Döpfner / Rothenberger / Roessner Tic-Störungen
1. Auflage 2010
ISBN: 978-3-8409-1728-8
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
E-Book, Deutsch, 182 Seiten
Reihe: Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie
ISBN: 978-3-8409-1728-8
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark
Tic-Störungen im Kindes- und Jugendalter umfassen ein weites Spektrum. Sie treten häufig als kaum bemerkbare und nicht störende unwillkürliche Äußerungen auf, können aber auch als massive motorische oder vokale Tics sowie als Kombination von motorischen und vokalen Tics (Tourette-Störung) vorkommen. In dieser Form verursachen sie enormes Leid bei den Betroffenen und schränken deren Möglichkeiten zur Teilnahme in vielen Lebensbereichen erheblich ein.
Die Diagnostik und Therapie von Tic-Störungen stellt eine besondere Herausforderung dar, weil diese Störungen bei schweren Ausprägungen über das Kindes- und Jugendalter hinweg häufig einen chronischen Verlauf aufweisen, oft mit anderen psychischen Störungen gemeinsam auftreten und teilweise schwer zu behandeln sind. Der Band informiert über den aktuellen Stand des Wissens zur Verbreitung der Problematik, ihren Ursachen und den Behandlungsmöglichkeiten. Ausführlich werden Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle sowie zur Behandlungsindikation vorgestellt. Die Leitlinien zur Therapie der verschiedenen Formen von Tic-Störungen erläutern das multimodale therapeutische Vorgehen, welches pharmakologische und psychotherapeutische Optionen miteinander verbindet. Informationen zu diagnostischen Verfahren, Materialien zur Exploration sowie Fallbeispiele erleichtern die Umsetzung der Leitlinien in der klinischen Praxis.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Kinder- & Jugendpsychiatrie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Verhaltenstherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
Weitere Infos & Material
1;Einleitung: Grundlagen und Aufbau des Buches;6
2;Inhaltsverzeichnis;8
3;1 Stand der Forschung;10
3.1;1.1 Symptomatik;10
3.2;1.2 Komorbide Störungen;17
3.3;1.3 Pathogenese;23
3.4;1.4 Verlauf;32
3.5;1.5 Therapie;35
3.5.1;1.5.1 Verhaltenstherapie;35
3.5.2;1.5.2 Pharmakotherapie;44
3.5.3;1.5.3 Alternative Therapieansätze;55
4;2 Leitlinien;57
4.1;2.1 Leitlinien zur Diagnostik und Verlaufskontrolle;57
4.1.1;2.1.1 Exploration des Patienten, seiner Eltern und Erzieher/ Lehrer;58
4.1.2;2.1.2 Fragebogenverfahren zur Verhaltens- und Psychodiagnostik;83
4.1.3;2.1.3 Ergänzende psychologische Diagnostik;87
4.1.4;2.1.4 Anamnese bezüglich körperlicher Symptome und somatische Diagnostik;88
4.1.5;2.1.5 Leitlinien zur Verlaufskontrolle;93
4.2;2.2 Leitlinien zu Behandlungsindikationen;94
4.3;2.3 Leitlinien zur Therapie;103
4.3.1;2.3.1 Psychoedukation der Eltern, der Erzieher/Lehrer und des Kindes/ Jugendlichen;104
4.3.2;2.3.2 Kognitiv-behaviorale Therapie im Vorschul- und Einschulungsalter;109
4.3.3;2.3.3 Kognitiv-behaviorale Therapie im Schul- und Jugendalter;113
4.3.4;2.3.4 Medikamentöse Behandlung;127
4.3.5;2.3.5 Bewältigung residualer Tics;132
5;3 Verfahren zur Diagnostik und Therapie;138
5.1;3.1 Verfahren zur Diagnostik und Verlaufskontrolle bei Tic- Störung;138
5.1.1;3.1.1 DCL-TIC: Diagnose-Checkliste für Tic-Störungen;138
5.1.2;3.1.2 FBB-TIC/SBB-TIC: Fremdbeurteilungsbogen/ Selbstbeurteilungsbogen für Tic- Störung;139
5.2;3.2 Verfahren zur Therapie bei Kindern und Jugendlichen mit Tic- Störung;140
5.2.1;3.2.1 Stresspräventionstraining für Kinder im Grundschulalter;140
5.2.2;3.2.2 Anti-Stress-Training für Kinder;141
5.2.3;3.2.3 Therapieprogramm Tic-Störungen (THICS);142
6;4 Materialien;144
7;5 Fallbeispiele;151
7.1;5.1 Fallbeispiel 1: Verhaltenstherapie;151
7.2;5.2 Fallbeispiel 2: Medikamentöse Entwicklungsanpassung sowie Schulunlust als medikamentöse Nebenwirkung;165
8;6 Literatur;169
8.1;6.1 Zitierte Literatur;169
8.2;6.2 Literaturempfehlungen für Fachleute;183
8.3;6.3 Literaturempfehlungen für Betroffene;183
1 Stand der Forschung (S. 1-2)
1.1 Symptomatik
Tics sind plötzliche, unwillkürliche, rasche, sich wiederholende, nicht rhythmische motorische Bewegungen, die zwar umschriebene funktionelle Muskelgruppen betreffen aber keinem offensichtlichen Zweck dienen (motorische Tics) oder entsprechende vokale Produktionen (vokale Tics). Sie dauern meist kürzer als eine Sekunde an, wiederholen sich aber oft in kurzen Serien ohne dabei einen Rhythmus zu entwickeln. Tics können als isolierte und enthemmte Fragmente gelernter willkürlicher Motorik und/oder Vokalisationen betrachtet werden. Im Gegensatz zu willkürlichen Verhaltensmustern, denen sie vom Muster her teilweise auch ähneln können, sind sie nicht zweckgerichtet und werden subjektiv fast immer als sinnlos sowie oft als störend empfunden (Rothenberger, Banaschewski & Roessner, 2008).
