E-Book, Deutsch, 352 Seiten
Flood Die Witwe
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-26397-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Psychothriller
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-641-26397-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Helene Flood ist Psychologin und lebt mit ihrer Familie in Oslo. Ihr erster Roman »Die Psychologin«wurde bereits vor Erscheinen in Norwegen in achtundzwanzig Länder verkauft. Er stand monatelang auf der Bestsellerliste, eine Verfilmung ist geplant. Auch »Die Affäre« und »Die Witwe« wurden von Publikum und Presse begeistert aufgenommen.
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FÜNF TAGE DANACH
Sie stehen auf der obersten Stufe der Eingangstreppe, als ich die Haustür öffne, ein Mann und eine Frau. Der Mann ist hochgewachsen und sehnig. Er hat einen buschigen Bart im Gesicht. Ich habe Bärte und Schnäuzer nie gemocht, das habe ich von meiner Mutter, die der Meinung war, Gesichtsbehaarung sei unanständig. Die Frau neben ihm trägt eine Lederjacke und hat ihre rotbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der große Bärtige ist mit Jeans und Outdoorjacke bekleidet. Allem Anschein nach hat er die Klingel betätigt.
»Sind Sie Frau Krogh?«, fragt er. »Evy Krogh?«
»Ja bitte?«
»Mein Name ist Gundersen, ich bin von der Polizei. Das ist meine Kollegin Ingvild Fredly. Unser aufrichtiges Beileid zum Tod Ihres Mannes.«
Ich nicke. Ich weiß nicht, was für eine Antwort sie von mir erwarten.
»In diesem Zusammenhang haben wir einige Fragen. Dürfen wir hereinkommen?«
Der Mann, der sich als Gundersen vorgestellt hat, ragt in meinem Wohnzimmer empor. Erling war ebenfalls groß, aber mit den Jahren waren seine Schultern etwas zusammengesunken. Gundersens Schultern sind unverschämt gerade, und sein Körper ist leicht nach vorn gelehnt, als könne er es nicht erwarten, das, was kommt, zu fassen zu bekommen. Er ist schnell, wie mir scheint, uns anderen bereits mehrere Schritte voraus.
»Ist es okay, wenn ich mich ein wenig umsehe?«, fragt Ingvild Fredly.
Ich schaue sie bloß an. Ist es okay? Ich möchte nicht, dass sie in unseren Sachen herumstöbert, wirklich nicht, aber man schlägt der Polizei doch nichts ab. Jedenfalls nicht, wenn man aus gutem Hause kommt und mit autoritätsgläubigen Eltern aufgewachsen ist, die ihre Pflicht getan, ihre Steuern gezahlt und kaum einmal einen Strafzettel bekommen haben.
»Ja«, sage ich.
Sie hat markante Züge, dichte Augenbrauen und ein kräftiges Kinn, aber freundliche Augen.
Ich führe sie in den Flur. Öffne die schwere Doppelflügeltür, die schon immer da gewesen ist. Sie war eine Idee meiner Schwiegermutter, könnte ich mir vorstellen. Wenn sie geschlossen ist, was immer der Fall ist, trennt sie den frei zugänglichen Teil des Hauses vom privaten: vom ersten Stock mit seinen Schlafzimmern, vom Arbeitszimmer, von der Kellertür. Bevor wir hier eingezogen sind, habe ich das für altmodisch gehalten, doch ohne dass ich genau weiß, wie es dazu gekommen ist, haben wir diese Gewohnheit beibehalten.
Wenn wir Gäste haben, selbst wenn es sich dabei um unsere eigenen Kinder handelt, schließen wir die Doppelflügeltür. Was dahinter liegt, ist Erling und mir vorbehalten. Aber innerhalb weniger Tage ist alles auf den Kopf gestellt worden, meine Töchter durchschreiten ohne Weiteres die Doppelflügeltür und dringen ins Arbeitszimmer vor. Auch Fredly lasse ich hindurch. Vielleicht ist es aus der Mode gekommen, etwas als privat zu betrachten und es verbergen zu wollen, denke ich, während ich der Polizistin nachschaue, die zur Treppe eilt.
