E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: dtv- Klassiker
Fitzgerald / Wolff Bernice schneidet ihr Haar ab
1. Auflage 2012
ISBN: 978-3-423-41328-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Reihe: dtv- Klassiker
ISBN: 978-3-423-41328-2
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
F. Scott Fitzgerald, geboren am 24. September 1896 in St. Paul, Minnesota, studierte an der Princeton University Literatur, brach das Studium aufgrund seiner Leidenschaft für das Schreiben jedoch bald ab. 1920 erschien sein erster Roman 'Diesseits vom Paradies'. Während seiner Reisen nach Frankreich lernte er in Paris Ernest Hemingway kennen und vollendete dort 1925 sein berühmtestes Werk 'Der große Gatsby', das sich zu Lebzeiten allerdings nicht gut verkaufte. Auch seine späteren Werke waren finanzielle Misserfolge, Fitzgerald verfiel dem Alkohol und hatte Depressionen. Ab 1937 arbeitete er als Drehbuchschreiber in Hollywood, wo er am 21. Dezember 1940 starb.
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Bernice schneidet ihr Haar ab
Wenn man sich an Samstagabenden nach Einbruch der Dunkelheit auf dem Golfplatz an den ersten Abschlag stellte, lagen die Fenster des Country Clubs wie ein gelber Horizont über einem schwarzen, bewegten Meer. Die Wellen dieses Meeres waren die Köpfe der vielen neugierigen Caddies, der etwas schlaueren Chauffeure und der tauben Schwester des Golflehrers. Normalerweise gab es auch ein paar andere, sanfte Wellen, die genauso gut im Inneren hätten plätschern können, wenn sie gewollt hätten. Das war die Galerie.
Der »Balkon« befand sich im Inneren. Er bestand aus einem Kreis von Korbstühlen an den Wänden des großen Clubraums, der an diesen Abenden zum Ballsaal wurde. Dieser Bereich war erfüllt von einem großen weiblichen Stimmengewirr, hervorgerufen von Damen mittleren Alters mit scharfen Augen und eisigen Herzen hinter Lorgnetten und breiten Busen. Die Hauptfunktion des Balkons war kritischer Natur. Gelegentlich zeigte er widerwillige Bewunderung, aber gebilligt wurde hier gar nichts, denn unter Damen über fünfunddreißig ist wohlbekannt, dass die jungen Leute nur die übelsten Absichten hegen, wenn sie sich im Sommer zum Tanz treffen, dass verirrte, einzelne Pärchen in den Ecken barbarische Dinge tun, wenn sie nicht ständig mit versteinerten Blicken traktiert werden, und dass die beliebtesten und gefährlichsten Mädchen manchmal sogar in den geparkten Limousinen ahnungsloser Matronen geküsst werden.
Aber letztlich ist dieser Kreis von Kritikerinnen nicht nahe genug an der Bühne, um die Gesichter der Schauspieler sehen zu können und die subtilen Nuancen der Handlung genau zu erfassen. Sie können nur die Stirn runzeln und die Köpfe zusammenstecken, Fragen stellen und befriedigte Schlüsse aus ihren Prinzipien ziehen, zu denen unter anderem gehört, dass jeder junge Mann mit einem höheren Einkommen das Leben eines gejagten Rebhuhns führt. Das eigentliche Drama der trügerischen, halbgrausamen Welt der Adoleszenz können sie niemals begreifen. Nein, die Hauptdarsteller, der Chor, die »Logen« und das »Parkett« befinden sich in jenem Wirbel von Gesichtern und Stimmen, der sich zu den klagenden afrikanischen Lauten von Dyer’s Orchester im Tanz wiegt.
Vom sechzehnjährigen Otis Ormonde, der noch zwei Jahre auf der Hill School bleiben muss, bis zu G.Reece Stoddard, der zu Hause über dem Schreibtisch schon ein juristisches Diplom aus Harvard hängen hat, von der kleinen Madeleine Hogue, die sich immer noch seltsam und unbehaglich mit der hochgesteckten Frisur fühlt, bis zu Bessie MacRae, die schon ein bisschen zu lange– mehr als zehn Jahre– der Mittelpunkt jeder Party ist, bildet dieses bunte Durcheinander nicht nur die eigentliche Bühne, sondern umfasst auch die einzigen Leute, die einen ungehinderten Blick darauf haben.
