E-Book, Deutsch, Band 4, 228 Seiten
Reihe: Edition Theophanie
Ehmer Die esoterische Botschaft der Märchen
3. Auflage 2023
ISBN: 978-3-384-06970-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 4, 228 Seiten
Reihe: Edition Theophanie
ISBN: 978-3-384-06970-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In dem vorliegenden Buch wird versucht, die geheime esoterische Botschaft der Märchen aufzuzeigen - vor allem in den großen Kunstmärchen des 20. Jahrhunderts, von J. R. R. Tolkien bis Michael Ende. Der Leser wird eingeladen, dem Autor auf verschlungenen Pfaden durch den labyrinthischen Irrgarten mythischer Märchenwelten zu folgen, eine Entdeckungsreise durch Raum und Zeit, durch Zauberwelten und Parallel-Universen, voller Gefahren und Überraschungen. Auf diesem Weg durchs Labyrinth wird sich das Urwissen der Esoterik als Ariadnefaden erweisen.
Dr. Manfred Ehmer hat sich als wissenschaftlicher Sachbuchautor darum bemüht, die großen kulturgeschichtlichen Zusammenhänge aufzuzeigen und die archaischen Weisheitslehren für unsere Zeit neu zu entdecken. Mit Werken wie »Die Weisheit des Westens«, »Gaia« und »Heilige Bäume« hat sich der Autor als gründlicher Kenner der westlichen Mysterientradition erwiesen, mit »Das Corpus Hermeticum« einen Grundtext der spirituellen Philosophie vorgelegt. Die von ihm übersetzten »Chaldäischen Orakel« sind als ein wichtiges Dokument abendländischer Magie zu werten. Daneben steht eigene Dichtung, in dem Band »Sphärenharfe«, sowie lyrische Nachdichtungen etwa des berühmten »Hyperion« von John Keats oder des vedischen »Hymnus an die Mutter Erde«.
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Einhörner, Drachen
und Fabelwesen Das Einhorn Eines der populärsten Märchenwesen, das uns zugleich eine höhere Welt des Geistes erahnen lässt, ist jenes mythische Fabeltier, das wir seit der ausgehenden Antike unter dem Namen „Einhorn“ kennen. Überall begegnet uns das scheue Einhorn, auf Gemälden und Wandteppichen, auf mittelalterlichen Paradies-Darstellungen, in Märchen, Filmen und Gedichten, bis in die Gegenwart hinein. Es begegnet uns, in wandelnden Gestalten, aber doch immer mit denselben Charakteristika, im Alten China, in Indien, Persien, in der Bibel, vor allem im Buch Hiob und den Psalmen Davids, in der berühmten Pariser Gobelin-Serie Die Dame und das Einhorn (La Dame à la Licorne), ausgestellt im Cluny-Museum, auf Fresken in der Engelsburg in Rom, auf Bildern von Hans Holbein und Lucas Cranach, auf Wappen und Apothekenschildern. Dichter haben es besungen, vor allem Rainer Maria Rilke, der es wie ein Wahrbild vor unserem Auge auferstehen lässt: Der Beine elfenbeinernes Gestell bewegte sich in leichten Gleichgewichten, ein weißer Glanz glitt selig durch das Fell, und auf der Tierstirn, auf der stillen, lichten, stand, wie ein Turm im Mond, das Horn so hell, und jeder Schritt geschah, es aufzurichten. Das Maul mit seinem rosa-grauen Flaum war leicht gerafft, sodass ein wenig Weiß – weißer als alles – von den Zähnen glänzte; die Nüstern nahmen auf und lechzten leis. Doch seine Blicke, die kein Ding begrenzte, warfen sich Bilder in den Raum und schlossen einen blauen Sagenkreis.11 Selbst noch im 20. Jahrhundert feiert das Einhorn seine Auferstehung und Wiederkunft. Der Märchenroman von Peter S. Beagle DAS LETZTE EINHORN (THE LAST UNICORN, 1968) wurde zu einem Kultbuch. Es erzählt, wie der Titel