E-Book, Deutsch, 176 Seiten
Fastenmeier / Ewert / Kubitzki Die kleine Psychologie des Straßenverkehrs
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-456-76092-6
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Mythen, Vorurteile, Fakten
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-456-76092-6
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Ein kulturkritischer Überblick über das Verhalten und Erleben von Menschen im Straßenverkehr
„Aggressionen im Verkehr sind deutlich gestiegen", „82-jähriger Fahrer landet mit seinem Fahrzeug im Schaufenster - wann kommen endlich verpflichtende Tests?"
Was ist von solchen Schlagzeilen zu halten - sind sie nur ebenso populär wie wiederkehrend, ist wenigstens ein Körnchen Wahrheit dabei oder liegen sie überhaupt falsch? Handelt es sich also gar um Mythen zum Straßenverkehr, die als weitverbreitete Vorstellungen und Vorurteile in Medien und Öffentlichkeit herumgeistern?
Das vorliegende Buch greift diese Fragen auf und behandelt in zehn Kapiteln verschiedene Themen des Straßenverkehrs und der Verkehrssicherheit aus wissenschaftlicher Sicht.
Behandelt werden unter anderem Themen wie
• Das automatisierte und autonome Fahren: Der Mensch als Störfaktor?
• Wird der Verkehr auf den Straßen immer aggressiver?
• „Der Mann lenkt, die Frau denkt" - das Genderthema im Straßenverkehr
• Generation virtual Multitasker: Kommunikation und Fortbewegung
• Gefährliche Alte - Führerscheincheck für Senioren
• Die Autoren greifen gängige Vorstellungen der Öffentlichkeit über Verkehrsverhalten auf und korrigieren oder ergänzen sie aus Expertensicht. Amüsant, lehrreich und auf jeden Fall horizonterweiternd!
Zielgruppe
Im Bereich Straßenverkehr beruflich aktiven Personen: Politik, Ministerien, Behörden, Verbände, Versicherungen, Forschungseinrichtungen; Fachjournalist_innen; interessierte Laien
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
|31|2 „Und überhaupt, früher war alles besser …!“ | Raser, Drängler & Co – wird der Verkehr auf unseren Straßen immer aggressiver?
Jörg Kubitzki A trip down Market Street
Pferdewagen, Fuhrwerk, Motorwagen, Trambahn, Fußgänger: Sie queren und scheren ein, überholen und schneiden einander. Ob Market Street, San Francisco, ob Boston, London, Kopenhagen oder Berlin: Historische Straßenszenen aus den Anfängen der Kinematografie sind ein aufschlussreiches Dokument der Sittengeschichte. Was sich dort bietet, gleicht, bei genauer Analyse, einem Recht des Stärkeren, einem First-Comes-First des Kintopps, einem Schneller-sticht-Langsamer. Früher war alles besser? Man könnte auch sagen: Eine Straßenverkehrsordnung hat etwas. Sicher, Verkehrsregeln gab es auch früher, die Tram hatte stets Vorfahrt. Doch stand ihr Lenker immer auch mit einem Bein vor Gericht, musste er doch jederzeit mit Passanten rechnen. Das Verkehrsaufkommen stieg und mit ihm die Unfallzahlen, erste verkehrspsychologische Tests für Straßenbahner entstanden. Früher war alles besser? Ein Blick in die Archive zeichnet ein anderes Bild: eines der Rücksichtslosigkeit und Regelbrüche. 