Buch, Deutsch, Band 940, 480 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 596 g
Reihe: Campus Forschung
Ethische Reflexionen und sozialpolitische Perspektiven
Buch, Deutsch, Band 940, 480 Seiten, Format (B × H): 142 mm x 214 mm, Gewicht: 596 g
Reihe: Campus Forschung
ISBN: 978-3-593-38577-8
Verlag: Campus
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Philosophie Rechtsphilosophie, Rechtsethik
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Regierungspolitik Sozialpolitik
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Spezielle Soziologie Soziale Ungleichheit, Armut, Rassismus
- Rechtswissenschaften Recht, Rechtswissenschaft Allgemein Rechtsphilosophie, Rechtsethik
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Systematische Theologie Ethik, Moraltheologie, Sozialethik
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Inhalt
Vorwort
1 Einleitung
1.1 Der Fokus auf Gerechtigkeit
1.2 Gerechtigkeit und der moderne Sozialstaat
1.3 Gerechtigkeit - begriffliche Vorklärungen
1.3.1 Vier Formen von Gerechtigkeit
1.3.2 Soziale Gerechtigkeit
1.4 Zum Aufbau der Arbeit
1.4.1 Sozialphilosophische Orientierung
1.4.2 Die Schattenseite der liberalen Gerechtigkeitstradition
1.4.3 Theologische Orientierung
1.4.4 Weiterführende Perspektiven für Forschung und Sozialpolitik
1.5 Der Begriff "Behinderung"
Teil I Sozialphilosophische Orientierung
1 Gerechtigkeit als Fairness - die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls
1.1 Die Wahl von Gerechtigkeitsgrundsätzen
1.2 Die Herleitung von Verteilungsgerechtigkeit
1.3 Würdigung und Kritik der Gerechtigkeitstheorie von Rawls
1.3.1 Methodologische Kritik
1.3.2 Kommunitaristische Kritik
1.4 Zwischenfazit
2 Gerechtigkeit als Fairness auch für Menschen mit Behinderung?
2.1 Kritik der Rawlsschen Kooperationsgemeinschaft
2.2 Erweiterung der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie
2.2.1 Die Begründung von Gesundheitsinstitutionen nach Daniels
2.2.2 Der Fähigkeitenansatz von Sen
2.2.3 Der Zusammenhang zwischen Lebenschancen und der Funktionsfähigkeit einer Person
3 Soziale Bedingungen von Freiheit und Gleichheit
3.1 Gleichheit als soziales Verhältnis
3.2 Gleichheit in Verteilungs- und Anerkennungsperspektive
3.3 Selbstachtung und gleiche soziale Beziehungen
3.4 Gleichheit und Freiheit
3.5 Zwischenfazit
4 Die Gewährleistung sozialer Bedingungen von Freiheit
4.1 Vergleich von Daniels' und Andersons Gewährleistungsideen
4.2 Soziale Dienste als Grundgut?
4.3 Die Vereinbarkeit der Gewährleistung sozialer Bedingungen von Freiheit mit Rawls' Gerechtigkeitstheorie
4.4 Die Konkretisierung der Gewährleistung sozialer Bedingungen von Freiheit
4.4.1 Eingrenzung der zu sichernden Ressourcen
4.4.2 Gleichwertige Rechte
5 Gerechtigkeitsziele und Gerechtigkeitskriterien
5.1 Gleichheit und ihre Ziele
5.2 Kriterien der Gerechtigkeit für Menschen mit Behinderung
5.2.1 Moralisches Minimum
5.2.2 Teilhabe
5.2.3 Eigenverantwortlichkeit
5.2.4 Selbstbestimmung
5.2.5 Die Kriterien der Bedarfs- und Verfahrensgerechtigkeit
5.2.6 Die Kriterien der Kompensations-, Prozesschancen- und Zugangsgerechtigkeit
5.3 Zwischenfazit
Teil II Die Schattenseite der liberalen Gerechtigkeitstradition in philosophischer und theologischer Perspektive
1 Der strukturelle Zusammenhang zwischen Kontraktualismus, Normalisierung und Behinderung
1.1 Der Vertragsgedanke als Grundlage individueller Rechte
1.2 Die moderne Erfahrung des Behindertseins
1.2.1 Exkurs: Normalisierung, Normalität, Normativität
1.3 Die grundsätzliche Spannung liberaler Gerechtigkeitskonzeptionen im Blick auf Menschen mit Behinderung
1.4 Asymmetrische Beziehungen und Fürsorge
1.4.1 Moraltheoretische Reformulierung liberaler Tugenden als schwache Theorie des Guten
1.4.2 Die Berücksichtigung des konkreten Anderen in asymmetrischen Beziehungen
