Fraenkel Mit Platon in Palästina
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-446-25209-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Vom Nutzen der Philosophie in einer zerrissenen Welt
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-446-25209-7
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2. Mit Maimonides in Makassar
Der Flug von Montreal nach Makassar ist kein Sonntagsspaziergang. Inklusive Zwischenstops, Sicherheitskontrollen und Warten am Gepäckband ist man sechsunddreißig Stunden unterwegs. Meine Frau und ich diskutieren darüber, ob es sinnvoller ist, in Indonesien über staatliche Gesundheitsversorgung oder über Philosophie zu sprechen. Genau das ist nämlich der Zweck unserer dreiwöchigen Reise, die uns im Mai 2007 nach Makassar führt, der Hauptstadt der indonesischen Provinz Sulawesi. Wir lehren beide an der McGill University in Montreal – meine Frau ist Ärztin, spezialisiert auf Fragen der staatlichen Gesundheitsversorgung, ich bin Philosoph, der sich unter anderem mit muslimischen und jüdischen Denkern beschäftigt. Unsere Seminare an der Alauddin State Islamic University (einer von vierzehn Institutionen, aus denen das Netz der staatlichen islamischen Hochschulen Indonesiens besteht) finden im Rahmen des Indonesia Social Equity Project statt, das vom kanadischen Entwicklungshilfeministerium (CIDA) finanziert und von der McGill University organisiert wird. Niemand bestreitet, dass es sinnvoll ist, Kurse über Medizin und staatliche Gesundheitsversorgung zu halten, zumal in einem Entwicklungsland. Warum entsendet das CIDA aber einen Philosophen und nicht einen zweiten Arzt oder einen Sozialarbeiter, Ingenieur oder Ökonom? Anders gesagt, jemanden, der mit seinen Fachkenntnissen unmittelbar zur Verbesserung der Lebensbedingungen der Indonesier beitragen kann? Die meisten Menschen (nicht nur in Indonesien) wissen nicht, dass die Fragen, mit denen Philosophen sich beschäftigen, konkret existieren. Dass es sinnvoll sein könnte, diese Probleme zu verstehen und nach Lösungen zu suchen, käme den Leuten nicht in den Sinn. Sind sie deswegen weniger glücklich? Viele würden sagen, dass genau das Gegenteil der Fall ist. Tatsächlich kann die Philosophie eine wichtige Rolle in dem größten muslimischen Land der Welt spielen (etwa achtundachtzig Prozent der zweihundertvierzig Millionen Einwohner sind Muslime, das entspricht der Zahl aller Muslime im Nahen Osten). Das moderne Indonesien ist ein gigantisches geistiges und politisches Laboratorium, in dem der Islam versucht, sein Verhältnis nicht nur zur Demokratie zu klären (seit 1998, als der Diktator Suharto nach über dreißig Jahren Amtszeit gestürzt wurde), sondern auch zu religiösem Pluralismus (der schon lange zu Indonesien gehört), zur Moderne und zur nationalen Identität. Ein friedlicher Umgang mit den Spannungen, die dabei unausweichlich sind, verlangt viel kreatives Denken. Und genau hier könnten sich die Instrumente der Philosophie als nützlich erweisen. Rund zwanzig Studenten haben sich zu meinem Seminar angemeldet. Vor dem Gebäude, in dem uns einer der wenigen klimatisierten Räume zur Verfügung gestellt wurde, inmitten des weitläufigen grünen Campus am Stadtrand, stehen ihre Motorräder (hier fährt jeder Motorrad – von jungen Mädchen in Schuluniform bis zu Geschäftsleuten im Anzug). Alle Studenten studieren an den verschiedenen Abteilungen der Fakultät für Islamische Studien: Koranexegese, islamische Geschichte und Bildung, einige auch U?ul al-din, die philosophischen und theologischen Grundlagen von Religion. Die meisten haben Familie und einen Job, oft als Lehrer an lokalen Schulen. Da ich kein Indonesisch spreche, finden die Diskussionen auf Arabisch und Englisch statt. Wir beschäftigen uns mit der Beziehung zwischen Ethik, Politik und Religion – zunächst anhand von Platon und Aristoteles, dann anhand von muslimischen und jüdischen Philosophen des Mittelalters, die die Theorien der Griechen für ihre eigenen Zwecke kreativ anpassten. Die Texte sind alt, die darin erörterten Fragen für die Studenten aber meist sehr aktuell. Und so kommt es, dass sich historische und moderne Argumente in der Debatte immer wieder vermischen. Demokratie ist in Indonesien ein heiß diskutiertes Thema. In einem Vortrag vor Dozenten und Studenten weise ich darauf hin, dass ich, wäre ich indonesischer Bildungsminister, Grundkurse in Philosophie an allen Oberschulen und Universitäten des Landes als Pflichtfach einführen würde. Ich begründe das unter anderem mit Platons berühmter These, dass ein guter Staat nur existieren kann, wenn der Herrscher ein Philosoph ist oder ein Philosoph herrscht. Denn wer nicht weiß, was Gemeinwohl ist, kann es nach Platon auch nicht verwirklichen.1 Wenn er recht hat (wovon ich überzeugt bin), so folgt daraus, dass ein guter demokratischer Staat alle Bürger zu Philosophen machen sollte.2 Meine Zuhörer sind nicht durchweg überzeugt. Ein Student berichtet von einem Freund, der sich nach dem Philosophiestudium recht merkwürdig verhalten habe: »Er lief in zwei verschiedenen Schuhen herum oder gab Tee in die Kaffeemaschine.