1902 stirbt der kleine Henry Theiss unter einem Sportwagen, dessen vier junge Fahrer mit überhöhter Geschwindigkeit im belebten New York unterwegs sind. Ein Blick in die Archive zeigt die |32|Unfälle rücksichtsloser Reiter und Pferdegespanne – die Geschichte des Straßenverkehrsunfalls beginnt nicht mit dem pferdelosen Wagen. Um 1900 beklagen die Karikaturisten den Verlust der guten alten Zeit. Die Fliegenden Blätter machen die moderne Technik als Schurken aus. Die überlasteten Straßen lange vor dem Automobil, Grund für den U-Bahn-Bau, die Statistiken der nicht motorisierten Verkehrsunfälle übergehen sie dezent. Denn der Transportunfall, der Verkehrskonflikt ist seiner Masse nach ein Kind der Urbanisierung, keines der Motorisierung. Dem Zeichner Henry Albrecht, geboren 1857, ist der wehmütige Blick auf seine Kindheit verzeihbar. Der Mythos aber, Aggressivität im Verkehr wäre eine Besonderheit unserer Tage, hält der historischen Analyse nicht stand (Abbildung 2-1 und 2-2). Mobilität birgt immer auch Aggression, schon dem Wortsinn nach bedeutet „aggredior“: sich nähern. |33|Verkehrsmittel dienen nie allein dem Transport
Aggressivität gehört zum Verkehr. Aber nimmt sie zu, abgesehen davon, dass schon die Klage selbst Tradition hat? Und steigt sie stärker als die Mobilität? Bevor diese Frage beantwortet werden kann, ist festzuhalten: Aggressivität im Straßenverkehr ist alles andere als eindeutig. Öffentliche Wege waren stets Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse. Und da nimmt es nicht wunder, wenn sich selbst Verkehrspsychologen kaum einig sind, wenn es gilt, soziologische und psychologische Bedingungen der Fortbewegung zu entschlüsseln. Vorsatz, Zufall? Eindeutig, zweideutig? Was sind und was bedingen Akte der Aggression im Verkehr? Die berüchtigten Handgesten etwa zum Sinnbild aversiver Initialhandlungen zu machen, scheint erfahrenen Gutachtern mäßig überzeugend, finden sie sich doch eher als Ohnmachtsgeste auf erfolgte Nötigung. Der öffentliche Raum als Kampfzone, dieses Bild ist nicht neu. „Rechts fährt der Neid“ lautete unlängst ein nicht satirisch gemeinter Artikel der Süddeutschen Zeitung zum Schnellfahren – überhaupt scheint Neid als begehrte Erklärungsfolie für mancherlei Konflikt zu dienen, folgt man dem Motorjournalismus. Die Diskrepanz zwischen Öffentlichkeit und Verkehrsdelinquenzlehre könnte größer kaum sein. Denn nicht nur für Wagner, Müller, Koehl und Rebler (2020) sind Mangel an Normtreue und Regelakzeptanz die größten Probleme der Verkehrssicherheit. Ihr Zusammenhang mit Verkehrsgefährdung ist Lehrbuchwissen. Richtig ist, und hier muss jede Betrachtung von Aggressivität im Verkehr ansetzen: Niemand bewegt sich nur zum Zwecke der Fortbewegung. Extramotive fahren und gehen stets mit. Der Begriff wird meist mit dem Jugendlichkeitsrisiko assoziiert, Selbstdarstellung, Selbstwertgefühl, Wettbewerbsdenken, Sensationssuche sind die Stichworte. Die Psychologie kann die Sicherheitsrelevanz altersübergreifend bemessen. Hier das Motiv der Gewaltausübung zu tabuisieren, dient nicht dem Disput. Doch darf nicht unterschlagen werden, dass auch in der Psychologie Thesen dieses Erklärungshorizonts als obsolet, gar biologistisch bezeichnet werden: Durch Autofahren Macht auszuüben, Überlegenheit zu demonstrieren, erscheint ebenso abwegig, wie Autofahren als Revierkampf zu bezeichnen. Das Forschungsfeld zur Aggressivität im Straßenverkehr ist in Deutschland dünn und fokussiert häufig auf den Teilaspekt des durch pragmatische Zwecke (Vorwärtskommen) begründeten und durch die |34|Umstände (räumliche Enge, Kommunikationsprobleme) begünstigenden Verhaltens. Der Erklärungshintergrund bleibt zu