Gadda | Die grässliche Bescherung in der Via Merulana | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Gadda Die grässliche Bescherung in der Via Merulana


1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8031-4366-2
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

ISBN: 978-3-8031-4366-2
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Mord im Goldpalast: Mit diesem Buch hat sich Carlo Emilio Gadda in die Reihe der großen modernen Romanautoren von Weltrang geschrieben. In der Übersetzung von Toni Kienlechner, die kongenial zu nennen keine Übertreibung ist.

'Fangen Sie mit dem Lesen an einem Tag an, an dem Sie nichts anderes mehr vorhaben', schrieb Michael Schweizer in der 'Kommune'.

Was den Kriminalroman von Carlo Emilio Gadda so knatternd vorantreibt, ist nicht nur die berühmte Frage: Wer war's. Ebenso aufregend wie die Jagd selbst ist der verschlungene Weg zur Auflösung des Schlamassels. Zunächst scheint es nur um einen eher biederen Juwelendiebstahl bei der alten Signora Menegazzi zu gehen. Dann aber geschieht im Goldpalast der Via Merulana 219 ein schrecklicher Mord – in der Wohnung genau gegenüber. Diesmal trifft es die schöne und reiche Signora Liliana.

Hinter der Grimasse der Schläfrigkeit ist Kommissar Ingravallo höchst alarmiert: Das Kuddelmuddel muss auseinandergeklaubt werden. Gadda verschafft dem Leser die köstlichsten Divertimenti, nimmt ihn mit in großbürgerliche Wohnungen, in die umliegenden Straßen und Palazzi, ins Kloster und aufs Land. Zur feinen Gesellschaft ebenso wie zu Galgenvögeln, Schiebern, Hundsfotten und Spinatwachteln.

Ein reiches Gesellschaftsbild Roms zur Zeit Mussolinis, ein intellektuelles und sprachliches Feuerwerk – üppig, barock, ausschweifend.