Mit einem Tusch hört die Musik auf. Die Paare tauschen ein müheloses, künstliches Lächeln, wiederholen spöttisch die letzten Takte: und dann übertönt das Gickern junger weiblicher Stimmen das Beifallklatschen.
Ein paar enttäuschte junge Männer, die gerade abklatschen wollten und mitten auf der Tanzfläche vom Ende der Musik überrascht worden sind, kehren lustlos an die Wände zurück. Hier ging es nicht so wild wie bei den Bällen zur Weihnachtszeit zu. Die sommerlichen Tanzereien wurden als nette, anregende Feste betrachtet, wo auch die Jungverheirateten noch gelegentlich aufstanden und zur gutmütigen Erheiterung ihrer jüngeren Brüder und Schwestern altmodische Walzer und einen ängstlichen Foxtrott vorführten.
Warren McIntyre, der ohne großes Engagement in Yale studierte, war einer dieser Enttäuschten; er tastete in der Jacke seines Abendanzugs nach einer Zigarette und schlenderte auf die große, halb im Dunkeln liegende Veranda hinaus, wo die Paare an Tischen verstreut saßen und die von Lampions beleuchtete Nacht mit unbestimmten Worten und flüchtigem Lachen erfüllten. Er nickte hierhin und dorthin, wo die weniger mit sich selbst Beschäftigten saßen, und jedes Mal, wenn er an einem Paar vorbeikam, lief ein halbvergessenes Bruchstück einer Geschichte vor seinem geistigen Auge ab, denn es war keine große Stadt und jeder war ein aller anderen. Da saßen zum Beispiel Jim Strain und Ethel Demorest, die seit drei Jahren heimlich verlobt waren. Jeder wusste, dass sie ihn sofort heiraten würde, wenn es Jim gelingen sollte, sich mal zwei Monate lang an einer Arbeitsstelle zu halten. Trotzdem sahen sie so gelangweilt aus, und Ethel schaute Jim so müde an, als ob sie sich fragte, warum sie die Ranken ihrer Zuneigung gerade an eine so schwankende Pappel geheftet hatte.
Warren war neunzehn und bedauerte alle seine Freunde, die nicht nach Osten aufs College gegangen waren. Aber wie alle Jungen gab er mächtig mit den Mädchen aus seiner Stadt an, wenn er weit genug weg war. Da war Genevieve Ormonde, die bei allen Bällen, Hauspartys und Footballschlachten in Princeton, Yale, Williams und Cornell die Runde machte. Da war die schwarzäugige Roberta Dillon, die in ihrem Jahrgang genauso berühmt war wie Hiram Johnson oder Ty Cobb; und natürlich war da Marjorie Harvey, die abgesehen davon, dass sie ein feenhaftes Gesicht und eine schnelle, verwirrende Zunge hatte, zu Recht auch dafür gefeiert wurde, dass sie beim letzten Pump and Slipper-Ball in Yale fünfmal hintereinander Rad geschlagen hatte.
Warren, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufgewachsen war, war schon seit Längerem »verrückt nach ihr«. Manchmal schien sie sein Gefühl mit einer blassen Dankbarkeit zu erwidern, aber sie hatte ihn mit ihrem unfehlbaren Test geprüft und ihm mit ernster Miene mitgeteilt, dass sie ihn nicht liebte. Der Test bestand darin, dass sie ihn immer vergaß, wenn sie nicht in seiner Nähe war, und Geschichten mit anderen Jungs anfing. Warren fand das entmutigend, besonders, weil sie den ganzen Sommer über kleine Reisen gemacht hatte und er jedes Mal, wenn sie wieder zu Hause war, auf dem Tisch in der Garderobe der Harveys mehrere Tage lang haufenweise Briefe gesehen hatte, die in verschiedenen männlichen Handschriften an Marjorie adressiert waren. Und um alles noch schlimmer zu machen, hatte sie auch noch den ganzen August Besuch von ihrer Cousine Bernice aus Eau Claire und es schien unmöglich, sie mal alleine zu treffen. Ständig musste man nach jemandem suchen, der sich um Bernice kümmerte, und je weiter der August voranschritt, desto schwieriger wurde das.
