E-Book, Deutsch, 224 Seiten
Ewald / Vogeley / Voltz Palliativ & Zeiterleben
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-17-032017-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 224 Seiten
ISBN: 978-3-17-032017-8
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Warum vergeht die Zeit manchmal wie im Fluge, in anderen Situationen aber überhaupt nicht? Was bedingt unser Zeiterleben und wie erklären dies die Sichtweisen der Philosophie oder Psychologie, Biologie oder Theologie und wie die Medizin? Wie verändert eine psychische Erkrankung unser Zeiterleben, wie eine fortschreitende körperliche Erkrankung? Was bedeutet es für unser Zeiterleben, wenn wir wissen, uns bleibt nur noch wenig Zeit? Was für das Zeiterleben der An- und Zugehörigen und das der Behandler? Findet das Leben dann in verschiedenen "Zeitwelten" statt und lassen diese sich verbinden?
Der vorliegende Band kombiniert Antwortideen verschiedener Fachrichtungen auf diese ganz besonderen Fragen sowohl aus praktischer als auch aus theoretischer Sicht und regt dazu an, ganz persönliche Antworten für die eigene Lebenssituation zu suchen.
Autoren/Hrsg.
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A 1
Zeiterleben als Erleben von … Zeit: ein philosophischer Versuch
Christian Kupke
A 1.1 Einleitung
Was ist Zeiterleben, oder was heißt es, Zeit zu erleben? Was erleben wir, wenn wir Zeit erleben? Wie erleben wir sie? Und welche Bedeutung hat die Gewissheit des Todes für dieses Erleben? – Bevor diese Fragen angegangen werden können, sollen zunächst Form und Status des Zeiterlebens reflektiert werden. Dabei wird sich u. a. zeigen, inwiefern sich eine philosophische von einer wissenschaftlichen Analyse des Zeiterlebens unterscheidet und was daher von der vorliegenden Darstellung, die sich als philosophische versteht, legitimerweise erwartet werden kann und was nicht. A 1.2 Zur Form des Zeiterlebens: seine logische Intentionalität
Sprechen wir vom Erleben der Zeit, so sprechen wir von dem, was in der Phänomenologie als Intentionalität bezeichnet wird (vgl. Husserl 1901, S. 343 ff.): Erleben ist, logisch gesehen, ein intentionaler Akt oder, zeittheoretisch verstanden, ein intentionales Geschehen. Intentionalität bedeutet, dass jedes Erleben ein Erleben von … etwas ist. Das impliziert zwei Aspekte oder ein binäres Schema: Auf der einen Seite – man kann sie die »subjektive« Seite nennen – steht die Intention selbst, das Erleben. Auf der anderen Seite – man kann sie die »objektive« Seite nennen – steht das Intendierte, das Erlebte. Im vorliegenden Text geht es um das Zeiterleben, also um das Erleben von … Zeit. Nimmt man das binäre Schema, das darin liegt und das hier durch die Leerstelle der drei Punkte indiziert wird, ernst – wir haben einerseits das (objektiv) Intendierte, die Zeit, und andererseits die (subjektive) Intention, das Erleben-von –, liegt es nahe, die Analyse des Zeiterlebens an diesem binären Schema auszurichten, also einmal nach dem durch die Intention (objektiv) Intendierten zu fragen, der Zeit, und dann nach dem (subjektiven) Erleben-von, dem Erleben von etwas als Intention. Die hier vorzunehmende Analyse wird sich in ihrer Gliederung an dieser Zweiteilung, aufsteigend vom Objektiven (Teil I) über das Subjektive (Teil II) zum Intersubjektiven (Teil III), orientieren. Aber dabei gilt es zu beachten: Obwohl das Erleben von … Zeit binär schematisiert werden kann, ist es doch eine untrennbare Einheit, nämlich eine vom Erleben der Zeit konstituierte Einheit: es ist Zeiterleben. Denn das Erleben von … Zeit ist eine Aktivität, ein intentionaler Akt, durch den die Zeit selbst zur erlebten Zeit wird: Das in der Intention unterstellte An-sich der Zeit wandelt sich durch sie zum Für-sich. Das heißt, die Zeit wird durch den intentionalen Akt des Erlebens, durch ihr Erleben, zu einem Gegenstand unseres Erlebens oder zu einem Phänomen. Aber worin gründet diese Phänomenalität? Sie muss in der Charakteristik des Erlebens selbst liegen. Wäre nämlich das Erleben statisch, z. B. als Widerspiegelung oder als behavioraler Reflex, wäre nicht einzusehen, warum im Erleben der Zeit nicht die Zeit selbst, das An-sich der Zeit zugänglich wäre. Das Erleben ist jedoch dynamisch, d. h. ein Prozess, ein Geschehen, das notwendigerweise der Zeit unterliegt. Also gründet die Phänomenalität der Zeit offenbar in der Zeitlichkeit selbst des Zeiterlebens. A 1.3 Zum Status des Zeiterlebens: seine zeitliche Relativität
