E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Dürkop Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis und § 906 BGB
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-11-124003-9
Verlag: De Gruyter
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Eine Untersuchung der Rechtsprechung unter Beachtung des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
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B. Entstehungsgeschichte und Rechtsprechungsentwicklung des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs
I. Rechtslage bei Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs1
Unter Geltung des ALR und des gemeinen Rechts fehlte eine gesetzliche Normierung, die die Rechte und Pflichten zwischen Grundstückseigentümern regelte. Gleiches galt für sonstige Partikularrechte wie den Code Civil oder das österreichische ABGB.2 Gerichtliche Entscheidungen fanden ihre Grundlage in der „Natur der Sache“ oder allgemeinen Prinzipien; eine immissionsrechtliche Bestimmung war einzig im sächsischen BGB in § 3583 zu finden.4 Ursprünglich sah der Immissionsschutz Duldungspflichten deshalb nur gegenüber unwesentlichen Beeinträchtigungen oder ortsüblicher Grundstücksnutzung vor, weil der Eigentumsschutz des einen Nachbars gleichzeitig durch den Eigentumsschutz des anderen begrenzt wurde. Aus der Nutzungsbefugnis des Eigentümers resultierende Einwirkungen hatte der Nachbar zu dulden.5 Dem lag der Gedanke zugrunde, dass einige Immissionen auch bei ordnungsgemäßer Grundstücksnutzung wegen des „bewegten Luftmeeres“6, auf dessen Grund wir leben und welches die leichteren Abfallsprodukte unserer wirtschaftlichen und industriellen Thätigkeit an sich zieht, mit sich führt und anderwärts wieder ablegt,7 unvermeidbar sind.8 Dabei war umstritten, ob die Einwirkungen im Regelfall erlaubt oder verboten sein sollten.9 Diese Sichtweise hätte zu einer vollständigen Beschränkung des Individualeigentums zugunsten unternehmerischer Interessen geführt, um die Entwicklung von Gewerbebetrieben bestmöglich zu gewährleisten. Die zweite Kommission sprach sich zwar für ein Immissionsverbot aus und sah damit von einer vollständigen Privilegierung der Unternehmen ab, dennoch wurde die Duldung bestimmter Immissionen im Interesse der freien Entfaltung der Industrie und Wirtschaft als geboten angesehen.10 Diese „bilateral-privatrechtliche Sichtweise“11 wurde durch ein wertendes Verständnis ergänzt, sodass die raumordnende Funktion des Eigentums im Rahmen des Nachbarrechts nach und nach in den Vordergrund rückte.12 Daraus resultierte schließlich die Norm des § 906 BGB in alter Fassung.13 In dieser Form entsprach die Norm der Sache nach dem heutigen Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 Hs. 1 und Abs. 3. Durch das Anknüpfen an die Kriterien der (un-)wesentlichen Beeinträchtigung und der ortsüblichen Grundstücksbenutzung schuf der Gesetzgeber eine sehr flexible Norm für einen sensiblen Problembereich menschlichen Zusammenlebens.14 Die substanzsichernde Funktion des Eigentums trat erst mit fortschreitender Industrialisierung15 in den Vordergrund.16 Dies führte insbesondere durch das zunehmende Nebeneinander von Industrie und Landwirtschaft zu Rechtsstreitigkeiten, denn in der Zeit zwischen der Reichsgründung und dem ersten Weltkrieg erfuhr Deutschland einen Wandel von einem überwiegend agrarisch zu einem industriell und großstädtisch geprägten Land. Der Gesetzgeber reagierte darauf mit den gesetzlich statuierten Duldungspflichten. Er hielt es für geboten, dass das volkswirtschaftliche Interesse an der freien und ungehinderten Entfaltung neuer Schlüsselindustrien wie Maschinenbau, Großchemie und Elektroindustrie den Nachbarn zur Duldung der Immissionen verpflichtete und von der gesetzgeberischen Interessenlage vorrangig gegenüber dem Privateigentum war.17 Dieser Vorrang sollte jedoch dort enden, wo nach der Lage der Sache Immissionen unvermeidlich seien, wie etwa wegen der fehlenden Möglichkeit, geeignete Schutzmaßnahmen zu installieren.18 Zudem ging der Gesetzgeber davon aus, dass sich die Vor- und Nachteile von ortsüblichen Immissionen für die betroffenen Grundstückseigentümer von selbst ausgleichen, weshalb ein Ausgleich in Geld von § 906 BGB aF. zum damaligen Zeitpunkt gesetzlich nicht vorgesehen war.19 Der ursprünglich zu Diskussion stehende Passus, der die Ortsüblichkeit dadurch ergänzen sollte, dass nur solche Einwirkungen ortsüblich seien, die nicht durch angemessene Schutzmaßnahmen verhindert