E-Book, Deutsch, 614 Seiten
Ebner / Schreiber / Frevel Einleitung in das Neue Testament
3. überarbeitete Auflage 2019
ISBN: 978-3-17-036110-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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3.2.2 Eine Vier-Evangeliensammlung oder Trend zu Evangelienharmonien? Der älteste uns erhaltene Evangelienkodex, in dem alle vier Evangelien (samt Apg) enthalten sind, der Chester Beatty Papyrus (P45), wird ins 3. Jh. datiert. Wenn P64, P67 und P4 zu einem einzigen Kodex gehören, hätten wir sogar ein Zeugnis für etwa 200 n. Chr. (T. C. Skeat, Manuscript). Um zeitlich weiter nach vorne zu stoßen, wird gewöhnlich auf Justin (Mitte des 2. Jh.) verwiesen, der von »Evangelien« (im Plural) spricht. Er reiht sie in die Memoirenliteratur ein und nennt als deren Verfasser »die Apostel Jesu und deren Nachfolger« (Dial 103,8). Nachweislich kennt er die synoptischen Evangelien, wahrscheinlich auch das JohEv (vgl. Joh 3,3–5 in 1 Apol 61,4), das er allerdings kaum benutzt. Auch der sekundäre Markusschluss (Mk 16,9–20; ? B.V.1.2) setzt die Kenntnis von (mindestens) vier Evangelien voraus (J. A. Kelhoffer, Miracle 121f.227f.): Hier werden die Ostererscheinung vor Maria von Magdala (JohEv) mit der Erscheinung vor den Emmausjüngern (LkEv) und die Aussendung der Jünger in alle Welt (MtEv) mit ihrer Mission in der ganzen Welt (Apg) kombiniert. Nachdem Mk 16,20a von Justin bereits zitiert wird (1 Apol 45,5), muss der Text spätestens um 150 n. Chr. vorliegen (J. A. Kelhoffer, Book 10). Mit der Suche nach möglichst frühen Belegen für die vier (später) kanonischen Evangelien ist eine zentrale Streitfrage der Kanonforschung verbunden: Haben unabhängig und vor Markion unsere vier Evangelien bereits eine kanonische Stellung (T. K. Heckel, Evangelium 284, im Blick auf den sekundären Markusschluss: »abgrenzende Komponente gegen weitere Schriften …, die von Erscheinungen berichten«; G. N. Stanton, Gospel 329–332, speziell im Blick auf Justin) oder hat das eine Evangelium des Markion erst zur Aufstellung eines Gegen-Vier-Evangelienkanons provoziert (H. von Campenhausen)? U. Schmid (Evangelium) versucht einen Kompromissvorschlag und spricht (mit Blick auf die erwähnte Handschriftenkombination) anstelle von einem Vier-Evangelienkanon von einer Vier-Evangeliensammlung bereits vor Markion, die allerdings noch keine kanonische Geltung beanspruche. M. Klinghardt (Evangelium) nimmt dagegen eine Radikalisierung der Position von Campenhausens vor: Markion sei nicht nur der Erste gewesen, der einen Kanon vorgelegt habe, sondern sein »Evangelium« sei gleichzeitig auch dasjenige gewesen, das den später kanonisch gewordenen Evangelien als Vorlage gedient habe. Nicht Markion habe das LkEv bereinigt, sondern das LkEv sei eine kanonische Korrektur des ursprünglichen Markion-Evangeliums (? B.I.5.5). Die Kirchenväternarration bei Tertullian (Marc 4,4,4) sei von Harnack interessegeleitet und gegen deren eigentliche Intention verstanden worden: »Die Schlussfolgerung, dass das marcionitische Evangelium das Resultat einer entsprechenden Interpolationskritik und Ausdruck der Wiederherstellung des ursprünglichen Evangeliums sei, zieht Tertullian nicht: Das haben erst Harnack und in seiner Folge die moderne Markionforschung getan« (I 137f.; vgl. die philologisch fundierte Kritik von O. Zwierlein 77-83 sowie die Disputation: M. Klinghardt/J. D. BeDuhn/J. M. Lieu). Genau besehen jedoch belegen weder der sekundäre Markusschluss noch Justin einen Vier-Evangelienkanon oder eine Vier-Evangeliensammlung, sondern vielmehr die Tendenz zur Evangelienharmonie. Die Evangelienzitate Justins tragen harmonisierenden Charakter und gehen vermutlich auf die gleiche Evangelienharmonie zurück, die dann auch Tatian für sein Diatessaron verwendet hat – mit dem einen Unterschied, dass bei Justin bis auf eine Ausnahme das JohEv nicht berücksichtigt wird, während es bei Tatian das Rückgrat der Erzählung bildet. Außerdem sucht man bei Justin einen klaren Trennstrich zu außerkanonischen Evangelienstoffen vergeblich. Auch bei einer so prominenten Erzählung wie der Taufgeschichte kann er problemlos Elemente aufgreifen, die aus den kanonischen Evangelien nicht bekannt sind (»großes Licht«; ? 2.2.2; W. L. Petersen, Diatessaron 1994, 14–16.27–29; H. Koester 360–402). Sozusagen auf der Produzentenseite belegen die in dieser Zeit bereits vorliegenden Evangelien, die nicht kanonisch geworden sind, das Verfahren, wie es sich beim Anwender Justin im Spiegel zeigt: Sie inkorporieren, kombinieren und variieren Stoffe unserer Evangelien, ohne sich jedoch auf die (später) kanonischen Traditionen zu beschränken (vgl. Petrusevangelium, Egertonevangelium, Epistula Apostolorum). Es handelt sich also um Weiterschreibungen vorliegender, evtl. auch mündlich überlieferter Evangelienstoffe, die in ein je neues Erzählgerüst eingespannt werden. Sicher ist eine gewisse Bevorzugung der vier kanonisch gewordenen Evangelien zu erkennen. Aber: Die synoptischen Evangelien und das JohEv hatten im Osten bzw. im Westen eine unterschiedlich hohe Akzeptanz, so dass eine Vier-Evangeliensammlung schon auf einen Kompromiss beider Seiten schließen lässt (? 