oft kognitionstheoretisch, wie die Auseinandersetzung mit dem den eigenen Erwartungen oder Zielen zuwiderlaufenden Verhalten Dritter. Aggression infolge Frustration steht im Blick. Demnach ist Aggressivität eine Frage der Perspektive (Drängeln vs. Behindern), der subjektive Charakter wird betont, Situationen werden als aggressiv erlebt. Das konterkariert Verhaltensrecht und polizeiliche Verkehrslehre insofern, als gerade die Verhaltensweisen, die Fahrer in Befragungen als aggressiv benennen, als Verkehrsdelikte oder Verstöße gegen Maßgaben des Respekts reglementiert sind. Diese instrumentell-kognitive Einengung weist zwei Mängel auf: die Annahme, Aggression diene meist Sachzwecken, und die Behauptung, es gebe sie genau genommen nur im Erleben. Bei hoher Geschwindigkeit ohne Sicherheitsabstand auffahren, Lücken erzwingen – Befragungen erbringen mannigfach Beispiele gegen die Subjektivitätsthese. Überholen, ohne später schneller zu fahren, Drängeln trotz Kolonnenfahrt sind Beispiele, dass es nicht nur um Sachzwecke geht. Täter- und Opferebene zu verwässern hilft bei dem Bemühen, dem Empfinden wachsender Aggressivität zu begegnen, nicht weiter, die Debatte kommt ohne umfassendere Gesellschaftskonzepte nicht aus. Das betrifft besonders die andernorts geführte Normen- und Wertediskussion. Aggressivität als Dimension der Persönlichkeit
Auch der Kanon als aggressiv zu definierender Handlungen bleibt vage, meist hergeleitet aus Fahrerbefragung, selten unter Einschluss der Radfahrer bzw. Fußgänger. Ordnungskriterien konkurrieren miteinander, psychologische decken sich nicht mit juristischen. Respektlosigkeit wie Lückenschließen ist nicht zwingend justiziabel, Regelverstöße nicht immer Aggression. Schwerere Verkehrsdelikte mit Gefährdung und Straftaten (Nötigung) sind statistisch weniger häufig, schwerste Vergehen (Auto als Waffe) selten. Das Fahreignungs-Gutachtenwesen befasst sich mit strafbewehrten Delikten von hohem Aggressionspotenzial. Bei allem bleibt die Frage nach alltäglichen Konflikten (Allerweltsereignisse). Mit der Stresstheorie von Lazarus wirken sie als „daily hassles“ stresskumulierend (Lückenspringen, Überholen kurz vor Abbiegen und Ausbremsen |35|des Überholten). Der Forschung gemeinsam ist die höchste Bedeutung dichten Auffahrens. Jeder Zweite assoziiert es mit Aggression (Kaiser, Furian & Schlembach, 2016; Abbildung 2-3). 9?% nennen Beleidigung, aber 21?% haben sie schon auf das Verhalten anderer hin gezeigt. Aggression und Reaktion darauf sind gut trennbar. Die Psychologie begreift Aggressivität als Persönlichkeitsdimension (theoretisches Konstrukt) und Aggression als gezeigtes Verhalten (Handlung). Reaktive und spontane Aggressivität werden unterschieden. Laut Herzberg und Schlag (2006) ist Verkehrsaggressivität eine Schädigungsabsicht (affektive Aggression) oder Zieldurchsetzung mittels Schädigung (instrumentelle Aggression), laut DGVP (2020) eine energiegeladene Handlung, gekennzeichnet durch Gefährdung bzw. Schädigung. Aggression als Affekthandlung ohne rationales Ziel ist somit zunächst nicht ausgeschlossen. Nach BASt (2003) charakterisiert sie dagegen Egoismus und Missachtung gegnerischer Interessen und billigende Schädigung. Gemäß Herzberg (2003) liegt Verkehrsaggressivität im Spannungsfeld instrumenteller Aggression, Ärger durch Frustration, Spaß an Gewalt, Ausleben, Negativismus und...