schon sagt, die Geschichte von dem „letzten Einhorn“ in einer entzauberten Welt. In einer poetischen Sprache, die Urmärchenhaftes wieder heraufdämmern lässt, wird es folgendermaßen beschrieben: „Es hatte keine Ähnlichkeit mit einem gehörnten Pferd, wie Einhörner gewöhnlich dargestellt werden; es war kleiner und hatte gespaltete Hufe und besaß jene ungezähmte, uralte Anmut, die sich bei Rehen nur in schüchtern-scheuer Nachahmung findet und bei Ziegen in tanzendem Possenspiel. Sein Hals war lang und schlank, wodurch sein Kopf kleiner aussah, als er in Wirklichkeit war, und die Mähne, die fast bis zur Mitte seines Rückens floss, war so weich wie Löwenzahnflaum und so fein wie Federwolken. Das Einhorn hatte spitze Ohren und dünne Beine und an den Fesseln Gefieder aus weißem Haar. Das lange Horn über seinen Augen leuchtete selbst in tiefster Mitternacht muschelfarben und milchig. Es hatte Drachen mit diesem Horn getötet und einen König geheilt, dessen vergiftete Wunde sich nicht schließen wollte, und für Bärenjunge reife Kastanien heruntergeschüttelt.“12 Das Einhorn steht als ein Sinnbild für einsames Umherschweifen. Aber diese Einsamkeit bedeutet nicht etwa Isolierung, Verlassenheit, sondern viel eher Freiheit, Unabhängigkeit, Souveränität, die alles überschauende Einsamkeit des Adlers, der sich hoch in die Lüfte schwingt, die Einsamkeit wahrer Verbundenheit mit der Natur. Eine solche, zutiefst schöpferische Einsamkeit hat in Indien auch ein so großer Erleuchteter wie Buddha für sich in Anspruch genommen, der sich in einer von dem schwedischen Tierschriftsteller Bengt Berg übersetzten „Buddha-Hymne“ selbst mit dem Einhorn vergleicht, wie es in der immer wiederkehren Schlusszeile deutlich ausgedrückt wird: Einem Löwen gleich, ohne Furcht vor Geschrei, Einem Winde gleich, nie in Netzen gefangen, Einer Lotosblume gleich, nie vom Wasser besprengt, Lass' mich einsam wie ein Einhorn wandern.13 Das alttestamentliche BUCH HIOB nimmt ebenfalls auf die Freiheit und Unbezähmbarkeit des Einhorns Bezug: „Meinst du, das Einhorn werde dir dienen und bleiben an deiner Krippe? Kannst du ihm dein Joch aufknüpfen, die Furchen zumachen, dass es hinter dir brache in Gründen? Magst du dich darauf verlassen, dass es so stark ist? Und wirst du es dir lassen arbeiten? Magst du ihm trauen, dass es deinen Samen dir wiederbringe und in deine Scheune sammle?“ (Hiob 39/9). Es sind alles rhetorische Fragen: das Einhorn ist frei, wild, unzähmbar, darin liegt der Sinn der hier zitierten Sätze. Talmudische Texte berichten von wilden Kämpfen des Einhorns mit dem Löwen, und so wurde das Einhorn im Judentum zu einem Symbol für göttliche Macht und unbesiegbare Kraft, die Gott besonders seinem „auserwählten Volk“ zeigte: „Gott hat sie aus Ägypten geführt, seine Freudigkeit ist wie eines Einhorns.“ (4. Mose 23/22). „Seine Herrlichkeit ist wie eines erstgeborenen Stiers, und seine Hörner sind wie Einhornhörner; mit denselben wird er stoßen die Völker zu Haufen, bis an des Landes Enden.“ (5. Mose 33/17) Und interessanterweise wird in der jüdisch-christlichen und mittelalterlichen Tradition die Stärke des Einhorns, dieses wunderbaren Zauberwesens, zunehmend als etwas Unheimliches, Bedrohliches empfunden, sodass zuletzt ein Martin Luther aufstöhnen konnte: „Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern!