E-Book, Deutsch, 768 Seiten
Reihe: Edition Bach-Archiv Leipzig
Glöckner Dokumente zur Geschichte des Thomaskantorats
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-374-04623-2
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Band II: Vom Amtsantritt Johann Sebastian Bachs bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts
E-Book, Deutsch, 768 Seiten
Reihe: Edition Bach-Archiv Leipzig
ISBN: 978-3-374-04623-2
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Bach-Archiv Leipzig hatte das Jubiläum der Thomana im Jahre 2012 zum Anlass genommen, um in einer systematischen Sichtung der Archive und Bibliotheken die ausschlaggebenden Dokumente zur Geschichte des Thomaskantorats zu erschließen und kommentiert zu edieren. Gegliedert nach den einzelnen Thomaskantoren seit der Reformation bis hin zum ausgehenden 18. Jahrhundert, zeichnen die beiden entstandenen Bände die Entwicklung der Thomasschule anhand von Originalquellen nach. Die gesammelten Briefe und Lebensbeschreibungen porträtieren die herausragenden Musikergestalten von Sethus Calvisius bis August Eberhard Müller; historische Noteninventare, Chorlisten, Instrumentenverzeichnisse, Schulgesetze und Erinnerungsberichte zeugen vom einzigartigen musikalischen Anspruch der Institution, und die zahlreichen Aufzeichnungen zur Diskussion um die Ämterbesetzung und die Entwicklung der Thomasschule liefern lebendige Einblicke in die wechselvolle und zugleich kontinuierliche musikalische Erfolgsgeschichte der Thomana.
Im zweiten Band belegen die Dokumente zum Thomaskantorat nach 1750, dass es bis zur Jahrhundertwende dort keine wesentlichen strukturellen Veränderungen gab. Insofern sind sie zum überwiegenden Teil auch für Bachs Amtszeit (1723?1750) relevant.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Geisteswissenschaften Christentum, Christliche Theologie Christliche Kirchen, Konfessionen, Denominationen Protestantismus, evangelische und protestantische Kirchen
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Geschichte der Musik Geschichte der Musik: Barock (ca. 1600-1750)
- Geisteswissenschaften Musikwissenschaft Musikwissenschaft Allgemein Einzelne Komponisten und Musiker
Weitere Infos & Material
Historische Einleitung
Nach dem Tod von Johann Kuhnau konnten die Leipziger Stadtväter kaum ahnen, welche Fehlschläge und Niederlagen, welche endlosen Verhandlungen ihnen bei der Wiederbesetzung des vakanten Kantorats noch bevorstehen würden. Wäre das umgehend eingeleitete Wahlverfahren sogleich erfolgreich gewesen, dann hätte es wohl keine Ära Bach in der Musikgeschichte Leipzigs gegeben.1 Die am 11. August 1722 eilfertig vollzogene Wahl Georg Philipp Telemanns erwies sich als fataler Fehlschlag: Nachdem der einstimmig gewählte Wunschkandidat den Leipziger Rat beinahe über drei Monate hingehalten hatte, sagte er Anfang November 1722 kurzerhand ab. In Hamburg war ihm das Jahresgehalt zwischenzeitlich um 400 Gulden erhöht worden. Die nächsten Niederlagen ließen nicht lange auf sich warten: Als zweiter Wunschkandidat zog Johann Friedrich Fasch im Dezember 1722 seine Bewerbung ebenfalls zurück, da er vom Latein- und Katechismusunterricht nicht freigestellt werden sollte. Die Wahl von Christoph Graupner als dem nächsten Favoriten schien Ende Januar 1723 schon fast besiegelt, als sich herausstellte, dass ihn der hessische Landgraf nicht aus dem Dienst entlassen würde. Spätestens zu Pfingsten, also zum Beginn des neuen Schuljahrs, sollte Bach seinen Kapellmeisterdienst in Köthen quittiert und das neue Amt in Leipzig übernommen haben. In der Gewissheit, dass der Dienstantritt des Thomaskantors nicht abermals durch „höhere Gewalt“ verhindert würde, wurde Bachs Wahl am 22. April 1723 im Ratsplenum endlich vollzogen und ihm das Ergebnis am 5. Mai durch den Regierenden Bürgermeister Gottfried Lange in der Ratsstube offiziell mitgeteilt. Dieser hatte bei der entscheidenden Debatte um Bachs Wahl resümiert: „Wann Bach erwehlet würde, so könnte man Telemann, wegen seiner Conduite [wegen seines Verhaltens], vergeßen.