Enskat | Aufklärung – Wissenschaft – Religion | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 118 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

Enskat Aufklärung – Wissenschaft – Religion

Zur Genese und Struktur unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes
unveränderte eBook-Ausgabe der 1. Auflage von 2022
ISBN: 978-3-7873-4155-9
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Zur Genese und Struktur unseres neuzeitlichen Spannungsfeldes

E-Book, Deutsch, 118 Seiten

Reihe: Blaue Reihe

ISBN: 978-3-7873-4155-9
Verlag: Felix Meiner
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Wie unsere Gegenwart in einer vielleicht noch nicht abgeschlossenen Zuspitzung zeigt, ist die Struktur des neuzeitlichen Spannungsfeldes zwischen Aufklärung, Wissenschaft und Religion von einer Bewährungsprobe geprägt, die an eine Zerreißprobe grenzt. Rainer Enskat geht in seinem Essay den unterschiedlichen, teils unvereinbaren Interventionen nach, die sich seit dem 17. Jahrhundert diesem Problemfeld gewidmet haben.
Die Frage, ob Aufklärung durch Wissenschaft möglich oder trotz Wissenschaft nötig ist, steht ebenso wie die Frage, ob Religion trotz Aufklärung und Wissenschaft nötig und möglich ist, seit dem 18. Jahrhundert mit bis dahin nicht gekannter Prägnanz und Dringlichkeit auf der Tagesordnung. Mit der großen Ausnahme von Platon wird die Problematik erst von Philosophen des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts wirklich durchschaut. Es sind so verschiedenartige Denker wie Francis Bacon, Jean-Jacques Rousseau und Kant, die in ganz unterschiedlichen realgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Situationen das diagnostische Gespür für die Struktur dieses Spannungsfeldes übereinstimmend zur Sprache gebracht haben. In 21 kurzen Abschnitten zeigt Rainer Enskat, dass die Antworten, die seither auf diese Problematik erprobt worden sind, durch ihre faktischen Unvereinbarkeiten den Charakter der Zerreißprobe nicht deutlicher werden lassen könnten, die das neuzeitliche Spannungsfeld im Unterschied zu früheren Epochen mittlerweile im Weltmaßstab durchmacht.

