt oder versucht.« Die schärfsten Attacken kamen jedoch aus den Kreisen, die ihn bisher immer unterstützt hatten. Nach Ansicht der Süddeutschen Zeitung zeige der Film den Rassismus Wallraffs, nicht den Deutschlands: »Was Wallraff hier vorführt, ist weniger eine Anklage gegen den Rassismus als eine Inszenierung seiner eigenen Vorurteile«, schrieb Andrian Kreye. Die gesammelten Erkenntnisse des Films seien von vornherein durch seine Methode – das Blackfacing – kontaminiert. Der Text trug die psychologische Anklage schon im Titel: Ein Mann will gehasst werden. Keine der Rezensionen ging ausführlicher darauf ein, dass Wallraff 1985 mit dem Reportagebuch Ganz unten und einer ganz ähnlichen Methode den Zenit seines Ruhms erreicht hatte. Nachdem ihn 1977 die Enthüllungsstory über die Bild-Zeitung, Der Aufmacher, deutschlandweit berühmt gemacht hatte, benutzte Wallraff immer öfter Verkleidungen und gefakte Identitäten für seine investigative Arbeit. Inspiriert von Black Like Me, John Howard Griffins Reportage von 1961 über seine Reise als Schwarzer durch den tiefen amerikanischen Süden, dokumentierte Wallraff die inakzeptablen Arbeitsbedingungen und den konstanten Rassismus, denen er als türkischer Gastarbeiter namens Ali Sinirlioglu begegnet war. Die türkische Einwanderung war gerade ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt, als Ganz unten erschien; rechtsextreme Parteien, seit Jahrzehnten von der Bildfläche verschwunden, erzielten in ganz Europa Wahlerfolge, und das Buch überstand – oder nutzte – die heftige Kritik von rechts wie von links und wurde ein Bestseller. Das Material, das Wallraff heimlich als Ali aufgenommen hatte, kam 1986 als Film heraus und wurde wohlwollend besprochen. Eine zweite Auflage des Buchs erschien 1988 und enthielt – typisch für Wallraffs Bücher – zusätzlich zweihundert Seiten dokumentarisches Material zu den Nachwirkungen der Veröffentlichung. Bis dahin hatte sich das Buch bereits eine Million Mal verkauft und war in dreißig Sprachen übersetzt worden. Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen Wallraffs größtem Misserfolg und seinem größten Erfolg erklären? Was sich in den vierundzwanzig Jahren zwischen Ganz unten und Schwarz auf weiß verändert hatte, von Wallraff aber nicht berücksichtigt worden war, war die »Amerikanisierung« des deutschen Diskurses über Rassismus. Natürlich hatte auch der amerikanische Diskurs in diesen Jahren seismische Verschiebungen erfahren. Durch die Bürgerrechtsgesetze Mitte der sechziger Jahre erhielt die schwarze Mittelschicht zum ersten Mal Zugang zu politischer und kultureller Macht. Wie auch die amerikanischen Juden, die jetzt nicht mehr durch antisemitische Quotengesetze ausgegrenzt wurden, sowie die vielen gutausgebildeten Einwanderer aus Ost- und Südasien, die nach der Revision der amerikanischen Einwanderungsgesetze durch Lyndon B. Johnson im Jahr 1965 ins Land kamen. Davor hatte man unter der »Rassenfrage« den Einsatz von staatlich unterstütztem Terror verstanden, mit dem man schwarze Bürger vom freien Zugang zu Krediten und Eigentum und vom Wahlrecht ausschloss. Die Rassismusdebatten der folgenden Jahrzehnte konzentrierten sich im Gegensatz dazu auf das quälende Drama der Assimilation – das allgegenwärtige Gefühl, dass man als nichtweißer Bürger, egal, wie weit man es bringt, immer ein Eindringling bleibt. Dieser Wandel lässt sich zum einen an einer Reihe von Begriffen ablesen (»bias« – Befangenheit; »prejudice« – Vorurteil; neuerdings »Mikroaggression«), die