Fragen wir nach dem Erleben von … Zeit, dem Zeiterleben, so tritt eine Eigentümlichkeit zutage: Die Zeit, die wir erleben, kommt uns in unserem Erleben, anders z. B. als der Raum, immer schon zuvor (vgl. Theunissen 1991, S. 43 f.). Denn es gibt im Erleben von … Zeit eine diesem Erleben selbst nicht zugängliche Zeit … des Erlebens, und zwar im doppelten Sinne: einmal im Sinne des Geschehens des Zeiterlebens als eines epistemischen Vorgangs, der in einem Zeitfenster bzw. nach einem spezifischen Zeitmuster verläuft, und sodann auch in dem einer Geschichte des Zeiterlebens, in die jeder besondere Akt dieses Erlebens immer schon integriert ist. Das heißt, für die vorliegende Darstellung ist nicht nur die Zeit ein Phänomen – sie ist je schon erlebte Zeit –, sondern auch ihr Erleben ist ein Phänomen – es ist je schon zeitliches Erleben. Denn es gibt kein Zeiterleben, das nicht selbst bereits durch das (zeitliche) Geschehen und die (zeitliche) Geschichte des Zeiterlebens bestimmt wäre. Insofern müssen wir aber auch zwischen zwei Formen der Zeitanalyse unterscheiden: derjenigen, die sich entweder dem Geschehen oder der Geschichte des Zeiterlebens, und derjenigen, die sich dem Zeiterleben als solchem, das heißt dem Erleben von … Zeit selbst zuwendet. Im ersten Fall handelt es sich um eine wissenschaftliche Analyseform: um eine psychologische oder neurowissenschaftliche bzw. chronobiologische, wenn es um das Geschehen des Zeiterlebens (vgl. Pöppel 1989; Brukamp 2009), und um eine geschichts- bzw. kulturwissenschaftliche, wenn es um die Geschichte des Zeiterlebens geht (vgl. Dux 1992; Kaempfer 1991, 1996). Beide sind durch das Problem der Zirkularität belastet. Jede wissenschaftliche Analyse setzt nämlich bereits ein bestimmtes, geschichtlich konstituiertes Erleben von … Zeit voraus: im Falle der Psychologie oder der Neurowissenschaften das wissenschaftlich »objektive« Zeiterleben und im Falle der Geschichtswissenschaften die in diesem Erleben fundierte Vorstellung einer geschichtlichen Zeit. Im zweiten Fall handelt es sich um eine philosophische Analyseform: Sie wendet sich dem Zeiterleben im vollen Bewusstsein der genannten Zirkularität zu. Das philosophische Denken weiß, dass es nur mit dem Phänomen, nur mit dem Für-sich, nicht mit dem An-sich der Zeit zu tun hat: dass ihm die Zeit »objektiv«, als natürliche und geschichtliche, je schon zuvorgekommen ist. Aber es reflektiert dieses Zuvorkommen, das heißt, es ist selbst nicht wissenschaftliche Analyse von Geschehen und Geschichte des Zeiterlebens, aber es anerkennt deren Zeit-Modus: als den einer im Erleben von … Zeit selbst nicht erlebbaren Zeit, die dieses Erleben gleichwohl bestimmt (vgl. Theunissen 2001; Kupke 2011). A 1.4 Das objektive Was im Erleben von … Zeit: Fluss und Struktur der Zeit
A 1.4.1 Zur Idee der Zeit als Fluss: kontinuierliches Übergehen
Das Erleben von … Zeit von der Zeit selbst her zu denken heißt – versuchsweise –, die Unmittelbarkeit zu rekonstruieren, in der sich die Zeit dem Erlebenden oder vielmehr im Erleben zeigt, d. h. eine egozentrische Denkperspektive einzunehmen. Aus dieser Perspektive erscheint dem Subjekt die Zeit als ein reines, qualitätsloses Übergehen von Einem zu einem immer wieder Anderen, d. h. als Übergehen nicht zu etwas Besonderem, sondern überhaupt zu Anderem: als abstrakte Form von Veränderung. Der russisch-französische Psychiater Minkowski spricht in diesem Zusammenhang unter Rückgriff auf die Zeittheorie Bergsons von Werden (vgl. Minkowski 1933, S. 26 ff.). Greift man hier auf den etymologischen Sinn des philosophischen Fachausdrucks »transzendieren« zurück, der wörtlich nichts anderes meint als »übersteigen«, »übergehen«, kann dieses Werden auch als Transzendenz begriffen werden, allerdings als triviale Transzendenz des Seins (das als Zeit verstanden wird) im Unterschied zur gravialen, d. h. ethisch-existenziellen oder theologischen Transzendenz eines Jenseits des Seins. Transzendenz ist in diesem Sinne das Kennzeichen jeden Erlebens; d. h. dieses ist, weil es Zeiterleben ist, über das Erlebte je schon hinaus, hat es je schon transzendiert. Diese Transzendenz, dieses Übergehen hat als solches zwei allozentrische Kennzeichen: Kontinuität, also auch Dauer, sowie Richtung. Es erschöpft sich nicht in dem, zu dem es übergeht; es ist Übergang ohne Unterbrechung oder Ende: unendliches, dauerndes Übergehen. Und es besitzt als solches eine Richtung (vgl. Minkowski 1933, S. 26 und S. 45 ff.). Denn es ist nicht Übergang von Einem zum Anderen und von diesem zurück zum Einen, sondern reines lineares Fortschreiten zu immer wieder Anderem, das als Späteres...