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9. Ein religionsphilosophischer Lichtblick aus Athen (Platon)
In der von Platon dialogisch inszenierten Argumentation zugunsten der von ihm intendierten Aufklärung über die Religion ist einer der wichtigsten Wendepunkte des Euthyphron auf diesem dialogischen Weg am Beginn des letzten Viertels des Dialogs erreicht. Platon läßt Sokrates den von seinem Gesprächspartner Euthyphron gemachten Vorschlag akzeptieren, daß fromm bzw. religiös zu sein eine spezielle Form sei, gerecht zu sein. Sie bestehe darin, den Göttern gerecht zu werden, indem man sich um die Götter oder für die Götter sorgt.1 Sokrates’ Interesse an dieser Auffassung ist so stark, daß er es sich anschließend einundvierzig Fragen an Euthyphron kosten läßt, bis er die Hoffnung aufgibt, eine angemessene Antwort auf seine zentrale Frage zu erhalten. Sie lautet: »Im Tun welches Werks besteht der Dienst, durch den wir [Menschen] den Göttern helfen?«.2 Diese Frage ist im Kontext von Euthyphrons Antworten deswegen konsequent, weil dieser auf eine unmittelbar vorangegangene Frage so geantwortet hat: Sorge für oder um etwas ist stets Sorge für oder um etwas Gutes und Nützliches zugunsten des umsorgten Wesens3. Dies Zugeständnis Euthyphrons macht Sokrates offensichtlich durch die Frage nach dem Typus des Tuns des Werks der frommen bzw. religiösen Einstellung fruchtbar. Damit gibt er zu verstehen, daß der fromme bzw. religiöse Dienst der Menschen an den Göttern nicht einfach in irgend etwas für die Götter Gutem oder Nützlichem besteht. Es besteht vielmehr darin, ein Werk zu tun, also etwas durch konkrete Handlungsweisen Hervorgebrachtes zu erzielen, dessen die Götter ohne eine solche praktisch-aktive Sorge der Menschen gerade selbst nicht fähig sind. Zur Erläuterung des praktisch-werktätigen Charakters dieser Form des Gottesdienstes einigen sich die beiden Gesprächspartner auf Analogien wie die folgenden: »Welchem Werk gilt ein Dienst bei den Ärzten? Doch wohl der Förderung der Gesundheit?«,4 »und welchem Werk der Dienst bei Schiffsbauern? Natürlich der Herstellung von Schiffen«,5 »und der [Dienst] bei den Baumeistern? Dem von Häusern«.6 Analog also wie die Menschen gute und nützliche Werke der Ärzte, der Schiffsbauer und der Baumeister brauchen, brauchen die Götter gute und nützliche Werke der Menschen. Trotz des an sich fruchtbaren argumentativen Spannungsfeldes, das durch diese Fragen und Antworten eröffnet ist, inszeniert Platon die Enttäuschung des Sokrates über den weiteren Verlauf des Gesprächs. Denn einerseits führen dessen einundvierzig Fragen an Euthyphron materiell nichts anderes herbei als dessen konventionelle Antwort nicht nur der griechischen Religion seiner Tage: »Fromm zu sein, bedeutet zu wissen, wie man opfert und betet«.7 Doch der wahre Grund von Sokrates’ Enttäuschung über seinen Gesprächspartner ist anspruchsvoller: »Wahrhaftig, Euthyphron, Du hättest, wenn Du nur gewollt hättest, den Hauptpunkt, nach dem ich Dich gefragt habe, viel kürzer behandeln können. Denn als Du diesem Hauptpunkt gerade eben so nahe wie möglich warst, bist Du abgewichen. Wenn Du diese Frage beantwortet hättest, hättest Du mich über das Fromme genügend belehrt«.8 Doch welches ist der von Sokrates apostrophierte Hauptpunkt, dem Euthyphron angeblich so nahe war, als er abgewichen ist? Platon läßt ihn durch Sokrates nicht direkt bestimmen. Hermann Weidemann hat im Rahmen einer aufschlußreichen Interpretation und Analyse einer argumentativen Passage in Platons Dialog Lysis auf die nicht zu geringe Wahrscheinlichkeit aufmerksam gemacht, daß Platon gelegentlich planmäßig elementare begriffliche bzw. argumentative Fehler in Dialoge integriert hat, um die Hellhörigkeit und das Problembewußtsein des Lesers zu wecken.9 In seinem Religions-Dialog kommt Platon seinem Leser in diesem Sinne sogar einen vergleichsweise großen Schritt entgegen, indem er ihn nahezu direkt animiert, selbst nach dem apostrophierten Hauptpunkt zu suchen, also die Begriffsstutzigkeit Euthyphrons auf eigene Faust zu überwinden. Es gehört jedoch zu den methodischen Pointen des Dialogs, daß Euthyphron sich den von Sokrates erfragten Hauptpunkt lediglich aus dem Anfangsteil des Dialogs hätte in Erinnerung zu rufen brauchen. Denn in diesem Teil war nicht nur einfach eine Einigung