“3 Mit der Übernahme des Thomaskantorats erwarteten Bach neue und ungewohnte Aufgaben. Sein Tagesablauf war vor allem an hohen Kirchenfesten mit außerordentlichen Belastungen verbunden: Der Tag begann mit einer Figuralmusik in der Johanniskirche vor den Toren der Stadt. Anschließend begaben sich die Alumnen zur Nikolaikirche, wo im Frühgottesdienst eine Festmusik vor der Predigt aufzuführen war. Danach hatte Bach den sogenannten (alten) Akademischen Gottesdienst in der Universitätskirche St. Pauli zu bestellen. Einzig dieser traditionelle Gottesdienst an vier Festtagen im Kirchenjahr4 war dem Thomaskantor nicht entzogen worden.5 Er begann zeitversetzt erst um 9 Uhr. Aus organisatorischen Gründen musste die Aufführung der Musik nach der Predigt stattfinden.6 Musiziert wurden lediglich kurze und klein besetzte Figuralstücke. Bach selbst war bei den Aufführungen eher selten zugegen und überließ die Leitung zumeist seinem Generalpräfekten.7 Bereits 13.15 Uhr begann der Vespergottesdienst in der Thomaskirche, wo die Hauptmusik des Frühgottesdienstes wiederholt wurde und auch eine lateinische Kirchenmusik erklang. Damit war Bachs Arbeitstag freilich noch nicht beendet, weil die Musik für den darauffolgenden Feiertag noch geprobt werden musste. Am 2. oder 3. Feiertag zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten konnte außerdem die Bestellung einer „ganzen Brautmesse“ hinzukommen. Gemeint ist hiermit die Aufführung einer Trauungsmusik. Mitunter konnten selbst sonntags noch Begräbnisgänge für den Kantor und die Alumnen anfallen. In manchen Jahren gab es fast an jedem Tag eine Beisetzung auf dem Johanniskirchhof.8 , ohne alles figuriren“ abgesungen werden sollten, „damit die ganze Gemeinde zugleich mit singen könnte“.10 Die Hinwendung zum schlichten Gemeindegesang und eine Abgrenzung von der figuralen Passionsmusik lässt erahnen, dass letztere wohl nicht den ungeteilten Zuspruch fand. Vielleicht erklärt sich in diesem Zusammenhang auch Bachs Klage über eine „wunderliche und der Music wenig ergebene Obrigkeit“.11 Hatten Vertreter jener Obrigkeit etwa Probleme mit der „intrikaten“ Kirchenmusik ihres Thomaskantors? Und außerdem: Mit ihrer Schulpolitik hatte es die „wunderliche“ Obrigkeit inzwischen so weit gebracht, dass auch amusische Schüler in das Thomasalumnat mit aufgenommen wurden, was der Aufführungsqualität der Kirchenmusik nicht dienlich war. Bach konnte sich damit keineswegs abfinden. Freilich wissen wir nicht, ob die veränderte Praxis der Vergabe von Alumnenstellen zu einem dauerhaften Problem wurde. Die Prüfungsberichte der Alumnenanwärter aus der Zeit nach 1730 sind in späteren Jahren kassiert worden. In den Jahren nach 1730 scheint sich diese Tendenz verstärkt zu haben. Aufgeführt wurden vor allem Kantaten und eine Passionsmusik des Gothaer Hofkapellmeisters Gottfried Heinrich Stölzel.13 Dies geschah zur Arbeitsentlastung, aber auch im Interesse der Umsetzung ambitionierter Kompositionsvorhaben wie des sechsteiligen Weihnachts-Oratoriums, das vom 1. Weihnachtsfeiertag 1734 bis Epiphanias 1735 in den beiden Hauptkirchen erklang und in späteren Jahren abermals zu hören war. Wie sich dergleichen Misshelligkeiten zwischen Rektor und Kantor auf Bachs Schaffen im Einzelnen auswirkten, lässt sich nicht sagen. Als vorübergehender Lichtblick erwies sich die Wahl von Johann Matthias Gesner zum Thomasschulrektor im Juni 1730. Damit trat ein Mann an Bachs Seite, der ihm nicht nur kollegial und freundschaftlich verbunden war, sondern auch die Musik am Alumnat zu fördern wusste. Mit Gesners