E-Book, Deutsch, 304 Seiten
Dietlein Jagd vorbei und Halali
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-440-51101-5
Verlag: Kosmos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dad deutsche Waidwerk – ein Auslaufmodell? Das deutsche Jagdsystem auf dem Prüfstand. Pro und Contra aus kompetenter Quelle. Fakten statt Ideologie
E-Book, Deutsch, 304 Seiten
ISBN: 978-3-440-51101-5
Verlag: Kosmos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Es ist der ewige Streit zwischen Jagdbefürwortern und -gegnern: Hat die Jagd in der heutigen Zeit noch ihre Berechtigung? Prof. Johannes Dietlein ist Experte für die rechtlichen jägerlichen Grundlagen und gibt in diesem Buch spannende Einsichten in den politischen Diskurs rund um die Jagd.
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KONFLIKTLINIEN IN EINEM LANGEN STREIT
Jagd als Motor der Evolution
Der politische Diskurs um die Jagd und ihre Rechtfertigung ist nicht nur eine tagespolitische Debatte. Vielmehr reichen die Facetten des Themas weit in die Vergangenheit bis hin zu den Ursprüngen des Menschen. Nicht von ungefähr wird gerade die besondere Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Homo sapiens vielfach als eines der zentralen Argumente zur Rechtfertigung der Jagd in der Neuzeit vorgebracht: Wenn denn der Mensch, wie uns die Anthropologie lehrt, entstehungsgeschichtlich ein „geborener Jäger“ ist, was sollte falsch daran sein, wenn er weiter der Jagd nachgeht? Ohne Zweifel ist es richtig, dass der Jagd eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung und Entwicklung unserer Art zukommt. Zwar stellten die vor fünf bis zweieinhalb Millionen Jahren lebenden menschenähnlichen Vorläufer der Gattung Homo vermutlich eher die Beute tierischer Jäger dar, als dass sie selbst als Jäger unterwegs gewesen wären.8 Doch während sich die Spur der auf den Verzehr pflanzlicher Kost spezialisierten Gruppen der Hominini vor rund einer Million Jahre im Nichts verliert, leiteten die Hinwendung zur Jagd und die Umstellung auf tierische Nahrung für eine andere Linie den Übergang zur Gattung Homo und zuletzt zur Entwicklung des Homo sapiens ein. Insbesondere die exorbitante Steigerung des menschlichen Gehirnvolumens wird evolutionsgeschichtlich vielfach mit der Umstellung auf energiereiche tierische Nahrung in Verbindung gebracht.9 Vermutlich vor 200 000 bis 300 000 Jahren tauchte Homo sapiens erstmals auf dem afrikanischen Kontinent auf und erreichte vor ca. 54 000 bis 45 000 Jahren, vielleicht früher, die europäischen Breiten.10 Gerade einmal 7500 Jahre ist es her, dass die Jagd als vorrangige Lebensform des Homo sapiens durch die ortsgebundene Landwirtschaft abgelöst wurde. Über mehr als 40 000 Jahre hatte Homo sapiens zuvor seine jagdlichen Spuren in Europa hinterlassen, so wie vor ihm der Homo neanderthalensis und der Homo heidelbergensis. Ihrer aller zentraler Überlebensfaktor war die Jagd: Sie eröffnete Nahrungsquellen und gewährte Schutz vor gefährlichen Raubtieren. Eindrucksvolle Zeugen dieser Zeit sind etwa die Schöninger Jagdspeere und -lanzen des Homo heidelbergensis, der vor 300 000 Jahren in unseren Breiten wilden Pferden, Rindern und Hirschen nachstellte, die gut 100 000 Jahre alte Lanze von Lehringen des jagenden Neandertalers oder die rund 54 000 Jahre alten, wohl bereits vom Homo sapiens bearbeiteten Feuerstein-Pfeilspitzen aus der Mandrin-Grotte im Südosten Frankreichs.11 Eindrucksvolles