1.4.3 Die Perspektive ethisch-existentieller Wertschätzung
1.4.4 Gerechtigkeit oder Barmherzigkeit
2 Die Konstruktion von Behinderung
2.1 Behinderung als soziale Konstruktion
2.2 Ethische Relevanz der sozialen Konstruktion von Behinderung
2.3 Fachspezifische Deutungen von Behinderung am Beispiel der Definition von geistiger Behinderung
2.3.1 Der Terminus "geistige Behinderung" und seine Definition
2.3.2 Fachspezifische Definitionsansätze
2.3.3 Neuere Definitionen und eigenes Begriffsverständnis
3 Gerechtigkeit, Differenz des Anderen und Teilhabe
3.1 Teilhabe als kulturelle Gleichwertigkeit - der Ansatz der Disability Studies
3.2 Gleichheit und Differen
3.2.1 Impulse aus der feministischen Ethik für das Verhältnis von Gleichheit und Differenz
3.2.2 Gleichheit und Differenz in der Genderperspektive
3.3 Folgerungen für das Verhältnis von Gleichheit und Differenz
3.4 Exkurs: Geschlecht und Behinderung
4 Zwischenfazit: Kritische Bündelung der Perspektiven
5 Gerechtigkeit und Teilhabe - Impulse aus theologischer Perspektive
5.1 Teilhabe und das biblische Gerechtigkeitsverständnis
5.2 Vorrang für die Armen
5.3 Nächstenliebe als Korrektiv
5.4 Offene Fragen der Liebe
Teil III Theologische Orientierung
1 Anthropologische Einsichten zu Menschsein und Behinderung in Bibel und Theologie
1.1 Gottebenbildlichkeit und die Würde des Menschen
1.1.1 Gottebenbildlichkeit in der Schöpfung und Menschen mit Behinderung
1.1.2 Christologische Deutung der Gottebenbildlichkeit und ihr Bezug zu Menschen mit Behinderung
1.1.3 Die eschatologische Vollendung des Menschen
1.2 Die Hinfälligkeit menschlichen Lebens
1.2.1 Der Tod als Begrenzung des Lebens der Schöpfung
1.2.2 Der Tod als Folge der Sünde
1.2.3 Die Überwindung des Todes
1.3 Biblische Impulse zu Behinderung und Krankheit
1.3.1 Behinderung und Krankheit im Alten Testament
1.3.2 Behinderung und Krankheit im Neuen Testament
1.4 Differenzierungen zwischen Gesundheit, Krankheit und Behinderung, Heil und Heilung
1.4.1 Differenz zwischen Gesundheit, Krankheit und religiösem Heil
1.4.2 Krankheit, Behinderung und Leiden
1.4.3 Ergänzende Aspekte der christlichen Deutung von Leiden
2 Exkurs: Die Rede vom behinderten Gott
2.1 Eieslands Theologie der Behinderung
2.2 Kritische Würdigung
3 Ethische Implikationen
3.1 Christliches Freiheitsverständnis und die Autonomie des modernen Menschen
3.2 Leiblichkeit, Behinderung und die relationale Sicht von Personalität
3.3 Impulse aus der Rechtfertigungslehre für den Schutz der Würde des behinderten Menschen
3.4 Gesundheit als objektives Wohl des Menschen und der individuelle Sinn einer Behinderung unter Anschluss an theologische Deutungen
Teil IV Weiterführende Perspektiven für Forschung und Sozialpolitik
1 Summative Zusammenführung der unterschiedlichen Argumentationsstränge
2 Offene Fragen und Desiderata
2.1 Gerechtigkeit und Anerkennung
2.2 Gesundheit, Krankheit und Behinderung
2.3 Gleichheit und Differenz
2.4 Soziale Konstruktion von Behinderung
2.5 Grenzen der Liebe
2.6 Anthropologische Voraussetzungen des Liberalismus
3 Teilhabe von Menschen mit Behinderung und ihre sozialpolitische Umsetzung
3.1 Daten zur Teilhabe von Menschen mit Behinderung in Deutschland
3.2 Sozialstaatliche Leistungen für Menschen mit Behinderung
3.2.1 Die behindertenpolitische Neuorientierung nach SGB IX
3.2.2 Die Forderung nach einem Leistungsrecht für Menschen mit Behinderung
3.2.3 Ergänzende Zielperspektiven
3.3 Finanzierungsfragen und neue sozialpolitische Instrumente
3.3.1 Bundesteilhabegeld
3.3.2 Persönliches Budget
3.3.3 Berufliche Teilhabe
4 Ausblick
Literatur
1 Der strukturelle Zusammenhang zwischen Kontraktualismus, Normalisierung und Behinderung
"Gewalt fängt nicht da an, wo Menschen getötet werden,
sondern dort, wo man sagt, du bist krank und du musst tun, was ich dir sage."
