E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Felber Wenn die Familie nicht guttut
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-7495-0493-0
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Toxische Beziehungen erkennen und lösen
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7495-0493-0
Verlag: Junfermannsche Verlagsbuchhandlung
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Allgemeines
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Psychologie Allgemeine Psychologie Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie
- Sozialwissenschaften Pädagogik Pädagogik Pädagogik: Sachbuch, Ratgeber
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Familientherapie, Paartherapie, Gruppentherapie
Weitere Infos & Material
Einleitung
„Meine Mutter hat mir noch nie gesagt, dass sie mich liebhat. Aber ich verstehe das. Es ist nicht ihre Schuld. Sie hatte ja selbst eine schwere Kindheit.“ „Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater mich jemals für etwas gelobt oder mich wertschätzend behandelt hat, während Kritik auf der Tagesordnung stand.“ „Ich habe immer davon geträumt, fernab der Heimat zu studieren, aber das konnte ich meiner Mutter nach der Scheidung nicht antun.“ „Über die Krebserkrankung meines Vaters wurde in unserer Familie nie gesprochen, damit musste ich als Kind allein klarkommen.“ Solche oder ähnliche Aussagen höre ich im Rahmen meiner Beratungen häufig und jedes Mal bin ich aufs Neue bestürzt: Bestürzt darüber, dass jene, denen Gewalt in der eigenen Familie widerfahren ist, häufig empathischer mit den Verursacherinnen und Verursachern1 sind als mit sich selbst; bestürzt darüber, dass Gewalt – insbesondere psychische Gewalt – noch immer etwas zu sein scheint, was billigend in Kauf genommen wird. Weil sie „jedem in der Kindheit irgendwann einmal begegnet ist und man daher keine große Sache daraus machen sollte“. Ich halte diese Behauptung einer Klientin für unzutreffend. Doch selbst wenn wir für einen Moment annehmen, dass sie stimmte, wäre dann nicht der einzig logische Schluss, den Blick für das Thema (psychische) Gewalt weiter zu schärfen, anstatt weiterhin die Augen davor zu verschließen? Nur weil es Kriege gibt, kann dies doch kein Argument dafür sein, den Frieden nicht weiter anstreben zu wollen. Zur Verwendung des Begriffs „Gewalt“ in diesem Buch … Jede toxische Familienbeziehung ist von Gewalt geprägt. Unter Gewalt verstehe ich all jene elterlichen Verhaltensweisen, die Kinder absichtlich oder unabsichtlich für die eigenen Zwecke instrumentalisieren, die bedeutsame (systemische) Familiengesetze verletzen und / oder Kindern langfristig Leid zufügen. Ich fasse den Begriff also weiter, als viele es möglicherweise gewohnt sind. Warum ich dies für gerechtfertigt halte und was genau du dir unter den einzelnen Aspekten vorstellen kannst, werde ich im weiteren Verlauf erläutern. Mit diesem Buch möchte ich für die verschiedenen Ausdrucksformen toxischer Familienbeziehungen sensibilisieren und dazu beitragen, sie als das zu sehen, was sie sind: Formen der Gewalt. Ich möchte Betroffenen Mut machen, sich die nötige Selbstempathie zu gestatten und ihre Wunden (endlich) ernst zu nehmen. Ihnen und den Menschen, die mit ihnen arbeiten oder leben, möchte ich die Varianten und Auswirkungen toxischer Familiensysteme aufzeigen. Toxische Beziehungserfahrungen in unserer Kindheit sind häufig dafür verantwortlich, dass wir im Laufe unseres Lebens psychisch und psychosomatisch erkranken oder uns in neue ungesunde, dysfunktionale Beziehungsdynamiken begeben. Menschen, die unter Depressionen, Ängsten, diffusen körperlichen Beschwerden oder massiven Beziehungsproblemen leiden, suchen die Ursachen für ihre Schwierigkeiten gemeinhin in der Gegenwart, ohne zu ahnen, dass die Gründe viel weiter zurückreichen. So erging es auch Caro. Sie ist eine der Betroffenen, der Sie in diesem Buch öfter begegnen werden. An ihrem Beispiel möchte ich aufzeigen, wie toxische Beziehungen sich über das Leben hinweg darstellen und auswirken und zugleich, wie es gelingen kann, sich aus ihnen zu lösen. Caro wurde zunächst ein paarmal die Woche, später täglich von Schwindelanfällen überwältigt. Sie kamen auf dem Weg zur Arbeit, vor dem Fernseher, im Gespräch mit Kolleginnen oder abends im Bett und folgten augenscheinlich keiner Logik. Caro wurde auf einen Schlag schwindelig, ihr Hals schnürte sich zu, das Herz raste, ihr wurde heiß und kalt zugleich und sie schnappte nach Luft wie ein an Land gespülter Fisch. Zwischen den Anfällen litt sie unter einem Kloß im Hals, Sehstörungen, Lähmungserscheinungen und einem unerträglichen Dauerrauschen im Ohr. Caro schaffte es dennoch, jeden Tag zur Arbeit zu gehen und, so gut es ging, den Alltag zu bewältigen. Es gelang ihr, den berühmten Schein zu wahren. Schaute man hinter die Fassade, so wusste sie allerdings oft nicht einmal mehr, wie sie die nächste Stunde überstehen sollte, ohne verrückt zu werden. Ihre Hausärztin vermutete zunächst Asthma und überwies Caro zum Lungenfacharzt – ohne Befund. Beim Kardiologen wurde sie auf einen