3.4). Von ihrer eigenen Intention her wollen sowohl das LkEv als auch das MtEv das MkEv ersetzen. Eine parallele Geltung ist durchaus nicht beabsichtigt. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass sich neben der vereinheitlichenden und die Traditionen vermischenden Fortschreibung für die Evangelien eine zusätzliche Variation der Weiterentwicklung im Wachstumsprozess beobachten lässt, die den Intentionen der Vier-Evangeliensammlung zwar genauso zuwider läuft, aber bestens zu den Charakteristika der Sammlungsphase (vor dem Kanonisierungsprozess) passt. 3.2.3 Cluster Mehrfach lässt sich in der christlichen Literatur des 1. und 2. Jh. die Tendenz beobachten, ein vorliegendes Evangelium durch eine weitere Schrift zu ergänzen. Das geschah unabhängig voneinander an mehreren Stellen (G. Theissen 297–300). Das bekannteste Cluster ist das lukanische Doppelwerk. Das LkEv wird durch die Apg fortgeführt. Sie erzählt, was im Evangelium unerfüllt bleibt: die verheißene Geistsendung (Lk 3,16). Nachdem es neben dem »Pfingsten der Jünger« (Apg 2) auch ein »Pfingsten der Heiden« (Apg 10) gibt, wird dadurch gleichzeitig die im Urchristentum umstrittene Heidenmission in Kontinuität mit der Jesusintention gestellt. Das Corpus Johanneum besteht aus dem Evangelium und drei Briefen. Während 2/3 Joh einen Blick in die Geschichte der Gemeinde werfen lassen, ist 1 Joh inhaltlich unmittelbar mit dem Evangelium verknüpft: als Sicherstellung der orthodoxen Lesart des Evangeliums. G. Theissen möchte schließlich auch für das MtEv eine Clusterbildung erkennen: Die Didache bezieht sich mehrmals auf »das Evangelium« (8,2; 11,3; 15,3.4), womit nur das MtEv gemeint sein kann (T. K. Heckel, Evangelium 276f.). Inhaltlich führt die Didache die Tauflehre aus, formuliert also Anweisungen für die praktische Durchführung des letzten Auftrags Jesu auf dem Berg, mit dem das Evangelium schließt (Mt 28,16–20; vgl. G. Garleff). Dass die Ergänzungsschrift des MtEv dann doch nicht in den Kanon aufgenommen wurde, ist nach Theißen dadurch begründet, dass die judenchristlichen Gruppen Syriens, die hinter dem MtEv und der Didache stehen, nicht stark genug waren, um ihre Ergänzungsschrift durchzusetzen, und außerdem außerhalb des Einzugsgebietes lagen, in dem der Kanon verhandelt worden ist: Kleinasien und Rom. 3.3 Die Kanonisierung: Neustrukturierung der Cluster Schaut man auf die Wachstumstendenzen der urchristlichen Schriften bis Mitte des 2. Jh., dann muss man sagen: Im Kanon wird Vorhandenes aufgegriffen (Paulusbriefsammlung) und zugleich ergänzt (Katholische Briefe); es fällt eine Entscheidung gegen den Trend zur Evangelienharmonie und für die Cluster. Aber sie werden neu strukturiert: (1) Bereits bestehende Cluster werden auseinandergerissen. Durch die Trennung der johanneischen Briefe vom JohEv entsteht der Grundbestand der Katholischen Briefe. Die Apg wird nicht als Fortführung des LkEv, sondern als narrative Einleitung zu den apostolischen Briefen eingesetzt. (2) Durch die Kombination von Apg und apostolischen Briefen wird künstlich ein neues Cluster geschaffen, das allerdings einer einzigen Grundschrift gleich zwei Anhänge hinzufügt: die Katholischen Briefe und die Paulusbriefe. Als Sammlungseinheit bleibt die Kombination von Apg und Katholischen Briefen in den Handschriften bis in die byzantinische Zeit erhalten (Praxapostolos). (3) Die in der Wachstumsperiode ntl Schriften entstandene Form des Clusters greift der Kanon als Strukturform auf – im Kleinen (Apg in Kombination mit apostolischen Briefen) wie im Großen: Insgesamt präsentiert der Kanon das Cluster »Evangelium mit Brief«, allerdings stark erweitert und ergänzt. (4) Dabei lassen sich die Erweiterungen und Ergänzungen unmittelbar als Reaktion auf Markion verstehen – und gleichzeitig als Kurskorrektur gegenüber den Tendenzen zur Evangelienharmonie: Diese in der Sammlungsphase prominente Form wird nicht aufgegriffen. Anstelle eines einzigen Evangeliums stellt der Kanon vier Evangelien an den Anfang, die z.?T. aus ursprünglichen Clustereinheiten separiert werden mussten. Der Kanon bietet nicht nur eine einzige Briefsammlung wie Markion (nämlich die des Paulus), sondern zwei Briefsammlungen, wobei die Apg als narrativer »Kopftext« der Briefe den chronologischen – und gemäß...