Erich Fried
1.1 Der Vertragsgedanke als Grundlage individueller Rechte
Ursprünglich wurde der Vertragsgedanke in der politischen Philosophie eingeführt, um einen universalen Konsens hinsichtlich der legitimen Einschränkung der Freiheit des Einzelnen zu erzielen. Durch den Vertragsgedanken wird nicht nur individuelle Freiheit wechselseitig zwischen zwei Parteien begründet, sondern auch die Basis für die Rechtsansprüche des Einzelnen gegen den Staat gelegt. Zugleich steht der Vertragsgedanke im Hintergrund vieler sozialpolitischer Regelungen. Die Grundidee des Vertragsgedankens besagt, dass individuelle Freiheit nur dann beschränkt werden darf, wenn dem Vertrag (Kontrakt) als wechselseitiger Übertragung von Rechten und Pflichten freiwillig zugestimmt wird und jede Vertragspartei dadurch einen Vorteil hat. Der Vertrag etabliert also Menschen als gleichberechtigte Personen mit wechselseitig eingeschränkter Freiheit. Bereits eine Generation nach Veröffentlichung dieser Grundidee durch den englischen Philosophen Thomas Hobbes wurden die autoritären Eingriffsmöglichkeiten des Staates zunehmend begrenzt. Das vertragliche Wechselseitigkeitsverhältnis wird auf die Beziehung zwischen Staat und einzelnem Bürger angewandt. Damit gewinnt die Idee des Vertrages ein kritisches, gegen die Dynamik der Asymmetrie von Staat und Bürger gerichtetes Potential. Mit zunehmender geschichtlicher Entwicklung wurde die faktische Ungleichheit zwischen Staat und einzelnem Bürger durch die Kodifizierung von Abwehr-, Mitwirkungs- und Anspruchsrechten zu korrigieren versucht. Im 20. Jahrhundert fanden dann diese Ideen Eingang in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Mittels liberaler Grundrechte, politischer Mitwirkungsrechte und sozialer Rechte kann der einzelne Bürger/Bürgerin Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe einfordern. Dies gilt in besonderem Maß für gesellschaftlich marginalisierte, unterdrückte oder diskriminierte Personen(gruppen), zu denen oftmals auch Menschen mit Behinderung zählen. In den Sozialgesetzbüchern hat der Gesetzgeber versucht, die Grundrechte des Menschen in sozialstaatlichen Regelungen so zu konkretisieren, dass Freiheit und Würde des Einzelnen abgesichert sind und menschenwürdige Verhältnisse hergestellt werden können.
1.2 Die moderne Erfahrung des Behindertseins
Die skizzierte Entwicklung vom Vertragsgedanken zu den Persönlichkeitsrechten und ihrer Verankerung in der Verfassung hat zwar eine überaus wichtige, positive Bedeutung für die Entwicklung moderner demokratischer Staaten einschließlich all ihrer Vorzüge für den Rechtsstatus des einzelnen Bürgers, jedoch zeigen sich in der weiteren Explikation und Umsetzung der Grundrechte (zum Beispiel in den existenzsichernden Bestimmungen des Sozialgesetzbuches und der daraus folgenden institutionellen Praxis sozialstaatlicher Hilfe) ambivalente Phänomene. Im Blick auf die politische Gemeinschaft schützt das Grundgesetz die Würde des Menschen als unantastbar und formuliert damit einen Grundwert, der gerade für die von Schicksalsschlägen wie Unfall, Krankheit, Behinderung betroffenen Menschen auch den Schutz vor Diskriminierung sowie eine soziale Sicherung beinhaltet. Die verfassungsrechtlich festgeschriebene Gleichheit verbürgt, dass Benachteiligungen von Menschen mit Behinderung und damit auch bestehende Ungerechtigkeiten als Unrecht erkennbar und einklagbar werden. Jedoch wirken die einzelnen rechtlichen Regelungen zur Ausgestaltung dieses Grundrechts auf zwiespältige Weise. So sind in der sozialstaatlichen Praxis neben den positiven Aspekten der Existenzabsicherung, Förderung und Unterstützung von Hilfebedürftigen auch die negativen Auswirkungen dieser Praxis zu benennen: Sozialstaatliche Regelungen bestimmen immer stärker den Alltag und bringen neue Sozialfiguren wie zum Beispiel den Frührentner, Sozialhilfe-Empfänger, Schwerbehinderten erst hervor. Diese Sozialfiguren üben eine identitätsbildende Macht aus. Es ist hier zu fragen, ob die durch sozialstaatliche Regelungen verliehene Etikettierung und die damit verbundene Aussonderung das moderne Phänomen der "Behinderung" nicht eigentlich erst konstituiert.