möglichen Herzfehler untersucht und schlussendlich prüfte der Gastroenterologe, ob eine Nahrungsmittelunverträglichkeit vorliegen könnte. Keiner von ihnen fand etwas, das ursächlich für ihre Anfälle hätte sein können. Sie war gesund. Man riet ihr, beruflich kürzer zu treten und ihr privates Umfeld auf mögliche Stressquellen hin zu überprüfen. Caro zweifelte mehr und mehr an ihrem Verstand. Ihr Leben war besser denn je: Sie hatte einen tollen Job, eine schöne Wohnung, keinerlei finanzielle Sorgen, einen großen Freundeskreis und einen wunderbaren Mann. Oder redete sie sich das vielleicht doch alles nur schön? Überforderte sie der Job insgeheim, schadeten ihr die eigenen Freunde und war die Beziehung zu ihrem Mann am Ende schädlich für sie? Erst zwei Jahre später, nach zahlreichen Ärzte-, Heilpraktiker- und Osteopathen-Terminen, begriff sie, dass ihre Körpersymptome Ausdruck dessen waren, was sie dachte, längst verstanden und bewältigt zu haben: die Erlebnisse aus ihrer Kindheit, die von einer Mutter mit einer Persönlichkeitsstörung dominiert worden war. Mittlerweile sind sich viele Menschen bewusst darüber, dass ein Leben in toxischen Paarbeziehungen, Freundschaften oder Arbeitsverhältnissen Dauerstress für Körper und Seele bedeutet. Insbesondere wenn toxische Dynamiken mithilfe von Gewalt bewusst und systematisch generiert werden, wird von Fachleuten sinnvollerweise zu einer möglichst schnellen Trennung geraten. Doch was soll man tun, wenn die Beziehung zu den eigenen Eltern, Geschwistern oder Großeltern toxisch ist? Wie sollen Menschen damit umgehen, wenn sie feststellen, dass sie in einer toxischen Familie groß geworden sind? Ist es legitim, der eigenen Familie den Rücken zu kehren? Und wie groß muss der Schaden sein, um diesen drastischen Schritt zu gehen? Oder sollte man besser vergeben und verzeihen? Weil Blut dicker ist als Wasser? In diesem Gedankenchaos war auch Caro verstrickt, nachdem sie erkannt hatte, dass sie in einer toxischen Familie aufgewachsen war. Welche Schlüsse sollte sie aus ihren Erkenntnissen ziehen? Wie sollte sie sich zukünftig der Mutter gegenüber verhalten? Und wie gegenüber den restlichen Familienmitgliedern? Nicht immer äußern sich die Folgen toxischer Familienbeziehungen derart massiv wie bei Caro und nicht immer braucht es Schläge oder sexuelle Übergriffe, um von einem toxischen Umfeld zu sprechen. Gewalt hat viele Gesichter. Manchmal braucht es einen genauen Blick und vor allem Mut, um das Verhalten von Müttern und Vätern als missbräuchlich zu erkennen. Häufig fürchten Betroffene sich davor, zu übertreiben, illoyal zu sein oder endgültig aus dem Familienverbund ausgeschlossen zu werden, wenn sie ihre Vorwürfe laut aussprechen. Diese oder ähnliche Ängste verhindern eine realistische Einschätzung der eigenen familiären Situation und lassen Betroffene ratlos zurück. Mit diesem Buch möchte ich Ihnen helfen, einen Umgang mit Ihren Ängsten zu finden und einen lösungsorientierten Blick in die Vergangenheit zu werfen. Dabei geht es nicht darum, Familien im Allgemeinen und Eltern im Speziellen als Schuldige zu stigmatisieren. Schuldzuweisungen (allein) können niemals der Schlüssel zu einem autonomen und glücklichen Leben sein. Eigenverantwortung schon. Und zu dieser möchte ich Sie ermutigen. Schauen wir uns gemeinsam an, was in Familien (noch) gesund und was (schon) ungesund ist, welche Erscheinungsformen toxische Familienbeziehungen annehmen, woran Sie erkennen, dass Sie in dysfunktionalen Familienverhältnissen aufgewachsen sind, welche Auswirkungen Gewalterfahrungen in der Familie haben und was Sie tun können, um toxische Familiensysteme zu „entgiften“ oder sich aus ihnen zu lösen. Dabei ist es mir eine Herzensangelegenheit, Ihnen keine Dogmen vorzusetzen. Ich möchte Sie vielmehr behutsam aus der Ohnmacht (zurück) in die Handlungswirksamkeit führen und Sie darin bestärken, Ihren individuellen Weg zu finden, um mit dem Geschehenen umzugehen. Menschen und die Familiensysteme, in denen sie leben, sind immer individuell und hochkomplex. Für mich bedeutet das, dass Sie sich jederzeit von ihrer Familie abwenden dürfen, dass Sie Ihre Eltern, Geschwister und Großeltern ehren dürfen, dass Sie vergeben dürfen. Aber dass Sie nichts von alledem müssen. Wichtig ist einzig und allein, dass Sie das tun, was sich für Sie in Ihrer aktuellen Lebensphase stimmig anfühlt. Bitte bedenken Sie in diesem Zusammenhang, dass dieser Ratgeber als Impulsgeber und Begleiter gedacht ist. Eine Psychotherapie kann er selbstverständlich nicht ersetzen. Beziehungen im Allgemeinen und Familienbeziehungen im Speziellen sind überaus intime Bereiche. Man bespricht sie lieber mit Freunden als mit Fremden. Um die Distanz zwischen Ihnen und mir im Rahmen der Möglichkeiten zumindest ein wenig zu schmälern, möchte ich Sie daher im Folgenden gern duzen. All jene, die sich aus beruflichen Gründen für die Thematik interessieren, möchte ich bitten, mir das „Du“ nachzusehen. Ich habe mich ganz im Sinne der Nähe zum Leser für jene Anrede entschieden, die mir für Betroffene am hilfreichsten erschien. So oder so...