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2
An jenem Morgen, dem Donnerstag endlich, konnte Ingravallo sich einen kleinen Ausflug nach San Marino gestatten. Er hatte sich den Gaudenzio mitgenommen: dann aber überlegte er sich’s anders, und am Viminale schickte er ihn wieder retour, indem er ihm einige Geschäftchen aufhalste. Es war ein wunderbarer Tag: einer jener so glanzvoll römischen Tage, dass sogar ein Staatsbeamter achten Grades (aber schon mit einem Fuß im siebten), gut, also selbst so einer, etwas Unbeschreibliches in seinem Herzen sich aufkräuseln spürt, etwas, das dem Glück nicht unähnlich ist. Es kam ihm vor, als ob er wirklich Ambrosia einschnaufte, mit der Nase, sich in die Lungen rinnen ließ: goldene Sonne auf dem Travertingestein oder dem Peperin aller Kirchenfassaden, auf dem Gesims einer jeden Säule, wo schon die Fliegen herumschwirrten. Und dann, er hatte bereits ein ganzes Programm im Kopf. In Marino, da gibt’s außer der Ambrosia, in der Weingrotte des Signor Filippo nämlich, einen ungebärdigen Weißen: ein Luderweinchen, ein vierjähriges, in gewissen Fläschchen, das vor fünf Jahren noch das Ministerium Facta elektrisiert hätte, wenn der Facta factorum imstande gewesen wäre, dessen Existenz aufzuspüren. Hatte die gleiche Wirkung wie Kaffee, auf seine molisischen Nerven: und bot ihm im übrigen alle Lüste – mit allen Abstufungen – eines alten Klasseweins dar: die Zeugenschaften und die reichmodulierten Zungen-Gaumen-Kehlkopf-Speiseröhren-Vergewisserungen einer dionysischen Einvernahme. Mit einem oder einigen Becherchen in der Krone, wer weiß! Während der beiden Vortage war er – außer allem übrigen, denn es existiert auf der Welt schließlich nicht nur die Via Merulana –, war er zweimal auf der Direktion der Trambahnlinie Castelli Romani gewesen: er trottete gern selber ein wenig los, so gegen elf, statt sich Geist und Ohren von konfusen und wenig stichhaltigen Berichten irgendeines Subalternen verwirren zu lassen: Gaudenzio und Pompeo waren anderweitig beschäftigt. »Wer was ausrichten will, gehe selbst, wer nichts ausrichten will, schicke andere.« Die fortlaufende Nummer und die Serie des Billetts, das Knipsloch auf dem Datum des 13. und der Einriss an der Haltestelle »Torraccio« hatten auf glückliche Weise gestattet, Tag, Stunde und Trambahnwagen festzustellen, wo das Billett ausgegeben worden war: außerdem, den diensthabenden Trambahnschaffner zu befragen, der, zusammen mit dem Kondukteur, für den Morgen seines zweiten Besuchs auf die Direktion bestellt worden war. Bei den Stationen Due Santi, Torraccio und Frattocchio waren an jenem frühen Sonntagnachmittag haufenweise Leute eingestiegen. Es war ihnen unmöglich, sich an alle zu erinnern: an ein paar wohl, und sie nannten einige der augenfälligsten Fahrgäste: nicht ohne Hin- und Hergerede zwischen Kondukteur und Schaffner und Verwechslungen mit dem Tag zuvor und dem Tag darauf. Der Schaffner, Merlani Alfredo, bestritt, einen jungen Mann im Monteuranzug gesehen zu haben, weder in blauem noch in grauem. »Mit der Mütze in die Stirn gezogen?« Auch nicht. »Mit einem Schal um den Hals? …« – »Einen Schal?« – »Doch … wohl … das ja …« – »Eine Art Schal oder Halstuch aus grüner Wolle?« – »Ja, ja. Grün wie schmutziges Gras.« Er erhitzte sich vor Zustimmung. Der Umstand war ihm aufgefallen, wie er ihm das Billett ausgegeben hatte, dass ihm nämlich der Schal das halbe Gesicht verdeckte, dem Fahrgast. »Er hatte den ganzen Kinnladen eingewickelt«, als ob es wer weiß was für eine Kälte hätte, am 13. März, am Torraccio. Nein, er hatte keine Mütze aufgehabt. Mit unbedecktem Kopf, jawohl: aber er hielt ihn gesenkt, ohne einem ins Gesicht zu schauen: eine Haarmähne, ganz verstrubbelt, und sonst nichts. Er kannte ihn nicht. Nein, vielleicht würde er ihn auch gar nicht wiedererkennen. Das war alles. Es war also elf Uhr. Der Doktor Ingravallo war eben daran, in die Trambahn zu steigen, an der Ecke Via D’Azeglio. Die wenigen Autos, welche die Polizei zur Verfügung hatte, trieben ziellos irgendwo durch die Siebenhügelstadt, waren am Forum oder den Terrassen beschäftigt, am Pincio oder am Gianicolo: vielleicht nur, um gewisse Herrchen herumzukutschieren, die Großwesire, die Oberkürbisse dieses Zeitalters der Verdummung: oder sie hielten ein Schläfchen im Polizeipräsidium am Collegio Romano, genau wie die Strolche von den Marktplätzen, aber stets bereit, eben diese aufzustören, denn man kann nie wissen. Es gab große Staatsvisiten aus dem Irak, Führer des Generalstabs aus Venezuela, in diesen Tagen, ein Kommen und Gehen von Leuten voller Ordenslametta: die rudelweise auf der Mole Beverello ausgeschifft wurden von heiser tutenden Dampfschiffen. Das waren die ersten Löwenbrüller, die ersten Zuckungen im Palast nach anderthalb Jahren Noviziat, die der »Totenschädel in Lackstiefeln und Gehrock« vollführte: das waren bereits die Raubtierblicke, das Großgekotze: die Zeit der steifen Hüte, der taubenfarbigen Gamaschen ging, konnte man sagen, zu Ende: kurzarmig wie eine Kröte, mit den zehn Wurstfingern, die ihm links und rechts über die Hüften baumelten wie zwei Bananenstrünke, wie einem Neger mit Handschuhen. Die herrlichen Zeiten hatten noch keine Gelegenheit gehabt, sich auszutoben, wie sie es bald darauf tun sollten, in all ihrem Glanz. Die Margherita, einer Nymphe Egeria gleich, die abgesunken ist zur verlassenen Dido, ließ immer noch das ›Novecento‹ vom Stapel, den damaligen Alpdruck der Mailänder. Sie oblag den Einweihungen, den Ausstellungen, den Ölbildern und Aquarellen, den Skizzen, wie eben eine freundliche Margherita solchen Gelegenheiten obliegen kann. Er hatte sich auf den Kopf ein Schiffchen gestülpt, fünf Schiffchen. Standen ihm wie angegossen. Die stieren Augen des erblichen Luetikers (abgesehen von der eigenen Lues), die Kinnladen wie die eines analphabetischen Erdarbeiters (bei diesem rachitoiden Akromegalen) füllten schon sämtliche Seiten der ›Italia Illustrata‹: schon begannen, kaum von der heiligen Firmung gesalbt, sämtliche Mariechen Barbise Italiens sich in ihn zu vernarren, begannen schon, kaum vom Altar herabgestiegen, alle Magdas, alle Milenas, alle Filomenas Italiens ihn sich gebärmütterlich einzuverleiben; mit dem Gürtel, mit dem Schleier, myrtenbekränzt, photographiert von Photographen beim Austritt aus dem Portal, träumten sie schon von prunkenden und rasenden Wundertaten des meisterlichen Knüppels. Die Damen, in Maiano oder in Cernobbio, erstickten bereits in venerischem Schluchzen nach dem Starkmacher Italiens. Itekaquanische Journalisten eilten in den Palazzo Chigi, ihn zu interviewen, seine kostbaren Ansichten zu erfragen – gierig, gierig notierten sie sie, eilig, eilig in ein Büchlein, um nicht ein einziges Krümelchen zurückzulassen. Die Ansichten des Kinnladigen überquerten den Ozean, früh um acht waren sie bereits ein Überseekabel, desde Italia, in der prensa der Pioniere, der Wermuthändler. »Die Flotte hat Korfu besetzt! Diesen Mann hat die Vorsehung den Italienern gesandt!« Am Morgen darauf der Gegenhieb: desde la misma Italia. Es pfeift im Dudelsack. Und die Magdalenen: hinein!!! Gefolgschaftskinder fürs Vaterland produziert. Die Autos der Quästur waren stationiert: am Collegio Romano. Also am 17. März um elf war es, und der Doktor Ingravallo stand in der Via D’Azeglio, schon mit einem Fuß auf dem Trittbrett, die rechte Hand am Messinggriff, um sich auf die Tram zu schwingen. Da kommt plötzlich der Porchettini dahergeschnauft: »Doktor Ingravallo! Doktor Ingravallo!« »Was willst du? Was ist denn los?« – »Doktor Ingravallo, hören Sie! Der Oberkommissar schickt mich« – er sprach noch leiser –, »in der Via Merulana ist was Furchtbares passiert … heute Morgen, ganz früh. Um halb elf haben sie angerufen, Sie waren grad erst fort. Der Doktor Fumi hat Sie gesucht. Inzwischen hat er mich schnell nachschauen geschickt, mit zwei Polizisten. Ich hab schon geglaubt, wir würden Sie dort treffen … Dann hat er zu Ihnen nach Hause geschickt.« – »Na, und was?« – »Wissen Sie’s schon?« – »Was soll ich denn wissen? Ich war doch spazieren!« – »Man hat ihr die Gurgel durchgeschnitten, Sie entschuldigen, ich weiß ja, dass Sie weitläufig verwandt sind.« – »Verwandt mit wem?«, sagte der Ingravallo und runzelte die Stirn, als wolle er jedwede Verwandtschaft mit wem auch immer von sich weisen. »Wollte sagen: befreundet.« – »Befreundet, mit wem befreundet, mit wem denn?« Die fünf Fingerspitzen der rechten Hand wie zu einer Tulpe zusammenlegend, schwenkte er sie, die Blüte gleichsam jenes Fingerfragespiels, das bei den Leuten aus Apulien so gebräuchlich ist. »Die Signora hat man gefunden … die Signora Balducci …« – »Die Signora Balducci?« Ingravallo erbleichte und packte Pompeo beim Arm: »Du bist verrückt!« Er presste ihn so stark, dass der Greifer meinte, er sei zwischen die Zahnräder irgendeiner Maschine geraten. »Der Vetter von ihr hat sie gefunden, der Doktor Vallarena … oder Vallassena. Sie haben gleich bei der Polizeistation angerufen. Er ist jetzt dort, in der Via Merulana. Ich hab Anweisungen gegeben. Er hat gesagt, dass Sie ihn angeblich kennen. Er behauptet«, und er zuckte die Achseln, »dass er sie aufsuchen wollte. Um sich zu verabschieden, weil er nach Genua muss. Verabschieden! um diese Tageszeit! sag ich. Er sagt, er hat sie am Boden liegend gefunden, in einem Meer von Blut, Jesusmaria, da, wo wir sie dann auch gefunden haben, auf dem Parkettboden im Esszimmer: quer hingestreckt, den Rock hochgeschlagen, in...


