Buch, Deutsch, 101 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 210 mm
Wie die Migration der italienischen Gastarbeiter die Bunderepublik veränderte
Buch, Deutsch, 101 Seiten, Format (B × H): 155 mm x 210 mm
ISBN: 978-3-96698-071-5
Verlag: Nova MD
Autoren/Hrsg.
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Im Deutschland der 50er und 60er Jahre, den Jahren des Wirtschaftswunders, der ersten Eisdielen und der ersten Gastarbeiter, war mein Vater etwas, das man in Italien eine weiße Fliege nennt: eine ganz seltene Spezies. Er war ein junger, wissenschaftlich qualifizierter Facharzt für Neurologie. Er sah die deutsche Gesellschaft und die Wirtschaftswunderdeutschen, nur wenige Jahre nach der Stunde Null, genauso wie die vielen anderen „Gastarbeiter“ auch. Er konnte nur das, was er sah, aufgrund seines Hintergrundes anders einordnen. Ihm fiel die besondere deutsche Frühstückskultur auf – die bis heute gepflegt wird – und auch die deutsche Feierabendkultur. Der Stacheldraht und die Bauweise der Baracken, in denen die italienischen Arbeitnehmer, nach Geschlechtern getrennt, von ihren Arbeitgebern untergebracht waren, erinnerte meinen Vater – zumindest optisch – an andere lagerartige Einrichtungen der jüngsten deutschen Vergangenheit. Und wenn er einen Aufseher (sprich: Pförtner) eines solchen „Heims“ fragte, wozu denn der Stacheldraht gut sei, und er die Antwort erhielt: „Wegen der Ordnung!“, lernte er den Stellenwert der Ordnung kennen. Mein Vater bewundert Deutschland – wie die meisten Italiener, die nach Deutschland gekommen sind. Schon in den 50er Jahren war die deutsche Gesellschaft wesentlich offener als die italienische. Als mein Vater beschloss, wieder als Neurologe und Psychiater zu arbeiten, bewarb er sich 1959 einfach in einer Klinik in Bad Salzuflen. Er dachte, Bad Salzuflen sei in der Nähe von Frankfurt, wo er die Städte Bad Homburg, Bad Soden und Bad Vilbel kannte, also hielt er Bad Salzuflen für ein weiteres Stadtviertel von Badstadt. Er wurde ohne jegliche Empfehlung, ohne „raccomandazione“, eingestellt – nicht denkbar in Italien, in dem jeder Gefallen einen Anspruch auf einen Gegengefallen begründet. Die wilden 50er, in denen man für deutsche Patienten einen Psychiater einstellte, der kaum Deutsch konnte und dessen erste Aufgabe darin bestand, die sich seit Tagen in ihrem Zimmer verschanzende Oberärztin einzuweisen, gingen zu Ende. Ich, der Sohn, Jahrgang 55, kann mich über meine Jugend, die 70er und 80er, noch fern von Aids-Ängsten und von der Vorarbeit der 68er Generation profitierend, nicht beschweren. Was mir aber alte Frankfurter – allen voran mein Onkel, der Hauptversorger der 68er Bewegung, von dem noch zu berichten sein wird – über die 50er erzählten, fand ich großartig. Alles fing von vorne an, alle waren da, keiner fragte, woher. 32 Tanzcafés allein auf der Kaiserstraße – einer Straße in Frankfurt mit nur 80 Hausnummern – und überall Party. Mein Vater lernte schnell, welche Grundsätze der Interaktion mit der deutschen Nachkriegsfrau galten. Mein Onkel hatte sie ihm prägnant zusammengefasst: Wenn ein deutsches Mädchen mit dir ausgeht, ins Kino geht, Tanzen geht, denk dir bloß nichts dabei – das ist hier, anders als in Italien, völlig normal. Nur wenn sie dich vor ihrer Haustür einlädt, einen Kaffee zu trinken, dann ist die Sache unter Dach und Fach. Egal, wie der Kaffee schmeckt. Ich denke, er hat nachts oft Kaffee trinken dürfen. Seine Voraussetzungen waren gut: Arzt, Italiener, großgewachsen und – vor allen Dingen – Witwer mit einem fünfjährigen Sohn. Spätestens das „süße Kind“ hat wohl viele Herzen geöffnet, sodass ich schon damals funktional eingesetzt werden konnte. Ich bin dann in Deutschland groß geworden – und hier geblieben. Mein Vater hat nach 15 Jahren Deutschland, wo er zuletzt in der medizinischen Forschung gearbeitet hat, den Heimweg angetreten. Ich wurde mit 19 Jahren also alleingelassen, habe Jura studiert und in Frankfurt am Main 1983 eine Kanzlei eröffnet, die zunächst Anlaufstelle für viele Italiener war. Und ich habe viele Geschichten gehört, die mich an die meines Vaters erinnerten. Im Jahr 2008 wurde das 50jährige Jubiläum des ersten Anwerbeabkommens zwischen Italien und Deutschlands gefeiert, sozusagen die Geburtsstunde des Gastarbeiters. Ich habe zu dieser Gelegenheit einen Vortrag gehalten, den zu veröffentlichen ich gebeten wurde, da er Dinge enthielte, die für viele Deutsche neu waren – so das „Käseglockensyndrom“, womit gemeint ist, dass in den Ausländervierteln der deutschen Städte Traditionen und Denkweisen überleben, die in Italien selbst längst ausgestorben sind. Als ich mit meinem Vater darüber sprach, packte er aus und erzählte mir Crime- und Sex-Geschichten, die meine in den Schatten stellten. Daraus entwickelte sich die Idee, gemeinsam ein Buch zu schreiben, eine Antwort auf die vielen Bücher und Filme, in denen die italienische Mentalität immer aus der Sicht eines Deutschen erklärt wird: Entweder heiratet dieser in eine italienische Familie ein und berichtet dann wohlwollend von ihren Eigenarten, oder er fühlt sich in einer italienischen Pizzeria aufgehoben und glaubt, Teil einer Familie zu sein. Eine ernst gemeinte und ernst zu nehmende Auseinandersetzung mit der italienischen Alltagskultur ist das natürlich nicht. Mein Vater und ich, wir haben lange über den Aufbau des Buches gerätselt – sollte es ein Roman werden, der über uns beide berichtet, der das ganze Material an Geschichten so miteinander verknüpft, dass der Leser alles mitnehmen kann und sich doch fragen kann: Wie geht’s weiter? Wird er wieder heiraten? Wird er die Stelle an der Uni annehmen? Was wird aus dem Jungen? Sollte der erste Teil dem Vater, der zweite Teil dem Sohn gewidmet sein? Sollte ein Erzähler die verschiedenen Geschichten miteinander verknüpfen? Ein Roman ist es nicht geworden – dafür sind die Geschichten, die mein Vater mir erzählt hat, alle authentisch. Es gibt sicher Archive, die vieles belegen könnten. Auch meine Geschichten sind echt. Um die Einordnung der Geschichten zu erleichtern, stellen wir nun unsere Biografien voran. So können die Geschichten zeitlich und vom Sachzusammenhang leichter eingeordnet werden.