Als ich zurückkomme, steht Gundersen noch im Wohnzimmer und schaut sich um.
»Können wir uns irgendwohin setzen?«, fragt er.
Er verlagert das Gewicht jetzt auf die Fersen, beobachtet. Es hat den Anschein, als ließe er sich Zeit, aber ich sehe, wie sein Blick mit rasender Geschwindigkeit hierhin und dorthin springt und alles registriert.
Wir setzen uns ins Wohnzimmer. Ich nehme das Sofa, er entscheidet sich für den Sessel. Er stützt die Ellbogen auf die Knie, beugt sich vor.
»Nun«, sagt er. »Sie fragen sich vielleicht, warum wir hier sind.«
Ich nicke.
»Wie Sie wissen, ist Ihr Mann ja obduziert worden.«
Ist er das? Die Ärztin mit den Lachfältchen. Die Dinge, die sie gesagt hat, die ich nicht mitbekommen habe. Meine auf den Oberschenkeln liegenden Hände zittern leicht, weshalb ich sie zusammengefaltet in den Schoß lege, sie verstecke. Der Polizist bemerkt wohl mein Zögern, denn er blättert in seinen Papieren, sagt etwas über die Information, die ich im Krankenhaus erhalten habe.
»Na ja, das war ja noch am selben Tag«, sage ich. »An einige Dinge erinnere ich mich nicht mehr richtig.«
»Verständlich.«
In seinem Blick liegt Mitgefühl, aber auch nicht allzu viel, und das gefällt mir. Jetzt sehe ich, dass er ebenfalls freundliche Augen hat.
»Es ist nun so, dass einige Unregelmäßigkeiten entdeckt worden sind, die unserer Meinung nach eine genauere Untersuchung verdienen.«
Er blättert wieder in seinen Papieren.
»In Erlings Krankenakte steht, dass er regelmäßig Tabletten genommen hat. Herzmedikamente und so etwas. Stimmt das?«
»Ja«, antworte ich. »Täglich.«
Gundersen zählt auf, Digoxin, Metoprolol, Simvastatin und so weiter und so fort, die ihm vor einigen Jahren wegen Herzbeschwerden von seiner Ärztin verschrieben worden seien. Ich nicke brav. Die Namen habe ich auf Schachteln und Gläsern in dem Schränkchen im Badezimmer gelesen, erinnere mich jedoch nicht, was wann und mit welcher Absicht verordnet worden war.
»Der Pathologe hat sich darüber gewundert, dass sich keine Spuren davon in seinem Körper fanden«, sagt Gundersen.
Es kommt mir vor, als hörte ich ihn nur bruchstückhaft. Wieder ist da dieses Gefühl, als hätte ich stundenlang ohrenbetäubende Musik gehört, die gerade jemand abgestellt hat.
»Es hat also den Anschein, als hätte er seine Tabletten nicht genommen. Seit Wochen nicht.«
»Das ist seltsam.«
»Hat er vielleicht etwas darüber gesagt, dass er aufgehört hat, sie zu nehmen? Dass er Angst vor Nebenwirkungen habe, lieber Sport treiben wolle, statt Pillen zu schlucken? Sich gesund ernähren oder zum Homöopathen gehen oder etwas Ähnliches?«
Ich kichere. Das Geräusch ist deplatziert, es überrascht ihn ebenso wie mich.
»Sie kennen Erling nicht. Wenn seine Ärztin gesagt hat, er soll etwas tun, dann hat er es getan. Hätte sie ihn aufgefordert, in der nächsten Saison einen Marathon zu laufen, hätte er sofort mit dem Training begonnen. Und für Alternativmedizin hatte er nur Verachtung übrig.«
Gundersen lächelt.