Obwohl er Marjorie anbetete, musste Warren doch zugeben, dass ihre Cousine Bernice irgendwie lahm war. Sie war hübsch, hatte dunkles Haar und einen schönen Teint, aber es machte keinen Spaß mit ihr auf einer Party. Jeden Samstag tanzte er einen langen, mühseligen Pflichttanz mit ihr, um Marjorie zu gefallen, aber er hatte sich immer nur gelangweilt in ihrer Gesellschaft.
»Warren–« Eine leise Stimme und eine Berührung an seinem Ellbogen unterbrachen seine Gedanken. Er wandte sich um und sah Marjorie, erhitzt und strahlend wie immer. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und sofort begann er unmerklich zu glühen.
»Warren«, flüsterte sie. »Tu mir einen Gefallen und tanz mit Bernice. Sie hängt jetzt schon fast eine Stunde bei dem kleinen Otis Ormonde fest.«
Warrens Glühen verblasste.
»Klar, natürlich«, sagte er halbherzig.
»Es macht dir doch nichts aus, oder? Ich achte schon darauf, dass du nicht an ihr kleben bleibst.«
»Schon gut.«
Marjorie lächelte– und dieses Lächeln war Belohnung genug.
»Du bist ein Engel, ich bin dir total dankbar.«
Mit einem Seufzer sah der Engel sich auf der Veranda um, aber Bernice und Otis waren nirgends zu sehen. Er ging wieder hinein, und da fand er Otis vor der Damentoilette inmitten einer Gruppe von jungen Männern, die sich vor Lachen krümmten. Otis schwenkte ein Stück Holz, das er aufgehoben hatte, und führte wilde Reden.
»Sie ist reingegangen, um sich die Haare zu richten«, erklärte er lautstark. »Und ich darf jetzt darauf warten, eine weitere Stunde mit ihr zu tanzen.«
Das Lachen erhob sich von Neuem.
»Warum klatscht sie von euch keiner ab?«, rief Otis empört. »Sie möchte auch etwas Abwechslung.«
»Aber Otis«, sagte einer der Freunde. »Du hast dich doch gerade erst an sie gewöhnt.«
»Was willst du denn mit dem Balken da?«, fragte Warren lächelnd.
»Welcher Balken? Ach, der? Das ist eine Keule, wenn sie wieder rauskommt, hau ich sie ihr über den Schädel und schubse sie wieder rein.«
Warren ließ sich auf ein Sofa fallen und lachte. »Keine Sorge, Otis«, sagte er schließlich. »Diesmal werd ich dich erlösen.«
Otis simulierte einen plötzlichen Ohnmachtsanfall und gab Warren den Stock.
»Falls du ihn brauchst, alter Junge«, sagte er heiser.
Ganz egal, wie schön oder klug ein Mädchen sein mag– wenn sie den Ruf hat, selten abgeklatscht zu werden, ist das eine heikle Lage auf einem Ball. Die jungen Männer finden ihre Gesellschaft vielleicht sogar reizvoller als die der vielen Schmetterlinge, mit denen sie ein Dutzend Mal am Abend tanzen, aber die Jazzgeneration ist nun einmal ruhelos, und die Vorstellung, einen ganzen Foxtrott mit demselben Mädchen zu tanzen, erscheint ihnen unangenehm, ja absolut grässlich. Wenn es gar um mehrere Tänze hintereinander geht, einschließlich der Pausen dazwischen, dann kann sie sicher sein, dass ihr der junge Mann, wenn er endlich abgelöst worden ist, nie wieder auf die eigensinnigen Zehen treten wird.
Warren tanzte den ganzen nächsten Tanz mit Bernice und führte sie schließlich– dankbar für die...