Carlo Emilio Gadda wurde 1893 in Mailand geboren. Er diente als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und studierte danach aus Liebe zur Mathematik Ingenieurwissenschaften. Viele Jahre arbeitete er als Ingenieur, zunächst in Italien, dann in Argentinien, Frankreich, Deutschland und Belgien. Zugleich begann seine schriftstellerische Tätigkeit. In kurzen Prosastücken, die in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, schilderte er die Welt eines vergangenen Mailand. Er lebte in Florenz, später in Rom, immer in bescheidenen Verhältnissen und schrieb. 1973 starb 'der bedeutendste italienische Prosa-Autor des 20. Jahrhunderts' (FAZ) im Alter von neunundsiebzig Jahren. Erst Jahre nach seinem Tod setzte mit der Veröffentlichung von 'Die Wunder Italiens' (1984) der Erfolg Gaddas auch in Deutschland ein.
Toni Kienlechner, 1919 in Murnau geboren, war eine der engagiertesten Vermittlerinnen der italienischen Literatur und Landeskultur. Nach Tätigkeiten im Buchhandel und Verlagswesen sowie der Leitung einer Wochenzeitung in Bozen, arbeitete sie von 1955 bis 1982 als Korrespondentin des Bayerischen Rundfunks. 1961 erschien mit 'Quer pasticciaccio brutto de Via Merulana' ihre erste Übersetzung. Für das Werk, das lange als unübersetzbar galt, wurde sie mit dem Helmut-M.-Braem-Preis ausgezeichnet. Sie übersetzte außerdem Pier Paolo Pasolini, Giorgio Manganelli und viele andere Autoren. 2010 starb Kienlechner in Berlin.



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