zur Beschreibung der subtilen, unbewussten Feindseligkeit verwendet wurden, die an die Stelle des nun tabuisierten offenen Hasses getreten war; zum anderen daran, dass in den Debatten mit der größten öffentlichen Sichtbarkeit vergleichsweise elitäre Probleme diskutiert wurden, etwa »positive Diskriminierung«, Verhaltenskodizes an Universitäten oder mangelnde Repräsentation auf den höchsten Ebenen der Gesellschaft. Die vorangegangenen Debatten um das mit der Hautfarbe verbundene Armutsrisiko, die ungleiche Verteilung von Aufstiegschancen und Lebenserwartung oder auch um Polizeigewalt, verschwanden dabei zwar nicht gänzlich. Schließlich war man mit derartigen Fragestellungen schon über die Nachrichten auch weiterhin regelmäßig und oft auf dramatische Weise konfrontiert – besonders heftig während der gewaltsamen Unruhen in Los Angeles 1992. Aber sie verblassten letztlich in dem Maß, in dem die Kriminalitätsrate allmählich sank, während das Bruttoinlandsprodukt zugleich anstieg. Diese Entschärfung der Rassismusdebatte – die zunehmende Akzeptanz der Annahme, dass es zwar noch »zu tun« gebe, aber doch auch schon »Fortschritte gemacht« worden seien – traf ausgerechnet während der Präsidentschaft Obamas, als Amerika angeblich in eine »postrassistische Ära« eingetreten war, auf eine starke Gegenströmung. Als in den konservativen Medien die rassistische »Birther«-Verschwörung verbreitet wurde, von Bürgern aufgezeichnetes Filmmaterial von Polizeischießereien kursierte und schließlich Donald Trump zum Präsidenten gewählt wurde, bildete sich ein Gegendiskurs zum vorsichtigen Optimismus der vorangegangenen Jahrzehnte. Er verhandelte Rassismus nicht so sehr als Phänomen, für das die einzelnen Bürgerinnen und Bürgern individuell verantwortlich zu machen waren; das Verschulden sah er vielmehr bei den politischen Institutionen, dem Rechtssystem, den Finanzmärkten, dem Kulturbetrieb. Der sich wechselseitig verstärkende strukturelle Rassismus in diesen Bereichen, so wurde argumentiert, habe verheerende Folgen, etwa die enorme Ungleichverteilung von Hausbesitz unter Schwarzen und Weißen, und führe zu den eingewachsenen gesellschaftlichen Machtverhältnissen, für die der Begriff der »white supremacy« geprägt wurde. Wie sonst ließe sich die fortdauernde Segregation in den Schulen erklären, trotz aller Gesetze, die genau das verbieten, trotz jahrzehntelanger Integrationsversuche? Weil der neue Rassismusdiskurs sich primär für überindividuelle historische Prozesse interessierte, gingen daraus in erster Linie Beiträge zu einer Archäologie des strukturellen Rassismus hervor, beispielsweise Studien zum Geschäftsgebaren der Spar- und Darlehenskassen. Das analytische Paradigma der Vorgängerdebatte, die den Rassismus der moralischen Haltung jedes/jeder Einzelnen zugeschrieben hatte, wurde dadurch überlagert, es blieb aber weiterhin präsent. Die Kontroverse um Schwarz auf weiß griff diesen doppelten Diskurs auf und übertrug ihn auf den deutschen Kontext. Nahezu jeder Aspekt ist beeinflusst von der amerikanischen Rassismusdebatte, von Noah Sows Verwendung des englischen Begriffs »people of color« über den kurzen Exkurs der Süddeutschen Zeitung zur Geschichte des Blackfacing in Amerika bis hin zur Themenwahl Wallraffs – der sich, statt dem Rassismus gegen Schwarze nachzugehen, in Deutschland ebenso gut auch mit dem historisch naheliegenderen Phänomen des Antisemitismus hätte beschäftigen können. Ungeachtet ihrer Meinungsverschiedenheiten kamen Wallraff, Sow und die SZ alle...