werden können, fand keinen Eingang in die endgültige Fassung des BGB, weil die Maßstäbe des öffentlichen Rechts als maßgeblich angesehen wurden und die Kodifikation des BGB nicht über die Voraussetzungen und Beschränkungen des öffentlichen Rechts hinausgehen sollten:20 Durch die Gesetzgebung kann nicht jedes lokale Bedürfnis festgestellt und berücksichtigt werden, und ebenso wenig kann die Gesetzgebung einer jeden Veränderung des Bedürfnisses rasch folgen. […] Auf diese Weise wird auch ohne Mitwirkung der lokalen Gesetzgebung der Eingriff in gelebte Verhältnisse vermieden; auch ist die Üblichkeit ein einigermaßen beweglicher Regulator, der sich mit den veränderten Verhältnissen selbst verändert.21 Ein Teil der Literatur sieht diese Grundannahme durch die stürmische Entwicklung der Industrie und des Verkehrs als widerlegt und spricht von einer „empfindlichen Rechtsschutzlücke“ der damaligen Zeit.22 Duldungspflichten sollten nur für unvermeidliche Immissionen gelten.23 Für alle darüber hinausgehenden Immissionen sollte der Eigentümer geeignete Schutzmaßnahmen treffen.24 In Folge dessen konnten einige Fallkonstellationen nicht auf befriedigende Art und Weise gelöst werden, wodurch im Ergebnis eine richterliche Rechtsfortbildung herausgefordert wurde.25 Des Weiteren war auch der Gedanke des Umweltschutzes noch unterentwickelt.26 Ein Ausgleichsanspruch war dennoch nicht vollständig ausgeschlossen. § 26 GewO aF.27 sah weitergehende Duldungspflichten vor und schloss gegenüber privilegierten Betrieben, die einem Genehmigungsverfahren unterlagen, den Anspruch auf Betriebsschließung vollständig aus. Dem beeinträchtigten Nachbar würde dann ein Anspruch, gerichtet auf die Errichtung von Einrichtungen, die die Einwirkungen ausschließen oder – soweit solche Schutzvorkehrungen die Beeinträchtigungen nicht verhindern konnten – auf Schadensersatz gewährt. Dieser Schadensersatzanspruch entstand jedoch nach höchstrichterlicher Rechtsprechung28 nur bei Vorliegen einer gesteigerten Duldungspflicht nach § 26 GewO, sodass jede Beeinträchtigung, die nach § 906 BGB aF. zu dulden war, entschädigungslos blieb.29 Mit anderen Worten war Voraussetzung des § 26 GewO aF., dass die in § 906 BGB aF. für die Duldungspflicht30 gesetzten Grenzen überschritten wurden. Dies hatte zunächst zur Folge, dass wesentliche, aber ortsübliche Emissionen nicht interessensgerecht ausgeglichen wurden, sondern stets zu Lasten des Benachteiligten gingen. Eine entsprechende Duldungspflicht sah auch § 58 ABG31 (Allgemeines Preußisches Berggesetz) vor; die § 26 GewO aF. entsprechende und verschuldensunabhängige Schadensersatzpflicht entsprang § 148 ABG32. Die Rechtslage zu Beginn des 20. Jahrhunderts war demnach die Folgende: Soweit keine Duldungspflicht bestand, konnten grundsätzlich jegliche Einwirkungen mit Hilfe der negatorischen Abwehransprüche abgewehrt werden. Entschädigungslos mussten die Grundstückseigentümer unwesentliche und ortsübliche Einwirkungen wegen § 906 BGB verschmerzen, während Schadensersatzansprüche nur verschuldensabhängig nach §§ 823?ff. BGB gewährt wurden. Daneben bestanden besondere Entschädigungsmöglichkeiten für auferlegte Duldungspflichten aus dem ABG und der GewO, welche losgelöst von sonstigen Ansprüchen waren.33 II. Rechtsprechungsentwicklung zu Zeiten des Reichsgerichts
Das Reichsgericht statuierte auch gegenüber privatwirtschaftlichen Betrieben, die nicht gem. § 26 GewO aF. genehmigungsbedürftig waren Duldungspflichten und schränkte dadurch den Eigentumsschutz ein.34 Es ging dabei meist um Betriebe, die von gemeinwichtiger Bedeutung waren: So genossen zunächst die staatlich konzessionierten Eisenbahnen das Privileg, dass deren Immissionen – namentlich der entstehende Rauch, Ruß sowie der Funkenflug – für Dritte selbst dann zu dulden waren, wenn das nach § 906 aF. zulässige Maß überschritten worden war.35 Des Weiteren kam die Privilegierung des Reichsgerichts weiteren Betrieben zugute, deren Existenz im öffentlichen Interesse lag oder dem Allgemeinwohl diente.36 Dabei ging es um Immissionen wie das Herüberfliegen von Kugeln von einem Militärstand, die Absenkung eines Hausgrundstücks infolge des Baus eines Eisenbahntunnels oder Grundwasserabsenkungen, die durch den Bau der Reichsbahn sowie der Reichsbank verursacht wurden.37 Im Urteil des Reichsgerichts zum Reichspostbetrieb wurde ein Abwehranspruch des durch die pausenlose Lärmeinwirkung der aufgestellten Maschinen auf dem Nachbargrundstück beeinträchtigter Nachbarn als...