Zeugnis dieser jagdlichen Geschichte des Menschen ist nicht zuletzt unser eigener Körperbau mit seiner in der Tierwelt einzigartig flexiblen Arm- und Schulterpartie; von der Natur über Tausende von Jahren geformt für das Schleudern von Lanzen und Speeren.12 Eine mindestens ebenso entscheidende Rolle dürfte der Jagd aber auch im Hinblick auf die soziokulturelle Evolution des Menschen zukommen. Denn die Jagd erforderte ein koordiniertes Zusammenwirken innerhalb der jagenden Gruppen und wurde dadurch zum entscheidenden Katalysator für das besondere Sozialverhalten des Menschen. Ebenso kann die Jagd als Motor für die künstlerisch-kulturelle Evolution des Menschen gesehen werden. Beredtes Zeugnis hierfür sind die von dem Tübinger Archäologen Nicholas J. Conard entdeckten Eiszeitplastiken jagdlicher Beutetiere in Höhlen der Schwäbischen Alb, die aus der frühen Besiedlungszeit Europas stammen und seit 2017 zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Sie sind nur unwesentlich jünger als die berühmte Darstellung eines wilden Schweins, das vor 45 500 Jahren von eiszeitlichen Jägern in die Wände einer Kalkstein-Höhle auf der indonesischen Insel Sulawesi gezeichnet wurde und derzeit als das älteste bekannte Gemälde der Welt gilt.13 Selbst das religiöse Denken, die „religiöse Evolution“ der Menschheit, scheint ihre Ursprünge im Umfeld der Jagd zu finden. Darauf jedenfalls deutet die Grabbeigabe zu dem mutmaßlich ältesten bislang freigelegten Grab in Israel aus der Zeit um 100 000 v. Chr., die ausgerechnet in einem Hirschgeweih bestand. Grabbeigaben aus Hirschgeweih wurden, wenngleich deutlich jüngeren Ursprungs, auch in Deutschland aufgefunden.14 Und die Überlegung liegt nahe, dass man diesen „Trophäen“ womöglich eine transzendentale Bedeutung beigemessen hat. So vermutet der Bochumer Religionswissenschaftler Volkhard Krech, dass es von den existenziellen Erfahrungen der frühzeitlichen Jagd hin zu religiösen Vorstellungen nur ein kleiner Schritt war. Immerhin geht es bei der Jagd durchaus auch um Grundfragen von Leben und Tod. „Da dockt Religion an“, so der Religionsforscher.15 Archaische Triebmodelle und das Wesen der Zivilisation
Aber hat die Entstehungsgeschichte des Menschen wirklich noch etwas mit unserer Gegenwart und mit der Gegenwart der Jagd in unserem Lande zu tun? Lässt sich die Jagd in der Moderne damit begründen, dass sie als Urform menschlichen Handelns gleichsam im menschlichen Trieb- und Instinktsystem grundgelegt sei? Tatsächlich findet sich eine unübersehbare Anzahl an Abhandlungen und Theorien zur fortdauernden Präsenz des steinzeitlichen Jägers im modernen Menschen, dem, wie es die US-Anthropologen Tiger und Fox formulierten, „die Zeit für die Evolution eines bäuerlichen oder industriellen Gehirns und Körpers“ fehlte.16 Spannend und unterhaltsam sind die Versuche, bestimmte Verhaltensweisen des modernen Menschen auf archaische Instinkte der steinzeitlichen Jäger zurückzuführen. Etwa die bevorzugte Wahl von Wandplätzen in Lokalen, die nach Auffassung mancher Forscher auf steinzeitliche Ängste vor den Attacken wilder Tiere geprägt sein soll; oder unser Appetit auf Fastfood, dessen Wurzeln manche in der steinzeitlichen Nahrungsknappheit und dem daraus resultierenden Heißhunger unserer frühen Vorfahren auf Zucker und Fett sehen.Natürlich ist die Existenz solcher Vererbungslinien keineswegs ausgeschlossen. Immerhin wissen wir aus der modernen Epigenetik, dass