“ (Psalm 22/20-22) Aber trotz seiner unbändigen, zuweilen furchteinflößenden Kraft bleibt das Einhorn doch ein überirdisches himmlisches Wesen, Wohngenosse und Gefährte von Adam und Eva im Paradies, wie die Legende zu berichten weiß: „Gott forderte Adam auf, die Tiere zu benennen. (….) Das erste Tier, dem er einen Namen gab, war das Einhorn. Als Gott den Namen hörte, kam er hernieder und berührte die Spitze des einzigen Hornes, das diesem Tier auf der Stirne wuchs. Von da an war das Einhorn erhöht über die anderen Tiere. Adam und Eva konnten auf seinem Rücken reiten. Alle Tiere und das Menschenpaar lebten in Frieden miteinander, bis zu dem Tage, als Adam und Eva von der verbotenen Frucht aßen. Sie probierten die Früchte der Erkenntnis, fingen an, sich zu schämen und mit dem Laub der Blätter zu bekleiden. Gott war erzürnt über ihre Tat und vertrieb sie aus dem Garten Eden. Zwei Cherubim mit flammenden Schwertern bewachten fortan den Eingang. Gott gab dem Einhorn die Wahl, im Paradiese zu bleiben oder Adam und Eva zu begleiten. In die Welt hinaus zu begleiten, dorthin, wo Pest und Kriege herrschen, die Kinder unter Schmerzen geboren werden und alles Leben sterblich ist. Das Einhorn folgte Adam und Eva. Für sein Mitleid wurde das Einhorn mit besonderen Gaben gesegnet. Wählte es doch aus Liebe den schweren Weg der Menschen und blieb nicht an jenem Ort der Schönheit und Freude.“14 Esoterisch gesehen symbolisiert das Einhorn unser höheres Selbst, die Monade, denn auch dieses Geistselbst entstammt dem „Paradies“, der göttlichen Lichtwelt. Nur aus Mitleid hat es sich zum Herabstieg in die niedere Materiewelt entschlossen. Dies war ein echtes Opfer, eine Tat der Selbstaufopferung, und daher wurde schon im Mittelalter das Einhorn mit Christus gleichgesetzt. Auch Christus ging freiwillig in die Materie hinein. Das Einhorn steht esoterisch als ein Symbol für den inneren göttlichen Funken, für den Wesensanteil des Menschen, der sich trotz irdischer Verkörperung himmlisch, überirdisch, spirituell rein erhalten hat und sich nicht durch Materielles korrumpieren lässt. Der Innere Funke, die Monade, das höhere Selbst – wie immer wir es nennen wollen – folgt dem Menschen stets als unsichtbarer Lebensbegleiter auf dem Weg durch die irdische Materie, geradeso wie in der Legende das Einhorn einst das Paradies verließ, um Adam und Eva zu folgen. In Peter S. Beagles Märchenroman steht der Satz: „Einhörner sind unsterblich“15. In seiner Unschuld weiß das Einhorn nichts von der Tragik des Sterbenmüssens, von Schuld und Verstrickung; es erfreut sich des ewigen Lebens und einer paradiesischen Zeitlosigkeit, wie sie dem ursprünglichen Schöpfungsplan entspricht. Obgleich es Adam und Eva in die Welt folgte, blieb das Einhorn immer ein Paradieswesen; mit ihm kam ein Stück Himmel auf die Erde herab, und so kündet es wie ein Lichtbote von einer höheren Welt. Daher auch die sprichwörtliche Scheue des Einhorns: es hat sich den Gesetzen dieser Welt nie angepasst, und es entzieht sich dem Zugriff des Irdischen, Welthaften, Materiellen, weil es einer anderen Welt entstammt. Nur mit den „Augen des Geistes“ kann das Einhorn geschaut werden; es ist Gegenstand einer Vision, aber kein wissenschaftliches Studienobjekt. Scheu und zurückgezogen lebt es in seinem hortus conclusus, dem „geschlossenen Garten“, einem Zaubergarten, in dem nicht mehr die Gesetze der Welt, sondern spirituelle Gesetze gelten. Kein Zweifel, dieser...