Sowohl motorische als auch vokale Tics können in ihrer Anzahl, Lokalisation, Komplexität, Intensität, Häufigkeit und Art inter- und intraindividuell beträchtlich variieren. Tabelle 1 zeigt Beispiele von einfachen und komplexen motorischen und vokalen Tics, sowie von besonderen Phänomenen, die allerdings selten auftreten (vgl. Rothenberger et al., 2008, Döpfner & Rothenberger, 2007a, b, 2008):
– Zu den einfachen motorischen Tics zählen Augenblinzeln, Kopfwerfen, Schulterzucken und Grimassieren. Komplexe motorische Tics sind oft langsamer und wirken deshalb in ihrem Erscheinungsbild eher einem Ziel zugeordnet, wie zum Beispiel im Kreis herumwirbeln, Hüpfen, in die Hände klatschen, Nacken angespannt verziehen, Arme beugen, Bein strecken, Trippelbewegungen machen oder die Faust ballen. Motorische Tics zeigen sich fast durchweg zuerst und am häufigsten im Gesicht-, Kopf-, Nacken- und Schulterbereich und später (und seltener) im distalen Körperbereich. Die zwangsartige Wiederholung von Gesten (bzw. Tics) anderer nennt man Echopraxie, die von obszönen Gesten Kopropraxie.
– Bei den vokalen Tics variiert der Komplexitätsgrad von Lautausstoßungen, Räuspern, Bellen, Grunzen, Schnüffeln und Zischen bis hin zur Wiederholung bestimmter Wörter (Echolalie) und dem Gebrauch sozial unannehmbarer, oft obszöner Wörter (Koprolalie) sowie der Wiederholung eigener Laute oder Wörter (Palilalie).
Normalerweise werden Tics als nicht unterdrückbar erfahren, sie können jedoch meist zumindest für kurze Zeit, mitunter bis zu mehrere Stunden lang unterdrückt werden. Tics können auch zeitlich verschoben und in ihrer Ausprägung beeinflusst werden. Kindern ist es häufig möglich, zu warten, bis sie zu Hause sind, bevor sie mit dem Ausstoßen eines Schreies beginnen. Sie sind mitunter in der Lage, rechtzeitig für kurze Zeiträume den Klassenverband zu verlassen, um ihre Tics gehen zu lassen und dann beruhigt wieder zurückzukehren. Besonders unangenehme Tics können verschleiert, in Willkürhandlungen eingebaut, verlangsamt und geordnet werden. Typischerweise ist eine erhebliche Spontanfluktuation in Art, Anzahl, Komplexität, Intensität, Häufigkeit und Lokalisation der Tics über einen Zeitraum von Wochen und Monaten zu beobachten. Tics lassen meist unter nicht angstbesetzter Ablenkung und Konzentration nach, sie interferieren nur bei sehr schwerer Ausprägung mit intendierten Bewegungen, sie kommen seltener, oft in der Stärke abgemildert und weniger komplex in allen Schlafstadien vor (Rothenberger et al., 2001) und nehmen unter emotionaler Erregung (freudig oder ärgerlich) zu. Vielfach entwickeln Betroffene im Laufe der Zeit ihr persönliches Tic-Muster.
Meist treten zu Beginn der Erkrankung einfache motorische Tics im Gesichtsbereich auf. Diese Lokalisation bleibt verglichen mit anderen Körperregionen auch bei älteren Patienten am häufigsten betroffen. Tics können spontan remittieren. Nach ticfreien Perioden von Wochen bis Monaten treten sie im weiteren Verlauf chronischer Tic-Störungen allerdings immer wieder auf und breiten sich typischerweise vom Kopf- Schulter-Bereich zu den Extremitäten und dem Körperstamm aus. Vokale Tics beginnen zumeist 2 bis 4 Jahre später als motorische Tics, etwa zwischen dem 8. und 15. Lebensjahr und stellen einen qualitativen Sprung dar (Leckman & Cohen, 1999).
Bei Erkrankungsbeginn (meist im frühen Kindesalter) besitzen die wenigsten Betroffenen zu diesem Zeitpunkt eine Möglichkeit der Kontrolle ihrer Tics. Zudem bemerken sie deren Auftreten häufig nicht. Doch im Verlauf von Monaten bis Jahren lernen viele Betroffene mehr und mehr, das Auftreten der Tics bewusst wahrzunehmen. Meist ab dem Alter von etwa 10 bis 11 Jahren berichten sie zusätzlich von sensomotorischen Phänomenen, welche den Tics unmittelbar vorausgehen.