Nachfolger Johann August Ernesti wurde Bach in einen zermürbenden Kompetenzstreit um die Einsetzung eines Präfekten verwickelt. Über den Ausgang des Konfliktes schweigen die Akten; einige wesentliche Dokumente sind leider verlorengegangen. Dem Vorwurf der Pflichtverletzung im Amt begegnete Bach am 23. August 1730 mit einer Gegenoffensive: In einem Positionspapier zur Lage der Kirchenmusik16 forderte er, den städtischen Musikbetrieb radikal zu reformieren und nach dem Vorbild einer Hofkapelle neu auszurichten. was zu dieser Zeit in vergleichbaren Ämtern allerdings kein Ausnahmefall war. Bereits im Frühsommer 1749 trafen die Leipziger Stadtväter Vorkehrungen zu einer Nachfolgeregelung für den inzwischen 64-jährigen Thomaskantor. Geschah dies vielleicht aus Sorge vor einer langdauernden Vakanz, wie sie den Leipziger Rat und die Thomasschule nach Kuhnaus Tod in eine prekäre Situation gebracht hatte? Andererseits erfolgte die (inoffizielle) Denomination Gottlob Harrers auf Intervention des allmächtigen Dresdner Grafen Heinrich von Brühl. Vielleicht wollte sich dieser seines gesundheitlich angeschlagenen Kapellmeisters auf elegante Weise entledigen. Um die äußere Form zu wahren, erfolgte die Kantoratsprobe am 8. Juni 1749 im Gasthaus „Zu den Drei Schwanen“ am Brühl - mithin dort, wo seit März 1743 das „Große Concert“ abgehalten wurde. Eine Aufführung in einer der beiden Hauptkirchen kam nicht in Frage, da dies den Amtsbereich des noch amtierenden Thomaskantors Bach tangiert hätte. Einige Stadtväter blieben der unüblichen Darbietung fern – vielleicht, weil sie das taktlose Vorgehen nicht billigten. Bachs Nachfolger Gottlob Harrer war von Hause aus kein Schulpädagoge. Als Kapellmeister stand er in der Tradition der höfischen katholischen Kirchenmusik. Wohl um die Kontinuität zu wahren, erwarb der Leipziger Rat die Originalstimmen von Bachs sogenanntem Choralkantatenjahrgang aus dem Besitz seiner Witwe Anna Magdalena. Damit waren die Voraussetzungen gegeben, dass jene Kantaten auch weiterhin in Leipzig aufgeführt werden konnten. Harrer starb nach nur fünfjähriger Amtszeit. Für die Kirchenmusik nach seinem Ableben war der Generalpräfekt Karl Friedrich Barth zuständig. Vom Trinitatisfest 1755 bis zum 1. Advent 1755 kam es unter seiner Leitung abermals zur Aufführung von mehreren Choralkantaten Bachs.18 Harrer selbst soll einen kompletten Jahrgang an Kirchenkantaten geschaffen haben. Dieser ist verschollen. Bachs Desinteresse an den lästigen Schulstunden war den Stadtvätern wohl noch in lebhafter Erinnerung. Am 18. Oktober unterzeichnete Doles seinen Anstellungsrevers, der ihn – abweichend zu demjenigen Bachs – von außermusikalischen Lehrverpflichtungen nicht befreite. Sie lassen sich also nicht mehr auf Gebrauchsspuren (wie Aufführungsvermerke und Kopisteneinträge) überprüfen. Obgleich der Siebenjährige Krieg (1756-1763) auch das Leipziger Musikleben überschattet hatte, blieb das Thomaskantorat von schwerwiegenden Beeinträchtigungen verschont. Lediglich der zweite Figuralchor konnte wegen des Mangels an Instrumentalisten vorübergehend keine Kirchenstücke aufführen.22 Anlässlich des Friedensschlusses wurde am 21. März 1763 eine großangelegte Jubelfeier begangen. Doles hatte eigens dafür eine Festkantate komponiert und den Text in einer Auflage von 1200 Exemplaren drucken lassen.23 Zehn Jahre später, am 21. Februar 1773, erklang bei der Einweihung der neu errichteten Thomaskirchenorgel sein 111. Psalm. Am Tag zuvor hatten einige Thomasalumnen den Text in den Häusern der Stadt verkauft. Der Erlös von immerhin 58 Gulden kam der neu errichteten Armenanstalt zugute.24 Die letzten Amtsjahre des Thomaskantors waren von häufigen Kontroversen mit seinen Vorgesetzten bei Schule, Stadt und Kirche überschattet. Bereits im Januar 1777 behauptete der...