« (Hamdan Juhannis, ein Fachmann für indonesischen Islam, der uns am Flughafen abholte, erzählte sofort, dass Witze über Philosophen in Indonesien sehr beliebt seien.) »Gutes Argument«, sage ich und erwähne die Stelle in Platons Theaitet, wo Sokrates die Geschichte einer jungen Thrakerin erzählt, die sich über Thales lustig machte, weil er bei der Beobachtung der Sternenbewegung in einen Brunnen fiel.3 »Ich finde es aber gar nicht so schlecht, wenn man sich von großen Fragen ablenken lässt«, füge ich hinzu. Andere reagieren offener auf meinen Vorschlag. Wahyuddin Halim, Dozent an der Fakultät für islamische Theologie und Philosophie, möchte wissen, welches Lehrbuch ich für einen Einführungskurs empfehlen würde. Ich nenne Sari Nusseibeh, den palästinensischen Philosophen und Rektor der al-Quds-Universität in Ost-Jerusalem, an der ich im Jahr zuvor Gastdozent gewesen war. Nusseibeh hat einen Kurs »Kritisches Denken« entwickelt, den alle seine Studenten belegen müssen.4 Ein anderer Student wendet ein, dass die Form von Demokratie, wie sie mir vorschwebt, möglicherweise ein »westliches Konzept« ist, das nicht zu Indonesien passt. Ich widerspreche entschieden. Erstens gründen westliche Demokratien nicht auf philosophischen Überlegungen.5 Wenn Indonesien dies erreichen würde, wäre es jeder westlichen Demokratie haushoch überlegen. Und zweitens gehören philosophische Debatten in vielerlei Hinsicht zur geistigen Tradition des Islam. Für das moderne Indonesien ist der mu?tazilitische Kalam, eine Denkschule, die unter den abbasidischen Kalifen vom achten bis zum elften Jahrhundert blühte, ein interessantes Beispiel (aber keineswegs das einzige). Harun Nasution (gest. 1998), einer der bedeutendsten indonesischen Theologen und Intellektuellen, wollte Islam, Rationalismus und Moderne als Neuauflage des mu?tazilitischen Kalam zusammenbringen.6 Kalam (arab. »Rede, Gespräch«) meint die Tradition, über die Grundprinzipien der Religion zu debattieren, beispielsweise die Existenz und das Wesen Gottes, den Ursprung der Welt und die Frage, ob der menschliche Wille frei oder determiniert ist.7 Charakteristisch für die Mu?taziliten ist, dass sie der Vernunft eine zentrale Bedeutung beimessen. »Die erste Pflicht, die Gott euch aufgegeben hat«, schreibt Abd al-Dschabbar, ein mu?tazilitischer Denker des zehnten Jahrhunderts, »ist die philosophische Spekulation (al-na?ar).«8 Ohne diese philosophische Spekulation ist Gotteserkenntnis nicht möglich. Diese Erkenntnis ist ihrerseits das Fundament aller anderen Erkenntnisse, da alles auf Gott zurückgeht. Vereinfacht könnte man sagen, dass die Mu?taziliten religiöse Lehren nicht allein als Offenbarung akzeptiert haben, da sie nach ihrer Auffassung einer rationalen Prüfung standhielten. Außerdem entwickelten sie eine hohe Diskussionskultur, nicht nur untereinander, sondern auch im Austausch mit Vertretern konkurrierender muslimischer Strömungen und anderer religiöser Traditionen – Juden, Christen und Manichäern.9 Angesichts des pluralistischen Charakters der indonesischen Gesellschaft ist der mu?tazilitische Kalam ein attraktives historisches Modell für aktuelle Diskussionen. »Aber inwiefern können die Mu?taziliten und Harun Nasution als Anwälte von Demokratie gelten?«, wendet Wahyuddin Halim ein. Zwar wurden bestimmte Auffassungen der Mu?taziliten von den abbasidischen Kalifen zur Staatsdoktrin erhoben, und Nasution, der in Suhartos »Neuer Ordnung« Karriere machte, verstand sich vor allem als Modernisierer. Aber manche Mu?taziliten vertraten so entschieden egalitäre Ansichten, dass sie fast schon als Anarchisten durchgehen konnten. Alle Menschen, erklärten sie, könnten auf der Grundlage von göttlichem Recht und unabhängigem Denken gut und schlecht unterscheiden und hätten die Pflicht, alles abzulehnen, wovon sie nicht überzeugt seien – und sei es ein Befehl des Imams, des politischen Führers. Auch sollte der Imam gewählt und das Amt stets mit dem Besten besetzt werden. Bei Verstößen gegen das göttliche Recht musste er abgesetzt werden. Und da in der Praxis korrupte Imame offenbar die Regel und nicht die Ausnahme waren, wollten manche Mu?taziliten überhaupt auf politische Führer verzichten.10 Aber selbst wenn es ursprünglich nicht um Demokratie ging – warum sollte das Instrument des mu?tazilitischen Kalam nicht in den Dienst einer öffentlichen demokratischen Debatte gestellt werden? Einige Studenten fragen, warum die Indonesier überhaupt für Demokratie kämpfen sollen, das sei doch ein westliches Konzept. Wurde die Demokratie denn nicht von Angehörigen der indonesischen Elite eingeführt, die in Europa studiert hatten? Oder in den Kolonialschulen der Niederländer, die...