Verhaltensweisen und erst recht traumatische Erlebnisse der Eltern und Großeltern Einfluss auf unseren „epigenetischen Code“ haben können, der dann über die Aktivierung bestimmter Gene entscheidet. Doch genau diese hohe Dynamik unseres Erbgutes dürfte es zugleich schwierig machen, bestimmte Verhaltensformen ausgerechnet auf Erfahrungen unserer steinzeitlichen Vorfahren zurückzuführen. Dies gilt übrigens auch für Theorien, die die scheinbar nicht auszurottende Neigung der Menschen zur Gewalt mit dem frühen Jägerdasein des Homo sapiens in Verbindung bringen wollen. Ihnen ist der US-Anthropologe Travis Pickering von der University of Wisconsin-Madison mit der ebenso bemerkenswerten These entgegengetreten, dass gerade umgekehrt die Professionalisierung der Jagd und der Einsatz von Distanzwaffen wie Speeren und Lanzen schon bei den frühen Menschen zu einer Entkoppelung von Aggression und Jagd geführt habe. Aber auch die De-Emotionalisierung der Jagd wäre dann womöglich eine frühzeitliche jagdliche Prägung. Wie immer man zu den vielfältigen Theorien um unser inneres Sein steht, so erscheint es doch schwierig, aus frühzeitlichen Verhaltensformen des Menschen eine Rechtfertigung für heutiges Handeln und damit eben auch für die rechtliche Zulassung der jagdlichen Tötung hochentwickelter Säugetiere in der Neuzeit ableiten zu wollen. So belegt nicht nur der marginale Jägeranteil von gerade einmal 0,5?% an der deutschen Gesamtbevölkerung, dass es bei der modernen Jagd nicht um eine typusprägende Form der Selbstentfaltung des Menschen geht. Und selbst wenn man dies anders bewerten will: Besteht die Einzigartigkeit des Menschen nicht gerade darin, dass er, anders als alle übrigen Mitgeschöpfe auf diesem Planeten, so etwas wie einen eigenen Willen entwickeln konnte und sich damit weithin aus der Gefangenschaft der bloßen Instinktsteuerung befreit hat? Diese Freiheit sowie die Fähigkeit des empathischen Blicks auf seine Mitgeschöpfe geben dem Menschen die Möglichkeit, das eigene Handeln zu reflektieren und an den jeweiligen Reflexionsstand anzupassen. Es ist dies der Ausgangspunkt dessen, was wir Zivilisation nennen, und deren Wesen in der stetigen Weiterentwicklung des sozialen Miteinanders und des verantwortungsvollen Umgangs mit unserer Umwelt und unseren eigenen Lebensgrundlagen liegt. In die hierdurch eröffnete zivilisatorische Entwicklung der Menschheit ist die Jagd als menschliche Verhaltensform einbezogen. Empathie, Reflexion und die Überwindung korrekturbedürftiger Verhaltensformen sind in diesem Prozess zentrale Bausteine. So käme denn auch niemand auf die Idee, aus der Abwehrhaltung steinzeitlicher Menschengruppen gegenüber ihnen unbekannten anderen Gruppen auf eine Legitimation rassistischen Verhaltens in der Neuzeit zu folgern. Und niemand würde aus dem von Yuval Noah Harari rekonstruierten Gebaren unserer steinzeitlichen Artgenossen, alten und kranken Angehörigen der eigenen Horde beizeiten den Schädel einzuschlagen17, irgendwelche Rechtfertigungsgründe für Mord und Totschlag in der Neuzeit ableiten. Zudem zeigt uns die moderne Forschung, dass empathisches Verhalten durchaus auch in der Tierwelt nachzuweisen ist. Etwa wenn Ratten Futter verweigern, sobald ihnen dieses bei gleichzeitiger Beschallung mit Schmerzlauten ihrer Artgenossen angeboten wird; aber auch artübergreifend, wenn etwa in Zoologischen Gärten gehaltene Gorillas, wie die legendäre Binti Jua oder ihr männlicher...