über diesen Hauptpunkt erzielt worden. Bei diesem Hauptpunkt handelt es sich darüber hinaus um die wohl prägnanteste Formulierung von Platons Ideenkonzeption. Dabei kann der Reifegrad dieser Formulierung in diesem frühen Dialog gar nicht besser beleuchtet werden als durch den Umstand, daß Platon ihre Kernelemente in seinem einige Jahrzehnte später verfaßten Hauptwerk, der Politeia, wörtlich wiederholt. So hat Platon es seinen Lesern überlassen, sich an den gesuchten Hauptpunkt aus dem Anfang des Dialogs zu erinnern und sich mit dieser indirekten Hilfe selbst über die Frage zu belehren, was es bedeutet, fromm – also religiös – zu sein. Dieser Hauptpunkt wird durch die konzeptionellen und die argumentativen Bindungskräfte mehrerer Elementarthesen zusammengehalten. Zunächst einmal wird die Eigenschaft, fromm zu sein, durchweg als eine Eigenschaft von mehr oder weniger alltäglichen praktisch-leibhaftigen Handlungsweisen der Menschen aufgefaßt und nicht primär als persönlicher Habitus oder als persönliche Einstellung. Ausgangspunkt des Dialogs ist daher die Frage, ob es fromm ist oder nicht, wenn Euthyphron seinen eigenen Vater wegen der Erschlagung eines Sklaven, der selbst einen Sklaven seines Vaters erschlagen hat, bei Gericht verklagt. Sokrates gewinnt alsbald Euthyphrons Zustimmung zu dem Gedanken, daß diese Frage ein Beurteilungsproblem anschneidet, das man nicht dadurch ins Reine bringen kann, daß man sich an irgendwelchen konkreten Einzelbeispielen orientiert und schon gar nicht am Leitfaden von Handlungsmustern aus den herkömmlichen Darstellungen der Götterwelt. Die Götterwelt ist, wie diese Darstellungen zeigen, so heillos zerklüftet, daß kein einzelnes Beispiel einer ihrer Handlungsweisen einen Hinweis auf ein verläßliches Muster für eine konsistente und kohärente Beurteilung frommen Handelns unter Menschen bieten kann. Der erste wichtige Wendepunkt in einer Folge von Wendepunkten (vgl. 5c 4–d5, 6d 9–e8), die über die konventionelle Götter-Theologie von Sokrates Gesprächspartner hinausführen, wird von Sokrates’ Frage markiert, ob nicht in jeder frommen Handlung das Fromme selbst mit sich selbst dasselbe sei (5d 1–3). Euthyphron akzeptiert diese raffinierte Verknüpfung aus einer allgemeinen Identitäts- und Invarianzbedingung für das Fromme von Handlungen. Daher kann Sokrates ihn ermahnen, verschiedenartige Beispiele für das Frommsein nicht zu verwechseln mit jenem Eidos selbst (??e??? a?t? t? e?d??, 6d 10–11), durch die alles Fromme fromm ist (t? p??ta t? ?s?a ?s?a ?st??, 6d 11). Sobald Euthyphron, wie Sokrates zu bedenken gibt, dies Eidos gelernt hat, wird es eine dreifache kognitive Funktion ausüben: Er wird über etwas verfügen, worauf er blicken kann (?p?ß??p??, 6e 4) und das er als Muster gebrauchen kann (pa?ade??µat?, 4–5), so daß er Handlungen im Licht dieses Musters beurteilen und sagen kann, daß die und die konkrete Handlung fromm ist oder nicht (5–6). Doch durch einen Rückgriff auf dies Muster des Frommen hätte sich Euthyphron den von ihm vernachlässigten Hauptpunkt klar machen können: Es handelt sich dabei eben um das in allen Handlungen selbst mit sich selbe Eidos- oder Ideen-Paradigma des Frommen, auf das der Handelnde blicken kann, wenn er zu beurteilen und zu sagen sucht, ob seine Handlung fromm ist oder nicht. Ein Eidos-Muster mit einer solchen Funktion pflegen wir als Kriterium für die Beurteilung des Frommen bzw. Nicht-Frommen von Handlungen aufzufassen. Damit ist der Hauptpunkt markiert, an dessen Berücksichtigung Euthyphron scheitert, weil er blind für die Möglichkeit ist, die hier gelungene formale und funktionale Charakterisierung des Frommen mit der gelungenen materialen Charakterisierung zu verflechten. Denn wenn der formale und funktionale Charakter des Frommen, also sein Eidos- oder Ideencharakter, darin besteht, daß der Handelnde sich mit Blick auf das intendierte Fromme jeder seiner Handlungen an dem selbst mit sich selbst identischen Muster des Frommen zu orientieren vermag, und wenn der materiale Charakter des Frommen darin...


Enskat, Rainer
Rainer Enskat, emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Halle, war Mitglied und von 2005 bis 2007 Geschäftsführender Direktor des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung.



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