»Solche Leute kenne ich. Umso verwunderlicher. Wissen Sie vielleicht, wo er seine Medikamente aufbewahrt hat?«
»Ja, natürlich. Im Medizinschrank oben im Bad.«
Vor meinem geistigen Auge sehe ich Fredlys Hände in dem Schrank. Und meine eigene Schachtel, .
»Gut«, sagt er, macht aber keine Anstalten, sich zu erheben.
Stattdessen lehnt er sich auf seinen auf die Oberschenkel gestützten Oberarmen vor und schaut mich an.
»Aber wie erklären Sie sich das dann, Evy? Erling befolgt die Anweisungen seiner Ärztin bis ins Detail, die Ärztin hat ihm sowohl Herzmedikamente als auch Cholesterinsenker verschrieben, und trotzdem finden wir keine Spuren davon in seinem Körper.«
»Ich weiß nicht. Ich habe keine Erklärung dafür.«
Ich höre meine Stimme wie ein Echo. Ich bin so schläfrig, so teilnahmslos, obwohl ich gestern keine Tablette genommen habe. Es kommt mir vor, als betrachtete ich uns aus einiger Entfernung. Als ginge mich nichts davon wirklich etwas an. Oder als wäre es ein Traum. Erling ist tot, und jetzt sitzt ein Polizist in unserem Wohnzimmer.
»Gundersen«, ruft die Polizistin aus dem ersten Stock.
»Moment«, sagt er und steht auf.
Die Großvateruhr tickt sich durch zähe Sekunden, bis er wiederkommt. Ich zähle zweihundertneunundsiebzig.
»In dem Schrank im Bad sind keine Tablettenschachteln«, sagt er bei seiner Rückkehr.
»Dort bewahrt er sie auf. Neben dem Spiegel, in dem Hängeschränkchen an der Wand.«
»Darin haben wir nachgesehen. Da sind gewöhnliche Schmerzmittel, zwei Packungen mit Ihrem Namen und ein Glas Lebertrankapseln. Nichts, was Erling gehört.«
Und ich bin immer noch weit weg, als betrachtete ich uns durch das falsche Ende eines Fernrohrs. Ich verspüre ein unangenehmes Kratzen hinter dem Ohr: Habe ich diese Tablettenschachteln nicht gerade noch gesehen, erst vor Kurzem?
Das erste Rezept hat er vor vielleicht drei Jahren bekommen. Er wurde immer kurzatmiger, beklagte sich darüber, und ich sagte: »Geh zum Arzt.« »Ach«, antwortete er, »ist das wirklich nötig?« Es vergingen ein paar Wochen. Ich erzählte Hanne davon, Hanne rief unsere Hausärztin an und vereinbarte einen Termin, dann rief sie Erling an und sagte: »Du hast am Mittwoch einen Termin, würdest du da jetzt bitte hingehen?«
Die Ärztin hörte zu, untersuchte ihn und war beunruhigt. Erling wurde zum Durchchecken ins Krankenhaus geschickt, und als er wieder nach Hause kam, hatte er Rezepte dabei. In der Apotheke gab man ihm zwei Schachteln mit Tablettenblistern und ein Pillenglas. Er legte alles auf den abgenutzten Wohnzimmertisch.
»Die tägliche Dosis«, sagte er, wobei er etwas blass war. »Jetzt bin ich für den Rest meines Lebens auf Medikamente angewiesen.«
Wir betrachteten sie beide, die Schachteln und das Pillenglas. Erling sah zu mir hoch, mit dem schiefen Lächeln, das sich hin und wieder auf sein Gesicht stahl.
»Niemand lebt ewig, Evy.«
Ich blinzelte ein paarmal, empfand eine seltsame Rührung. Dachte: So fängt es an, das Alter. Ich glaube, an dem Tag hatte ich ein Glas Wein zum Mittagessen getrunken, weshalb ich mich fragen muss: Hat er es wirklich genau so ausgedrückt – für den Rest meines Lebens auf Medikamente angewiesen?
Gundersen setzt sich wieder hin. Der Sessel wirkt etwas zu niedrig für ihn, seine langen Beine...